Deutschlands Viertklässler haben vergleichbare Kompetenzen in Mathematik und in den Naturwissenschaften wie ihre Altersgenossen vor vier Jahren. International liegen sie damit im Durchschnitt. Aber was bedeutet das?
Foto: KI-generiert.
DIESEN ARTIKEL MÜSSTE ICH eigentlich zweimal schreiben. Der erste, derjenige, der Bund und Ländern vermutlich besser gefällt, würde darauf hinweisen, dass Deutschlands Viertklässler trotz Corona-Pandemie heute nicht schlechter Mathe und Naturwissenschaften können als ihre Gleichaltrigen vor vier Jahren. Das ist das schönste Ergebnis der heute veröffentlichten neuen "Trends in International Mathematics and Science Study", kurz "TIMSS 2023", dem internationalen Grundschulvergleich unter diesmal 58 Teilnehmerstaaten. Das ist ganz ohne Relativierungen eine großartige Nachricht – erst recht vor dem Hintergrund, dass bei Bekanntwerden der vorherigen TIMSS-Runde vor vier Jahren Deutschland kurz vorm nächsten Lockdown und erneuten Schulschließungen stand.
"Diese gute Nachricht war – auch mit Blick auf andere Vergleichsstudien – nicht zwingend zu erwarten", sagt die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig, die die SPD-Bildungsminister in den Ländern koordiniert. "Die Studie legt zudem nahe, dass unsere Entscheidungen im Pandemiejahr 2020 und danach offensichtlich Früchte getragen haben: der Einsatz für eine möglichst schnelle Wiederöffnung der Schulen und die Maßnahmen des Aktionsprogramms 'Aufholen nach Corona'." >>>
Kaum Veränderung in Deutschland, Asien an der internationalen Spitze
Kaum Veränderung: Die mittleren mathematischen Kompetenzen der deutschen Viertklässler in TIMSS 2023 liegen bei 524 Punkten. Das ist statistisch signifikant mehr als der internationale Mittelwert (503 Punkte), was bedeutet, dass der Unterschied nicht ein messtechnisches Zufallsprodukt ist. Zugleich entspricht das deutsche Ergebnis exakt dem Durchschnitt der 22 EU-Teilnehmerstaaten und liegt nur einen Punkt unter dem OECD-Schnitt (525), was wiederum statistisch nicht signifikant ist.
Im Vergleich zu 2019 gab es einen statistisch ebenso wenig bedeutsamen Anstieg um drei Punkte, gegenüber 2007 einen statistisch vernachlässigbaren Rückgang um einen Punkt.
Die 515 Punkte der deutschen Viertklässler in den Naturwissenschaften sind drei weniger als 2019, statistisch ebenfalls ohne Bedeutung. Der 13-Punkte-Rückgang gegenüber 2007 hingegen ist es sehr wohl, so dass man sagen kann: Die Verschlechterung fand vorher statt, konnte aber seitdem nicht umgekehrt werden. Auch hier gilt: Die deutschen Grundschüler stehen signifikant besser da als der internationale Mittelwert (494 Punkte), vergleichbar mit den EU-Staaten (518
Punkte) und – ebenfalls statistisch signifikant – schlechter als der OECD-Schnitt.
58 Staaten sowie fünf sogenannte Benchmark-Teilnehmer haben bei TIMSS 2023 mitgemacht, davon waren 22 EU-Länder und 29 OECD-Mitglieder. In Deutschland befanden sich 4.442 Schüler von bundesweit 230 Schulen in der Stichprobe, gut 240 ihrer Lehrkräfte beteiligten sich an der Befragung.
Leiter des deutschen TIMSS-Forscherkonsortiums war erneut der empirische Bildungsforscher Knut Schwippert von der Universität Hamburg.
Im internationalen Vergleich ganz vorn bei der Gesamtskala Mathematik: Singapur (615 Punkte), Taiwan, Südkorea, Japan und Macau. Erst dann folgt mit Litauen das erste nichtasiatische Land, bereits 54 Punkte hinter Singapur, aber immer noch 37 Punkte vor Deutschland.
In den Naturwissenschaften: Singapur (607 Punkte), Südkorea, Taiwan und auf Platz vier die Türkei (570), wo hier Fünftklässler getestet wurden, gefolgt von England (556). Die Türkei und England sind übrigens auch in Mathe vorn dabei.
>>> Fest steht jedenfalls: Dass die Grundschüler in Deutschland heute dieselben TIMSS-Kompetenzwerte erzielen wie damals (siehe Kasten), ist eine Leistung des unter enormen Druck stehenden Bildungssystems und, expliziter, seiner Lehrkräfte, die hohe Anerkennung rechtfertigt.
Der zweite Artikel wäre ein einziges "Das reicht nicht". Wieder nur Mittelmaß, würde er betonen. Nun schon seit 2007, Deutschlands erster TIMSS-Teilnahme, in Mathe keinerlei Dynamik nach oben, in den Naturwissenschaften wie schon 2019 sogar eine signifikante Verschlechterung gegenüber 2007. Und weiter keine Verringerung der massiven Kompetenzunterschiede abhängig von der Herkunft. Während die Welt angesichts von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz, den spürbar werdenden Folgen von Klimawandel und geopolitischen Umwälzungen heute eine ganz andere ist als vor 17 Jahren. Während alle Hinweise auf demographische oder sonstige Veränderungen hierzulande wenig nutzen, wenn wir in dieser Welt unseren Wohlstand und den sozialen Zusammenhalt sichern wollen.
Natürlich kommen auch heute wieder die entsprechenden Mahnungen von "Wir brauchen mehr als bloßes Mittelmaß" (Tobias Ernst von der "Stiftung Kinder forschen") über "Die signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Kindern ohne und mit Migrationsgeschichte können wir uns als Einwanderungsland nicht leisten" (Bundesbildungsminister Cem Özdemir) bis hin zur Forderung nach einer "echten Bildungswende" für Basiskompetenzen und MINT-Bildung (Franziska Krumwiede-Steiner von den Grünen). Was wie ein "Copy-Paste" der Reaktionen von vor vier Jahren klingt, mit ein paar ausgetauschten Namen dazu. Und dann geht man wieder zur Tagesordnung über?
Suchen Sie sich gern aus, welchen Artikel Sie schreiben würden. Ich konzentriere mich derweil auf sieben aus meiner Sicht besonders aufschlussreiche Ergebnisse.
Erkenntnis Nummer 1: Die Gruppe der Leistungsstarken wächst, die der Leistungsschwachen auch. Konkret: 8,3 Prozent der deutschen Viertklässler beherrschten 2023 Mathematik auf der höchsten Kompetenzstufe V, immerhin 2,3 Prozentpunkte mehr als 2019 und sogar 2,7 Prozent mehr als 2007. Statistisch bedeutsam, aber weiter auf "sehr niedrigem Niveau", wie die TIMSS-Forscher betonen. In den Naturwissenschaften erreichten 8,7 Prozent die Kompetenzstufe V – 1,8 Prozentpunkte mehr als 2019, aber immer noch 1,3 Prozentpunkte weniger als 2007. Allerdings ist keine dieser Veränderungen signifikant. Der Anteil der Schüler mit nur rudimentären Mathekompetenzen (Kompetenzstufen I und II) blieb 2023 mit 25,1 Prozent gegenüber 25,3 Prozent 2019 nahezu unverändert, was angesichts der erreichten Höhe aber keine Beruhigung darstellt, zumal er weiter signifikant über 2007 liegt (21,6 Prozent).
In den Naturwissenschaften ist der ohnehin schon extrem hohe Anteil Leistungsschwacher weiter gestiegen: von 23,7 Prozent 2007 über 27,7 Prozent 2019 auf jetzt 29,7 Prozent. Statistisch bedeutsam und bildungspolitisch katastrophal. Wer sich damit beruhigen möchte, dass im internationalen Schnitt die untersten beiden Kompetenzstufen sogar 38,7 Prozent umfassen, muss schon Berufsoptimist sein, zumal der OECD-Schnitt mit 25,4 Prozent deutlich günstiger ist als die deutschen Ergebnisse.
Erkenntnis Nummer 2: Der Rückgang der naturwissenschaftlichen Kompetenzen ist nicht durch die veränderte Schülerschaft zu erklären. Sagen die Forscher, weil sie es statistisch überprüft haben. Und nehmen damit all jenen die Erklärung weg, die an dieser Stelle sonst sagen würden: Die Einwanderer! Nein, die Verschlechterung durch die Bank der Schülerschaft hat andere Gründe. Übrigens kommen einige Länder mit klassisch hohen Einwanderungsraten deutlich besser weg bei TIMSS: England zum Beispiel, das in beiden Domänen Mathematik und Naturwissenschaften Anschluss zur Spitzengruppe hat, in Mathe auch die Niederlande, in den Naturwissenschaften Australien. Zur Wahrheit gehört jedoch, dass etwa in England die Bildungsungerechtigkeit zuletzt deutlich gestiegen ist.
Erkenntnis Nummer 3: Deutschlands Schulen werden nicht bildungsgerechter. "Trotz jahrzehntelanger Bemühungen, durch ganz unterschiedliche Konzepte Leistungsrückstände von Kindern mit Migrationshintergrund abzubauen, zeigt sich kein substanzieller bzw. nachhaltiger Effekt", schreiben die Forscher. "Die Herausforderung, diese Disparitäten abzubauen, werde vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Generationswechsels und des damit verbundenen Fachkräftemangel noch virulenter. Ähnlich die Problembeschreibung für die Bildungsunterschiede abhängig von der sozialen Herkunft insgesamt: Es gelinge seit 2007 nicht, die Leistungsdiskrepanzen in Mathe und den Naturwissenschaften nachhaltig zu verringern. Und: Die Kompetenzwerte der fünf Prozent leistungsschwächsten Schüler sind nochmal deutlich niedriger als in vorigen TIMSS-Durchgängen. Es zeige sich, "dass es den Lehrkräften in Deutschland nicht gelungen ist, den sich durch die wandelnde Zusammensetzung der Schülerschaft ergebenden Herausforderungen erfolgreich zu begegnen." Eine Bestandsaufnahme, die man nur schonungslos nennen kann.
Allerdings: Die sozialen Disparitäten, gemessen am Bücherbesitz der Familien (mehr oder weniger als 100) wirken sich in vielen Staaten stark aus, wobei Deutschland in der Mathematik leicht über dem EU- und OECD-Schnitt liegt, in den Naturwissenschaften sehr deutlich (hier aber unter anderem noch von Schweden getoppt wird).
Erkenntnis Nummer 4: Die Schulen nutzen die Potenziale der Digitalisierung nicht ausreichend für den Unterricht. Es habe den gerade nach der Pandemie erwarteten "Digitalisierungsschub" in den deutschen Schulen tatsächlich gegeben: in der Verfügbarkeit digitaler Geräte, Aber: "Deren Nutzung im Fachunterricht wird jedoch – und dies wird vor dem Hintergrund des internationalen Vergleichs deutlich – in Deutschland zögerlich und auf einem eher niedrigen Niveau umgesetzt." Klarer Auftrag für das Verhandlungsfinale beim Digitalpakt 2.0 und seinen beabsichtigten drei Säulen digitale Ausstattung, Lehrkräftefortbildung und anwendungsorientierte Forschung in der Lehrkräftebildung. Wie die Situation in der Fortbildung aktuell ist? Das kommt jetzt.
Erkenntnis Nummer 5: Deutsche Lehrkräfte besuchen im internationalen Vergleich eher selten Fortbildungen. Das ist nicht neu. Laut TIMSS 2023 wurden zum Beispiel 29,8 Prozent der Schüler von Lehrkräften unterrichtet, die in den vergangenen zwei Jahren Fortbildungen zu Mathematischen Inhalten besucht hatten. Der internationale Mittelwert: 44,8 Prozent. Noch krasser der Gap bei den naturwissenschaftlichen Inhalten: 13,7 Prozent der Schüler in Deutschland versus 34,3 Prozent international.
Indes: ändert sich die Situation wenigstens, wie es die Bildungspolitik seit langem ankündigt? Die Koordinatorin der CDU-Bildungsminister, Schleswig-Holsteins Ressortchefin Karin Prien, sagte jedenfalls heute: "Unsere Maßnahmen wie die gezielte Förderung von MINT-Projekten und verbesserte Fortbildungsangebote für Lehrkräfte zahlen sich jetzt aus." Verbessert: mag sein. Aber auf ganz Deutschland betrachtet nicht häufiger genutzt, im Gegenteil: Im Vergleich zu 2019 verzeichnet TIMSS 2023 sogar noch einen Rückgang. "Dabei wurden im Vergleich zu Mathematik für den Sachunterricht sowohl niedrigere Teilnahmequoten als auch ein stärkerer Rückgang festgestellt – trotz teilweise deutlicher Bedarfe auf Seiten der Lehrkräfte." Lediglich im Bereich "Integration von Informationstechnologien" seien gleichbleibende oder sogar höhere Teilnahmequoten zu verzeichnen. Immerhin. Aber offenbar, siehe Erkenntnis Nummer 4, reicht auch das noch nicht.
Erkenntnis Nummer 6: Kinder aus ärmeren Familien erhalten relativ gesehen häufiger Nachhilfe. Was auf den ersten Blick wundert und auf den zweiten freut, denn man hätte auch erwarten können, dass die Kosten von Nachhilfe eine weitere soziale Kluft schaffen. Funktionieren hier Hilfen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket oder Ganztagsangebote? Gegen letztere Annahme spricht, dass laut TIMSS die Erziehungsberechtigten die Lehrkräfte "nicht immer über den Nachhilfeunterricht ihrer Kinder informieren". Aus Scham? Jedenfalls, so die Forscher, blieben in solchen Fällen mögliche Synergien zwischen Nachhilfe und Regelunterricht ungenutzt.
Erkenntnis Nummer 7 ist eine Warnung: Der Blick der Viertklässler auf das Fach Mathematik hat sich merklich verschlechtert. Nur noch 58 Prozent berichteten 2023 eine positive Einstellung, 6,9 Prozentpunkte weniger als 2019. Und es geht beschleunigt bergab. Im viel längeren Zeitraum zwischen 2019 und 2007 betrug das Minus nur fünf Prozentpunkte. Die entsprechenden Werte für die Naturwissenschaften: aktuell 70,6 Prozent, 2019: 74,1 Prozent, 2007: 80,7 Prozent. Ja, das sind alles noch hohe Werte. Aber wie die Forscher kommentieren: "Angesichts der Bedeutung von motivationalen Orientierungen für die kurz- und langfristige Kompetenzentwicklung, aber auch für spätere Kurswahlen und Berufsentscheidungen ist die leichte aber stetige Abnahme der motivationalen Orientierungen im Mathematik- und naturwissenschaftsbezogenen Sachunterricht problematisch." Die Frage, wie sich Kinder in Mathe und in den Naturwissenschaften zum Lernen motivieren lassen, könnte ausschlaggebend werden für Deutschlands künftige TIMSS-Ergebnisse – und für den Kampf für mehr Bildungsgerechtigkeit.
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Manuel E. (Donnerstag, 05 Dezember 2024 13:47)
Herzlichen Dank, dass Sie wie immer die verschiedenen Blickwinkel einnehmen und gerade auch die Kompetenzstufen betonen, denn die sind hier m.E. noch wichtiger als die Durchschnittswerte.
Eine oberflächlich im alltäglichen Sprachgebrauch nicht signifikante, aber meiner Meinung nach sehr bedeutsame Spitzfindigkeit hätte ich noch:
Statistische Signifikanz beschreiben Sie als Zeichen dafür, dass ein Ergebnis (Unterschied zwischen zwei Mittelwerten) kein messtechnisches Zufallprodukt sei. Da kann ich unterm Strich gut mitgehen, auch wenn die Statistik dahinter ja komplexer ist und die Aussage somit technisch nicht richtig. Wichtig finde ich aber die Unterscheidung zur Bedeutsamkeit: Das ist im Jargon der Begriff für die Höhe der Effektstärke (am häufigsten dargestellt in der Einheit Cohens oder Hedges g) oder - umformuliert für Bildungsvergleichsstudien - dafür, wie weit ein Wert/eine Gruppe in der Kompetenz voraus oder hinterher ist: drei Monate, ein Jahr, nur ein paar Tage,...
Denn: Wenn die Gruppen nur groß genug sind, wird jeder noch so kleine Mittelwertsunterschied statistisch signifikant auf einem sehr hohen, sicheren Signifikanzniveau. Wenn eine Signifikanz festgestellt ist (und nur dann!), muss es darum im nächsten Schritt darum gehen, ob der Unterschied bedeutsam ist. Wenn Kinder im OECD-Schnitt (hypothetisch!) ein Dreivierteljahr früher eine bestimmte Kompetenzstufe erreichen als der deutsche Durchschnitt das tut, ist das sehr bedeutsam. Wenn es aber zwei Wochen sind: geschenkt.