Überholen, ohne einzuholen: Deutschland schiebt sich mit stabilen Ergebnissen beim zweiten Erwachsenen-PISA über den internationalen Durchschnitt. Spitze ist die Bundesrepublik allerdings beim Zusammenhang von sozialer Herkunft und Basiskompetenzen. Nebenbei räumt die PIAAC-Studie mit einem Klischee auf: dass die Leute von Generation zu Generation weniger können. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Interview mit Studienleiterin Beatrice Rammstedt.
Frau Rammstedt, das "Programme for the International Assessment of Adult Competencies", kurz PIAAC, ist die internationale PISA-Studie für Erwachsene, die nach 2012 jetzt zum zweiten Mal erhoben wurde. Mit für Deutschland ähnlichen deprimierenden Ergebnissen wie der Schülervergleich?
Ich hatte mit Blick auf die letzten PISA-Ergebnisse und andere große Kompetenzstudien meine diesbezüglichen Befürchtungen, aber ich finde: PIAAC bietet für Deutschland vergleichsweise gute Nachrichten. Die erwachsene Bevölkerung kann heute im Mittel genauso gut lesen und alltagsmathematische Aufgaben bearbeiten wie vor zehn Jahren. Während andere Länder sich bei den Kompetenzen zum Teil deutlich verschlechtert haben. Das drückte den internationalen Mittelwert. Genau wie die Tatsache, dass heute mehr und in ihrer Zusammensetzung diversere Länder an PIAAC teilnehmen als vor zehn Jahren. Mit dem Ergebnis, dass die erwachsene Bevölkerung in Deutschland jetzt über dem Schnitt der OECD-Länder liegt.
"Überholen, ohne aufzuholen" nennt man das wohl.
Vor zehn Jahren haben 24 Länder bei PIAAC mitgemacht, diesmal waren es 31. Allein dadurch ist die internationale Vergleichsgruppe heterogener. Aber es gibt eben auch Länder wie die Vereinigten Staaten, Österreich oder Südkorea, wo die Kompetenzen der Gesamtbevölkerung nach unten gegangen sind.
Beatrice Rammstedt ist Mitglied im Konsortium der OECD-Studie "Programme for the International Assessment of Adult Competencies" (PIAAC) und leitet die Studie für Deutschland. An der Universität Mannheim hat Rammstedt eine Professur für Psychologische Diagnostik, Umfragedesign und Methodik, sie leitet die Abteilung Survey Design and Methodology bei GESIS, dem Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, und ist seit 2014 GESIS-Vizepräsidentin. Foto: GESIS.
Südkorea? Ausgerechnet das Land, beim internationalen TIMSS-Grundschulvergleich gerade mit an der Spitze lag?
Ja, erstaunlich. Oder nehmen Sie Österreich, das in allen drei Testbereichen deutlich hinter Deutschland liegt.
Was genau testen Sie eigentlich ab?
Lesekompetenz bedeutet: Wie gut kann ich den Sinn schriftlicher Texte verstehen, bewerten, reflektieren und nutzen, um meine persönlichen Ziele im Leben zu erreichen und am Leben der Gesellschaft teilzunehmen? Unter adaptivem Problemlösen wiederum verstehen wir, seine Ziele in einer dynamischen Situation, für die der Lösungsweg nicht unmittelbar ersichtlich ist, zu erreichen. Ein Beispiel wäre: Kann ich, wenn ich den Arbeitsplan in einem Café erstelle und eine Kellnerin meldet sich krank, schnell umdisponieren und die übrigen Kräfte so einsetzen, dass keiner über seine maximale Arbeitsbelastung kommt?
Und was ist alltagsmathematische Kompetenz?
Dass ich auf mathematische Inhalte, Informationen und Ideen, die mir im Alltag ständig begegnen, zugreifen kann. Dass ich sie nutze, logisch und kritisch durchdenke, um so mit den vielfältigen Anforderungen im Erwachsenenleben umzugehen. Konkrete Beispiele wären: Verstehe ich die Wahrscheinlichkeitsangaben zu Nebenwirkungen, wie sie auf dem Beipackzettel von Medikamenten angegeben sind? Kann ich die Preis- und Grammangaben von zwei Nudelpackungen vergleichen und erschließen, welches Angebot das günstigere ist? Das sind relativ komplexe, aber alltägliche mathematische Fragen. Personen mit niedrigen Kompetenzen sind damit in der Regel überfordert.
Auf welchen Anteil der Bevölkerung trifft das zu?
In jedem der drei Kompetenzbereiche haben etwa ein Fünftel der Erwachsenen in Deutschland nur geringe grundlegende Kompetenzen. Das heißt sie befinden sich, ausgedrückt in fünf Kompetenzstufen, auf der niedrigsten Stufe oder darunter. In einigen Ländern ist dieser Anteil niedriger, in der Mehrzahl der PIAAC-Teilnahmestaaten aber teilweise deutlich höher.
Lassen Sie uns erstmal bei den guten Nachrichten bleiben. PIAAC räumt erneut und ziemlich deutlich mit dem Vorurteil auf, die junge Generation könne schlechter lesen, rechnen oder Probleme lösen als die ältere. Von wegen: Die Jugend wird immer dümmer.
Das gilt in Deutschland, aber auch international. Jüngere Menschen haben höhere Kompetenzen als ältere. Erfreulicherweise sehen wir aber in Deutschland bei der älteren Generation einen geringeren Kompetenzverlust als im internationalen Schnitt. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels macht das Hoffnung, dass die 55- bis 65-Jährigen bei uns bis zum Renteneintritt geistig fit sind.
Dafür kann es aber doch zwei Erklärungen geben. Entweder erhalten die Älteren in Deutschland ihr einmal erworbenes Wissen besser als anderswo. Oder die Bildungssysteme anderer Länder haben sich in den vergangenen Jahrzehnten dynamischer entwickelt als bei uns. Weshalb dort der Kompetenzabstand zwischen den Jungen und Älteren größer ist.
Wir können das nicht klar differenzieren. Studien zeigen, dass Menschen, wenn sie älter werden, Kompetenzen einbüßen, und das nicht erst im hohen Alter. Aber natürlich wirkt auch die Bildungsexpansion, das heißt: Jüngere Altersgruppen werden in der Breite besser ausgebildet als ältere. Und hier unterscheiden sich Länder im Laufe der letzten Jahrzehnte. Bereits im letzten Zyklus von PIAAC zeigte sich zum Beispiel, dass in Südkorea sehr deutliche Kompetenzdifferenzen zwischen Altersgruppen gefunden wurden: möglicherweise Effekte der Bildungsexpansion. Für Deutschland war und ist diese Spanne nicht so groß wie in anderen Ländern. Das kann man auch so interpretieren, dass wir in Deutschland bereits auf gutem Niveau gestartet sind.
"Wenn beide Eltern nur ein niedriges Bildungsniveau,
also maximal einen Realschulabschluss haben, haben deren Kinder mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nur sehr niedrige Grundkompetenzen."
Weniger schmeichelhaft ist, dass die Bundesrepublik an anderer Stelle heraussticht. In keinem anderen Teilnehmerland, zeigt PIAAC, gibt es einen stärkeren negativen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den erworbenen Grundkompetenzen.
Und der Zusammenhang hat sich im Vergleich zu vor zehn Jahren noch einmal verstärkt. Wir schauen dabei auf die Eltern der Befragten. Wenn beide nur ein niedriges Bildungsniveau, also maximal einen Realschulabschluss haben, haben deren Kinder mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nur sehr niedrige Grundkompetenzen.
Wie erklärt sich die weitere Verschlechterung?
Die Bevölkerung in Deutschland ist heute eine andere als vor zehn Jahren. Vergleichen wir nur die Gruppe der in Deutschland Geborenen, finden wir keine Veränderung.
Bei den Eingewanderten schon?
In allen PIAAC-Ländern erzielen Menschen, die aus dem Ausland eingewandert sind, im Durchschnitt geringere Leistungen in den Tests. Das ist zunächst nichts Besonderes. In Deutschland ist dieser Effekt aber besonders stark. Und er hat sich in Bezug auf die Lesekompetenz in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.
Woran liegt das?
Weniger am sozialen Status, sondern an der Sprache. Wir hatten in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland besonders viele neue Einwanderer, von denen über 90 Prozent eine andere Erstsprache als Deutsch haben. Wenn sie erst kurz im Land sind und gerade anfangen, die Sprache zu lernen, ist es wenig überraschend, dass sie bei einem Kompetenztest in der Landessprache vergleichsweise schlechte Werte aufweisen.
Was ein vorübergehender Effekt wäre. Welche Rolle spielt, dass viele Einwanderer aus Ländern mit wenig formaler Schulbildung gekommen sind?
Natürlich spielt das eine Rolle. Wir sehen deutliche Unterschiede zwischen Personen, die in der Kindheit zugewandert sind und das deutsche Schulsystem besucht haben, und solchen, die erst als Erwachsene zugewandert sind. Letztere verfügen im Schnitt über deutlich geringere Kompetenzen, ein Befund der besonders auffällig ist in der Lesekompetenz.
"So wird die Regel durchbrochen, dass Akademiker ihre Kinder häufiger – unabhängig von der Empfehlung – aufs Gymnasium schicken als Nicht-Akademiker."
Hinzu kommt die Bildungsungleichheit, die wir im eigenen Land produzieren. Spiegelbildlich zu den sehr niedrigen Lese- und Mathekenntnissen bei Menschen mit maximal einem Hauptschulabschluss fällt Deutschland durch sehr gute Ergebnisse bei den Erwachsenen mit Hochschulabschluss auf. Verursacht unser stark gegliedertes Bildungssystem ein Übermaß an Kompetenzunterschieden?
Die dahinterliegende Frage ist die nach der sozialen Selektivität. Warum landen die einen am Gymnasium und die anderen an den übrigen Schulformen? Es gibt Studien, die zeigen, dass sich die sozialen Herkunftseffekte verringern, wenn die Grundschulempfehlung durch die Schule verpflichtend ist, die Eltern also kein Wahlrecht haben. So wird die Regel durchbrochen, dass Akademiker ihre Kinder häufiger – unabhängig von der Empfehlung – aufs Gymnasium schicken als Nicht-Akademiker.
Männer sind derweil immer noch besser in Mathe und Frauen beim Lesen. Ändert sich das irgendwann einmal?
Tatsächlich hatten Männer vor zehn Jahren über alle Altersgruppen hinweg auch beim Lesen noch etwas höhere Kompetenzen als die rauen, das hat sich gedreht. Weil die Frauen zugelegt haben und die Männer verloren. Bei der Alltagsmathematik haben die Frauen sich ebenfalls stärker verbessert als die Männer, deren Vorsprung hat sich verringert. All das sind aber nur Tendenzen. Insgesamt gesehen sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei uns und in den meisten anderen Ländern ohnehin gering.
Was würden Sie angesichts der PIAAC-Ergebnisse der Politik empfehlen, Frau Rammstedt?
Als Wissenschaftlerin sehe ich meine Rolle nicht darin, konkrete Ableitungen zu fordern. Was aber sicher hilft: wenn wir den Anteil der Menschen, die maximal einen Hauptschulabschluss erwerben und ohne Berufsausbildung bleiben, weiter absenken oder die Kompetenzvermittlung insbesondere hier verbessern könnten. Denn das sind die Menschen, die in der Regel so schlecht lesen, rechnen und Probleme lösen können, dass sie massive Schwierigkeiten in Beruf und Alltag haben. Gleichzeitig müssen wir alles tun, damit die Menschen, die nach Deutschland zuwandern, so schnell wie möglich die deutsche Sprache lernen. Denn das ist der Schlüssel zu allen anderen Grundkompetenzen und Voraussetzung, damit sie nicht nur einen Beruf meistern, sondern auch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
Was können wir von anderen Einwanderungsländern lernen? Die Niederlande zum Beispiel oder Schweden erzielen bei PIAAC durch die Bank deutlich höhere Kompetenzwerte als Deutschland.
Ich weiß nicht, ob wir da viel lernen können. In beiden Ländern ist das Englische viel verbreiteter, das heißt: Man kann dort als neu Zugewanderte besser im Alltag klarkommen und interagieren als bei uns. Manchmal muss man in der Interpretation der Daten allerdings auch zweimal hinschauen. In Österreich zum Beispiel ist der Kompetenzabstand zwischen den in Österreich und im Ausland Geborenen deutlich geringer als bei uns. Gelingt die Integration dort besser? Nein. Die Zugewanderten schneiden genauso ab wie bei uns. Aber die Einheimischen können weniger.
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R. Beltzig (Dienstag, 10 Dezember 2024 13:58)
"Überholen ohne einzuholen" war eine Losung zu Zeiten von
Walter Ulbricht. die aber ganz anders gemeint war.
Heike Solga (Dienstag, 10 Dezember 2024 14:08)
Sehr schönes Interview und vielen Dank an das GESIS-PIAAC-Team für die Erhebung dieser tollen Daten. In einem Punkt möchte ich aber Beatrice Rammstedt widersprechen: „…Menschen, die maximal einen Hauptschulabschluss erwerben und ohne Berufsausbildung bleiben, (…). Denn das sind die Menschen, die in der Regel so schlecht lesen, rechnen und Probleme lösen können, dass sie massive Schwierigkeiten in Beruf und Alltag haben.“ Das stimmt so nicht: Sie haben im Durchschnitt - aber nicht „in der Regel“ - geringere Kompetenzen. Es gibt riesige Überlappungen in den Kompetenzen zwischen Bildungsgruppe: Viele gering Qualifizierte haben ähnlich hohe oder sogar höhere Kompetenzen wie Erwachsene mit Berufsausbildung (siehe auf Basis der „alten“ PIAAC-Daten hier: https://doi.org/10.1177/17816858241240614) und viele mit Hauptschulabschluss haben ähnlich hohe oder sogar höhere Kompetenzen wie jene mit mittlerem Abschluss (siehe auf Basis des NEPS hier: https://dx.doi.org/10.1007/978-3-031-27007-9_12). Das heißt, bei den gering Qualifizierten werden vorhandene Kompetenzpotenziale verschenkt: Diese Jugendlichen bzw. Erwachsenen scheitern nicht auf dem Arbeitsmarkt oder im Ausbildungssystem an ihren Kompetenzen, sondern an Diskreditierungen aufgrund ihres Bildungsabschlusses (siehe z.B. https://www.econstor.eu/handle/10419/193634). Wir müssen also bei Interventionen schauen, wer wirklich kompetenzschwach ist und wer Kompetenzen hat, die sich nicht im Bildungsabschluss widerspiegeln – und beide brauchen unterschiedliche Maßnahmen, um hier zu helfen.
Hans Brügelmann (Montag, 16 Dezember 2024 16:10)
Der Befund, dass die Jüngeren die Leseaufgaben besser lösen können (= "lesen können"?) als die Älteren, hat sich auch in PIAAC 2012, in L.e.o. 2010 und 2018 und in IALS 1994 gezeigt - also in allen einschlägigen Untersuchungen mit Erwachsenen. Und das, obwohl seit IEA 1991 aus den Schuluntersuchungen - von Ausnahmen abgesehen - eher Rückgänge gemeldet werden. DARÜBER (d.h. auch: die ökologische Valdität der schulischen Tests für Alltagsanforderungen) sollte gründlicher nachgedacht werden ...
Wolfgang Kühnel (Montag, 16 Dezember 2024 19:58)
Zum Kommentar #3: Angesichts der erheblichen Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten dürfte es plausibel sein (im Artikel steht das auch), dass mehr von den Jüngeren in unseren Schulen waren als von den Älteren, die im Erwachsenenalter zugewandert sind. DEREN Defizite müsste man doch dem Schulsystem in ihren Heimatländern anlasten. Die Türkei hat z.B. bei PISA deutlich schwächer abgeschnitten als Deutschland. Der Unterschied entspricht etwa der Disparität der deutsch-türkischen Schüler bei PISA im Vergleich zu allen. Darüber spricht aber niemand.