Deutschlands Politik diskutiert über die "Rückführung" der syrischen Flüchtlinge, Medien berichten über die öffentliche "Skepsis" gegenüber der Einwanderungsgesellschaft. Dabei steht die Bevölkerung in Deutschland Einwanderern immer noch positiv gegenüber.
ES GAB AUGENBLICKE, da war ich stolz auf das Niveau der politischen Debatte in Deutschland. Und manchmal, vor allem in letzter Zeit, schäme ich mich für sie. Eigentlich sollten wir angesichts des Assad-Sturzes gerade darüber diskutieren, wie sich Europa außenpolitisch für die Zivilgesellschaft und den Schutz religiöser und anderer Minderheiten in Syrien einsetzen kann.
Doch fiel manchen in Politik und Medien, ausgehend von rechts außen, aber unterstützt bis hinein in die Mitte, von Tag 1 nichts Besseres ein, als die Frage der "Rückführung" der rund eine Million in Deutschland registrierten syrischen Flüchtlinge zu diskutieren. Und welchen von ihnen man vielleicht dann doch ein dauerhaftes Bleiberecht geben könnte. Darin stecken zwei implizite Botschaften. Erstens: Ihr Flüchtlinge seid eine Last. Und zweitens: Die guten Äpfel trennen wir von den faulen.
In ein paar Monaten werden sich dieselben Leute wieder darüber erregen, warum es in Schule und Beruf nicht besser mit der Integration klappt – als könnte man (nicht zum ersten Mal) öffentlich so über Menschen und ihre Zukunftsperspektiven reden, ohne dass das psychosoziale Folgen hat. Und zwar nicht nur für syrische Flüchtlinge, sondern für alle Menschen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind. Nebenbei: Der Ökonom Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sagte Table.Briefings, dass die Integration von Syrern in den deutschen Arbeitsmarkt in Wirklichkeit besser als sonstwo in der EU gelungen sei.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es ist legitim, dass Deutschland seine Einwanderungspolitik strategischer gestaltet. Nicht legitim ist der ständige Missbrauch des Grundrechts auf Asyl für populistische Geländegewinne.
In welche Schieflage die Migrationsdebatte in Deutschland geraten ist, sieht man schon an Details wie zugespitzten Artikelüberschriften selbst in Qualitätsmedien. "Skepsis gegenüber Einwanderungsgesellschaft wächst", titelte zum Beispiel der Spiegel zu den Ergebnissen des neuen "Integrationsbarometers", eine repräsentative Bevölkerungsumfrage, die der Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) alle zwei Jahre veröffentlicht.
Nur noch 55 Prozent der Menschen, die selbst keine Einwanderungsgeschichte haben, würden ihr Kind in einer Schule mit hohem Migrationsanteil anmelden, berichtet das Nachrichtenmagazin. Zehn Prozentpunkte weniger als vor zwei Jahren. Auch sei die Bereitschaft, in einen Stadtteil mit multikultureller Nachbarschaft zu ziehen, gesunken.
Nicht: "Die Skepsis wächst", sondern:
"Die Unterstützung ist etwas geringer"
Man kann solche Zahlen natürlich auch ganz anders bewerten: Nicht "Die Skepsis wächst", sondern: "Die Unterstützung der Einwanderungsgesellschaft ist etwas geringer, aber immer noch hoch". Ist es denn nicht eine gute Nachricht, dass angesichts der polarisierten Debatte immer noch die Mehrheit der Menschen ohne Migrationshintergrund sehr wohl seine Kinder in hoch diverse Schulen schicken würde? Ist es nicht eine positive Überraschung, dass der vom SVR errechnete "Integrationsklimaindex" auf einer Skala von 0 (am schlechtesten) bis 100 (am besten) immer noch bei 66,3 liegt – und damit nur zwei Punkte unter dem sehr hohen Wert von 2022? Und dass immer noch zwei Drittel aller Befragten mit und ohne Einwanderungsgeschichte erwarten, dass sich Flüchtlinge langfristig positiv auf die Wirtschaft und Kultur in Deutschland auswirken?
"Anders als die oft hitzigen medialen Debatten um Migrationssteuerung vermuten lassen, bewerten Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte das Integrationsklima weiterhin mehrheitlich deutlich positiv – auch wenn sich nach einem Hoch im Jahr 2022 mit der aktuellen Messung der Wert leicht abgeschwächt hat", so kommentiert der Rat selbst in Person seines Vorsitzenden Hans Vorländer die Ergebnisse. Die Ergebnisse zeigten ein differenziertes Bild. "Offensichtlich unterscheiden die Befragten zwischen abstrakten Debatten und ihren persönlichen Erfahrungen im unmittelbaren Umfeld."
Die für mich entscheidende Erkenntnis des Integrationsbarometers liegt in einem aus vielen Studien bereits bekannten Phänomen: "Menschen, die von regelmäßigen interkulturellen Kontakten berichten, blicken positiver auf das Integrationsgeschehen als jene mit geringen interkulturellen Kontakten", sagt SVR-Chef Vorländer. Ein Beispiel: Ostdeutsche Befragte ohne Migrationshintergrund liegen im Index bei 58,8. Westdeutsche ohne Migrationshintergrund bei 66,2. Soll ich auch einmal zuspitzen? "Mehr Einwanderer sorgen für mehr Weltoffenheit in einer Gesellschaft."
Auf die Differenziertheit vieler Menschen in Deutschland – trotz allem – bin ich es dann übrigens doch wieder ein wenig: stolz.
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Detlef Müller-Böling (Mittwoch, 11 Dezember 2024 11:32)
Wenn ich diesen Beitrag lese, dann weiß ich, warum der Blog von Jan-Martin Wiarda so wertvoll und jeden Cent finanzieller Unterstützung wert ist. Danke für Ihre wieder einmal so treffenden Worte und Analysen!
Franka Listersen (Mittwoch, 11 Dezember 2024 12:25)
Nun ja, bei grundsätzlicher Offenheit für (den richtigen!) Zuzug besteht in einer alternativen Sichtweise eher - und weiterhin - das Problem, dass "der ständige Missbrauch des Grundrechts auf Asyl" für illegale Migration nicht gestoppt wird. Was die Syrer angeht, bleibt erstens festzuhalten, dass Asyl auf Zeit angelegt ist (genauso wie Schutz vor Krieg und Vertreibung), und dass zweitens der Einzelfall zu betrachten ist. Im Übrigen stimmen die zwei genannten impliziten Botschaften: Die Aufnahme von Migranten der letzten Jahre (beileibe nicht alles Flüchtlinge) ist eine Last. Und die "guten Äpfel" sind von den "faulen" zu trennen - genau dies gelingt ja nicht (auch weil viele dies nicht für nötig halten).
Die Bürger reden im Übrigen über das, was sie bewegt, und bürgernahe Politiker greifen dies auf (siehe auch https://www.cicero.de/innenpolitik/asyl-assad-syrien-warnung-vor-migrationsthema). Dabei macht natürlich der Ton die Musik.
Wolfgang Kühnel (Mittwoch, 11 Dezember 2024 13:17)
"In einem weiteren Interview mit der italienischen Zeitung Corriere della Sera rief er [der neue Regierungschef Baschir] Syrer in aller Welt auf, in ihre Heimat zurückzukehren. "Mein Appell richtet sich an alle Syrer im Ausland: Syrien ist jetzt ein freies Land, das seinen Stolz und seine Würde wiedererlangt hat. Kommen Sie zurück!" Das Land solle wiederaufgebaut werden."
Quelle:
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/syrien-baschir-100.html
Leif Johannsen (Mittwoch, 11 Dezember 2024 13:51)
Es ist Wahlkampfzeit und insofern konsequent, dass der Populismus im Vordergrund steht, leider. Anstatt die Buergerkriegsfluechtlinge aus Syrien einfach nur loszuwerden zu wollen, waere es sicherlich auch ratsam, mal ueber die Chancen nachzudenken, die sich nach heutigem Stand ergeben. Ob es gut wird oder nicht in Syrien, wird die Zeit zeigen. Insgesamt habe ich mehr als 10 Jahre in UK gelebt/gearbeitet und trotz Brexit fuehle ich mich mit dem Land weiterhin verbunden und dankbar fuer die schoene Zeit dort. Nehmen wir mal an, 1 Mio+ syrische Fluechtlinge wuerden in ein sicheres Syrien zurueckkehren koennen, dieses auch tun UND wuerden gleichzeitig Dank gegenueber Deutschland empfinden. Welches Ausmass an geopolitischen Einfluss koennte Deutschland dadurch gewinnen, auch hinsichtlich eines Wiederaufbaus Syriens? Jetzt sollte man schnell mit bilateralen Gespraechen mit den neuen Machthabern beginnen, Ihnen Angebote machen, die eine moderate Haltung und eine offene Gesellschaft als beste Option darstellen. Leider befuerchte ich, dass diese Chance zu einer Unzeit kommt und vertan ist, wenn eine deutsche Regierung wieder handlungsfaehig wird. Ausserdem ist da noch der Moeglichkeit, dass die syrischen Fluechtlinge, wenn man sie jetzt ueberstuerzt und ruecksichtslos aus dem Land kickt sowie hinter ihnen die Tuer zuschlaegt, gegenueber Deutschland alles andere als Dank empfinden werden. Die Gelegenheit Ihnen die "Werte" der deutschen Gesellschaft beizubringen, waere damit endgueltig vertan. Tja, haette man die letzten 9 Jahre doch etwas produktiver genutzt...
Dominique Bediako (Mittwoch, 11 Dezember 2024 16:01)
Auch von mir vielen Dank für Ihren Beitrag, Herr Wiarda! Ich schließe mich Leif Johannsen an und möchte ergänzen, dass für eine Rückkehr und sinnvolle Mitarbeit am Wiederaufbau Voraussetzungen gegeben sein müssen: ein Mindestmaß an Sicherheit und eine hinreichende Basisinfrastruktur (Strom, Wasser, Internet, einigermaßen funktionsfähige Schulen und medizinische Versorgung). Zu bedenken ist auch, dass gerade unter den syrischen Geflüchteten viele gut ausgebildete Menschen und insbesondere junge Leute in Schulen, in der Ausbildung und am Universitäten sind, über deren Verbleib wir uns in Deutschland freuen könnten. Aber wenn sie zurückkehren, sollten sie doch wenigstens als willige und gern an Deutschland denkende Botschafter:innen gehen.
Django (Donnerstag, 12 Dezember 2024 11:14)
ad #2: Das Asylrecht wird ja auch "missbraucht", weil in Deutschland weiterhin nicht gesehen wird, dass Arbeitsmigration legitim und notwendig ist.
Ein prägnantes Beispiel der deutschen Tendenz, Prinzipen vor Pragmatismus zu stellen, ist die Sache mit den kolumbianischen Pflegekräften in Niedersachsen, die zuletzt gestern in den Medien war.
Wir haben eine Reihe von Menschen, die während des laufenden Asyslverfahrens die Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme bekommen haben und an ihrem Arbeitsplatz offenbar gebraucht und wertgeschätzt werden. Nun werden die Asylanträge abgelehnt, die Betroffenen sollen abgeschoben werden und dem Pflegeheim droht die Schließung. Offenbar ist es unmöglich, abgelehnten Asylbewerbern eine dauerhafte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis zu geben?!
Wolfgang Kühnel (Freitag, 27 Dezember 2024 18:36)
Eine steigende Arbeitslosigkeit in bestimmten Teilen der Wirtschaft könnte durchaus zu einer Neubewertung führen:
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/grimm-arbeitslosigkeit-100.html
Und dann gibt's noch die hohen Energiekosten:
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/wirtschaftsverbaende-abwanderung-100.html
Vielleicht werden ja internationale Unternehmen in Syrien investieren, weil sie da bessere Bedingungen für ihre Rendite vorfinden?