· 

Deutschland hat eine Migrationskrise, aber anders

Ohne Einwanderung ist der Kampf gegen den Fachkräftemangel aussichtslos. Daher sind die zu uns gekommenen Flüchtlinge nicht das Problem, sondern die Lösung. Sogar in doppelter Hinsicht.

Foto: Netavisen Sameksistens dk / Pixabay

NUR 70.459 MENSCHEN aus Nicht-EU-Staaten sind 2023 zwecks einer Erwerbstätigkeit nach Deutschland eingewandert, sogar ein paar hundert weniger als im Vorjahr. Und das trotz aller gesetzlichen Erleichterungen durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, wie die Bertelsmann-Stiftung hervorhebt.

 

Während Deutschland über die "Rückführung" Geflüchteter streitet, ignorieren Politik und Öffentlichkeit eine bittere Tatsache: Die Hochqualifizierten aus aller Welt machen einen Bogen um die Bundesrepublik. Das Land ist nicht attraktiv genug für sie.

 

Das ist die Migrationskrise, auf die wir uns konzentrieren sollten. Denn: Ohne massive Einwanderung ist der Kampf gegen den dramatischen Fachkräftemangel aussichtslos, die Sozialsysteme würden kollabieren. Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Hochschule Coburg kamen in einer Berechnung ebenfalls für die Bertelsmann-Stiftung kürzlich auf 288.000 zusätzliche internationale Arbeitskräfte, die bis 2040 nötig sind, um den Bedarf von Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu decken. Jedes Jahr.

 

Zum Glück gibt es eine Lösung. Allein 80.000 Syrer arbeiten in sogenannten Engpassberufen, geht aus einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor. Über 4.000 Kfz-Mechatroniker, 5.300 Ärzte, viele weitere tausend in Kitas, Altenheimen, Handwerksbetrieben. Und das trotz aller Hürden, die sie überwinden mussten, bis sie überhaupt arbeiten durften. Doch wir diskutieren über weitere Erschwerungen, um ihnen anschließend wieder die vermeintlich mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt vorzuwerfen.

 

Ja, es gibt nicht integrierbare, radikalisierte und gewaltbereite Flüchtlinge, ja es gibt schmarotzende Flüchtlinge. So, wie es nicht integrierbare, radikalisierte, gewaltbereite, schmarotzende Deutsche gibt. Aber wollen wir uns durch pauschal-vorurteilsbeladene Migrationsdebatten den Blick verstellen lassen auf die einmalige Chance, die die Millionen bereits nach Deutschland geflüchteten Menschen als potenzielle Fachkräfte heute und morgen für unsere Gesellschaft und ihren Wohlstand bedeuten? Wenn wir ihre Schul- und Berufsausbildung fördern. Wenn wir ihnen die Arbeitsaufnahme erleichtern. 

 

Der Gewinn wäre ein doppelter. Denn so frappierend es ist: Am Umgang mit den Geflüchteten entscheidet sich die Weltoffenheit, die es braucht, um für Hochqualifizierte attraktiver zu werden. Faktoren wie Sprache, Gehaltshöhe oder High-Tech-Umfeld sind wichtig im Wettbewerb der Einwanderungsländer, ausschlaggebend aber ist für die meisten Menschen andere Frage: Habe ich mit meiner Hautfarbe, meiner Religion, meinen Zukunftsträumen das Gefühl, wirklich willkommen und gewollt zu sein? Will ich hier mit meinen Kindern leben? Geschürt durch Anti-Flüchtlingsdebatten, fragt der alltägliche Hass in der Straßenbahn nicht nach Aufenthaltsstatus, Facharbeiterqualifikation oder Doktortitel.

 

"Deutschland schafft sich ab", warnte 2010 Thilo Sarrazin in seinem Anti-Migrationsbuch. Tatsächlich ist es genau andersrum: Wenn Deutschland sich abschafft, dann nicht durch Migration, sondern durch die eigene Engstirnigkeit.



Rund 405.000 internationale Studierende in Deutschland

So wenig internationale Fachkräfte nach Deutschland wollen, so viele Studienanfänger aus aller Welt zieht es in die Bundesrepublik. Laut einer Schnellumfrage des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) kletterte ihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent auf rund 88.000. Gleichzeitig sei die Gesamtzahl der an Deutschland eingeschriebenen internationalen Studierenden weiter auf nun erstmals über 400.000 gestiegen, prognostiziert der DAAD aufgrund der Rückmeldung von über 200 Hochschulen aus ganz Deutschland.

 

Ein Drittel von ihnen berichtete stark steigende Zahlen bei den Neueinschreibungen aus dem Ausland (zehn Prozent oder mehr), insgesamt ging es an über der Hälfte der Hochschulen hoch. Ein weiteres Drittel vermeldete keine Veränderung, nur gut zehn Prozent war mit sinkenden internationalen Anfängerzahlen konfrontiert. 

 

Der Anstieg dürfte verschiedene Gründe haben: Die zunehmenden Abschottungstendenzen in anderen wichtigen Gastländern wie Australien, den USA oder selbst in den Niederlanden; die aktive Strategie vieler deutscher Hochschulen, die sinkenden deutschen Einschreiberzahlen durch internationale zu ersetzen; die wachsende Neigung junger Inder zu einem Auslandsstudium.

Kai Gehring, der grüne Vorsitzende des Forschungsausschusses, führt die "Maßnahmen des Auswärtigen Amtes zur Verschlankung der Visaverfahren für Studienaufenthalte" an, die "wichtige Anreize" setzten.  

 

Im internationalen Vergleich sehr gut steht die Bundesrepublik auch beim Anteil internationaler Studienabsolventen da, die nach dem Studium zum Arbeiten im Land bleiben und hier eine Beschäftigung aufnehmen. Problematisch bleibt die fast doppelt so hohe Abbrecherquote unter internationalen Studierenden. 

 

"Die deutschen Hochschulen sind nachweislich sehr attraktiv für internationale Studierende", sagte DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee. "In Zeiten des immer stärker spürbaren Fachkräftemangels sollten wir in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft mehr tun, um jungen Menschen, die aus aller Welt für ein Studium zu uns kommen, nach einem erfolgreichen Studienabschluss eine berufliche Perspektive in Deutschland zu eröffnen." Mukherjee verwies in dem Zusammenhang auf seine "Fachkräfte-Initiative", die seit Jahresbeginn 104 Hochschulen dabei unterstütze, internationale Studierende noch stärker vor Studieneintritt, im Studium und beim Übergang in den Arbeitsmarkt zu fördern.



Bitte unterstützen Sie den Wiarda-Blog auch im neuen Jahr


Liebe Leserinnen und Leser,

 

wie immer sind Sie herzlich zum Mitdiskutieren eingeladen. Bitte beachten Sie jedoch, dass von diesem Jahr an die Netiquette hier im Blog noch konsequenter zu beachten ist. Das bedeutet: keine persönlichen Angriffe oder Herabwürdigungen, ein wertschätzender Ton auch bei inhaltlichen Differenzen. Zur Sache kritische Kommentare sind sehr willkommen, wobei ich mir im Zweifel vorbehalte, die Verwendung nachvollziehbarer Klarnamen zur Voraussetzung einer Veröffentlichung zu machen. 

 

Dieser Blog zeichnete sich immer dadurch aus, dass er unterschiedliche demokratische Perspektiven in gegenseitiger Wertachtung gelten ließ. Dabei soll, muss und wird es bleiben, ganz gleich wie die Debatte anderswo sich entwickelt.

 

Mit bestem Dank und guten Wünschen für 2025

Ihr Jan-Martin Wiarda


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Tobias Denskus (Donnerstag, 02 Januar 2025 10:10)

    Schweden ist ein gutes Beispiel wie man sein globales Kapital recht schnell verspielen kann.
    Beseelt vom "Schweden ist toll, alle wollen kommen, also muessen wir sehr wählerisch sein" Diskurs verschärft man Regeln fuer geringer Verdienende oder hoch qualifizierte Menschen die temporär z.B. fuer Studium und/oder Promotion im Land sind. "Die hochqualifizierten Menschen die tolle Jobs annehmen sind natuerlich willkommen"-nur funktioniert das natuerlich oft nicht, denn hochqualifizierte Menschen haben Optionen und jeder Antrag auf Verlängerung von Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigungen, die ueberall buerokratisch und langwierig sind, wird abgewogen: "Gibt es das auch in Land X oder Y?". Denn, surprise, surprise, Schweden ist nicht schlecht, aber natuerlich auch nicht so toll wie es aus dem konservativen und rechtspopulistischen Lager gerne verklärt wird...

  • #2

    Franka Listersen (Donnerstag, 02 Januar 2025 12:13)

    " Am Umgang mit den Geflüchteten entscheidet sich die Weltoffenheit, die es braucht, um für Hochqualifizierte attraktiver zu werden."

    Dieser Konnex leuchtet mir nicht ein. Oder allenfalls so: Auch hochqualifizierte ausländische Beschäftigte legen Wert auf eine rechtskonforme, konsequente, das Land nicht überfordernde und sozialverträgliche Migrationspolitik - die es nach überwältigender Auffassung der Bürger seit 2015 vielfach nicht (mehr) gab. Unterschiedliche Statui (Hochqualifizierte, Arbeitsmigranten, Flüchtlinge, politisches Asyl etc.) zu vermischen und dabei konsequent die Belastungen zu verdrängen, trägt jedenfalls nicht zu einer Akzeptanz bei.