Drei führende Landesbildungsministerinnen machen kurz vor der Wahl einen bemerkenswerten Vorschlag für messbare Bildungsziele. Hoffentlich folgt jetzt die Debatte, die ihre Initiative verdient hat.
Die Botschaft der drei Ministerinnen Theresa Schopper, Karin Prien und Stefanie Hubig: Screenshot von der Übertragung der Pressekonferenz durch den Sender Phoenix auf YouTube.
DASS SIE MITEINANDER KÖNNEN und den Ehrgeiz haben, der Bildungspolitik der Länder einen kräftigen Schubs zu geben, haben Stefanie Hubig und Karin Prien bereits mehrfach bewiesen, seit sie vor ziemlich genau einem Jahr und fast gleichzeitig die Koordinierung der beiden großen Länderfraktionen in der Kultusministerkonferenz (KMK) übernommen haben. Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig für die Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung, die sogenannte A-Seite, und Karin Prien aus Schleswig-Holstein für die "B"-Länder, wo die Union Koalitionspartner ist.
Nicht alles ist ihnen gelungen, etwa ihr gemeinsames Pushen für Mehrheitsentscheidungen in der KMK anstelle des gegenwärtigen Zwangs zur Einigkeit aller 16 Länder in allen wichtigen Bildungsfragen. Wenig überraschend allerdings, wäre doch die Abkehr von der Einigkeit wiederum nur in Einigkeit möglich gewesen. So bleiben die KMK und auch ihre vergangenes Jahr neu gegründete Bildungsministerkonferenz (Bildungs-MK) Institutionen des langsamen Kompromisses, der sich gelegentlich nur als Fortschritt maskiert, weil er in Wirklichkeit den Bremsern eines größeren länderübergreifenden Ehrgeizes die Vorfahrt einräumt.
Womöglich auch deshalb versuchen Prien und Hubig es mit ihrer jüngsten Initiative auf einem anderen Weg. Und das ist gut so, weil sie, im Verein mit ihrer grünen Kollegin aus Baden-Württemberg, Theresa Schopper, einen derart wichtigen Debattenvorschlag machen, dass kein Kompromiss von vornherein ihn abschwächen sollte.
Das Commitment von Politik messbar machen
Moderiert von der "Wübben Stiftung Bildung", haben Hubig, Prien und Schopper am Montag ein Set von Indikatoren vorgestellt, mit denen sie das Commitment – und möglichst natürlich
den Erfolg – der föderalen Bildungspolitik konkret messbar machen wollen. Zugrunde liegen den vorgeschlagenen Indikatoren Ziele, auf die sich nach Vorschlag der drei Ministerinnen zunächst
alle Länder einigen sollten, und zwar (1) in der "frühen Bildung" eine "bessere Verzahnung von Elementarbereich und Grundschule sowie auf abgestimmte Förderketten mit Evaluationskultur, die die
Eltern mit einbeziehen", (2) die "Schule als Lern- und Lebensort für gelingende Persönlichkeitsentwicklung", (3) eine volle Ausschöpfung des Potenzials aller Kinder und Jugendlichen bei der
"Kompetenz- und Leistungsentwicklung" mit Unterstützung der Kitas und (4) bessere "Bildungschancen" für alle unabhängig von ihrer Herkunft.
Die vorgeschlagenen Indikatoren, um zu messen, ob die genannten Ziele auch tatsächlich erreicht werden, beziehen sich auf den Zeitraum 2025 bis 2035, allerdings zunächst nur auf (3) und (4). Die wichtigsten sind:
o 50 Prozent weniger Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathe verfehlen, was dem von Bund und Ländern in milliardenschweren Startchancen-Programm formulierten Ziel entspricht;
o 20 Prozent mehr Schüler, die die (deutlich höheren) Regelstandards in beiden Fächern erreichen oder übertreffen;
o 30 Prozent mehr Schüler, die die am höchsten gelegenen Optimalstandards erreichen.
Wichtig ist hier jeweils, nicht Prozente und Prozentpunkte zu verwechseln. Beispiel IQB-Bildungstrend 2022 beim Lesen: Bundesweit verfehlten 32,5 Prozent der Neuntklässler den MSA-Mindeststandard und nur 3,9 Prozent schafften den Optimalstandard. 30 Prozent mehr Schüler beim Optimalstandard wäre also in dem Fall ein Anstieg auf knapp 5,1 Prozent. Was ein enormer Sprung wäre.
Außerdem soll dem Vorschlag der Ministerinnen zufolge gemessen werden:
o wie sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzen entwickelt, und zwar anhand des sozialen Gradienten im IQB-Bildungstrend. Dieser Indikator soll bis 2035 ein Absinken um 20 Prozent anzeigen.
o Beim ebenfalls vorgeschlagenen Indikator "Schulabgänger ohne ersten Schulabschluss" soll die Zahl um 50 Prozent verringert werden.
Für die Ziele (1) "Frühe Bildung" und (2) "Schule als Lern- und Lebens-
ort für gelingende Persönlichkeitsentwicklung" streben die Ministerinnen ein ähnliches Vorgehen an, doch müssten die dafür nötigen bundeseinheitlichen Indikatoren zunächst noch entwickelt werden, um dann auf ihrer Grundlage in einem zweiten Schritt messbare Ziele zu formulieren.
Vorläufer Dresdner Bildungsgipfel
Als "Novum in der Geschichte des deutschen Bildungsföderalismus" wird der Vorschlag der Ministerinnen in der am Morgen verbreiteten Pressemitteilung angepriesen, und das stimmt weitestgehend. Als Vorläufer fällt einem einzig der Dresdner Bildungsgipfel von 2008 ein, der auf Ebene der Regierungschefs von Bund und Ländern vor allem messbare Ziele für die Bildungsfinanzierung formuliert hatte, dazu einige zu Bildungsbeteiligung und Abschlussquoten (zum Beispiel Halbierung der Schulabbrecherquote, Erhöhung der Studienanfängerquote). Aber noch keine zu konkreten Kompetenzzielen. Denn die dafür erforderlichen Bildungsstandards waren erst in der Mache, deren Entwicklung wurde aber von den Regierungschefs forciert.
Der Umstand, dass die föderale Bildungspolitik in den Jahren danach tatsächlich am (Nicht-)Erreichen ihrer Ambitionen gemessen wurde, war wahrscheinlich der Grund, warum es nie zu einer Neuauflage kam. Und zum Beispiel auch der im Ampel-Koalitionsvertrag versprochene neue Bildungsgipfel misslang. Die Angst, bei Nichterreichen öffentlich vorgeführt zu werden, ist in der Bildungspolitik der Länder traditionell groß – und hatte schon das erwähnte Mindeststandard-Ziel als Teil der "Startchancen" zum Gegenstand teils heftiger Debatten gemacht.
Die Ministerinnen beschwören den Aufbruch. Gute und gerechte Bildung sei möglich, sagt SPD-Politikerin Hubig, "wenn wir frei von Ideologie und Parteipolitik die großen Herausforderungen gemeinsam anpacken. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung für die Bildung. Dazu haben wir Ziele festgelegt, die parteiübergreifend und in allen Bundesländern Akzeptanz finden können und für die wir auch die künftige Bundesregierung gewinnen wollen."
Und ihr CDU-Pendant Prien ergänzt, Bund, Länder und Kommunen müssten gemeinsam in ihren jeweiligen Zuständigkeiten für die Bildung arbeiten. "Die wesentlichen Indikatoren müssen im föderalen Wettbewerb klar sein. Es muss zukünftig möglich sein, datenbasiert zu steuern, und nicht nur Ziele zu messen, sondern auch Fortschritte systematisch zu überprüfen und die Weiterentwicklung zu optimieren."
Den föderalen Wettbewerb beleben
Drei führende Bildungspolitikerinnen aus den drei Parteien, die – darauf spielt Hubig an – in den Ländern den Großteil der Bildungsverantwortung tragen, das macht ihren Impuls so aussichtsreich. Gerade auch im Vorfeld der Bundestagswahl und der dann anstehenden Aushandlung eines Koalitionsvertrags, dem konkret messbare Bildungsziele ebenfalls gut zu Gesicht stehen würden.
Allerdings erscheint genauso grundlegend, anders als beim Dresdner Bildungsgipfel die Ziele nicht nur auf Bundesebene darzustellen, sondern für jedes einzelne Bundesland, um einem Hin- und Hergeschiebe der Verantwortung zwischen Bund und Ländern und der Länder untereinander vorzubeugen. Hierfür sind die Ziele hervorragend gewählt und formuliert, weil sie keine absoluten, sondern relative Veränderungen angeben. Eine Verringerung der Abbrecherquoten um 30 Prozent zum Beispiel in einem Bundesland, wo schon jetzt weniger junge Menschen die Schule verlassen, wäre dann genauso viel wert wie in einem Bundesland mit zurzeit höherem Anteil.
Wenn Prien den "föderalen Wettbewerb" anführt, gibt sie damit die Richtung vor, in die es gehen muss. Wenn die Indikatoren Konsens sind, überall auf dieselbe Art gemessen werden und transparent abrufbar sind (die vorgeschlagenen sind es allesamt), dann würde die Bildungspolitik durch die Formulierung von Zielen endlich konstruktiv die Chancen des Föderalismus nutzen: 16 verschiedene Bildungssysteme, die auf dem Weg zu denselben Zielen teilweise bei den Wegen konkurrieren. Um dann zu schauen: Wer war an welcher Stelle erfolgreicher, und was lernen wir davon?
Hätte man eine solche Strategie nicht schon viel früher fahren sollen? Sicher. So sicher, wie es nicht falsch sein kann, trotz all der Jahre und Jahrzehnte, in denen viel über Bildungsgerechtigkeit debattiert und so emphatisch wie folgenlos eine Kraftanstrengung nach der anderen versprochen wurde, jetzt diesen Weg einschlagen zu wollen.
Klar wird es Widerstände geben vor allem von denjenigen Bildungsministern, die – fälschlicherweise – Sorge haben, schlecht auszusehen. Doch weil der Vorschlag jetzt in der Welt ist und nicht zuvor schon KMK-intern versenkt wurde, steht der öffentliche Erwartungsdruck dagegen. Außerdem scheint die Bereitschaft zu – und ja, das Verlangen nach – datenbasierter Steuerung in Bildungspraxis und Bildungspolitik zu wachsen. Nach dem Motto: Wenn wir schon die ganzen Daten erheben (müssen), warum nutzen wir sie dann nicht, um Bildung besser zu machen?
Eine neue Rolle für das KMK-Sekretariat
Jetzt müssen die Ministerinnen ihren Aufschlag in die Bildungs-MK hineintragen, so dass möglichst schnell eine endgültige Liste an Indikatoren und konkreten Zielsetzungen entsteht. Und außerdem festgelegt wird, in welchen Zeitabständen welche Institution ein umfassendes und unabhängiges Reporting hinunter auf die einzelnen Länder übernimmt.
Und nein, auch wenn die Wübben-Stiftung einen hilfreichen Beitrag zur Genese der Initiative geleistet hat, sollte das keine zivilgesellschaftliche Einrichtung sein. Schon weil gegenüber Bildungsvergleichen von Stiftungen in der Kultuspolitik eine gewisse Grundallergie herrscht. Das Sekretariat der Kultusministerkonferenz böte sich an. Es soll dieses Jahr einen ambitionierten Reformprozess durchlaufen, an dessen Ende ein neues Funktions- und Rollenverständnis stehen sollte. Das systematische Sammeln, Auswerten und – auch öffentlichkeitswirksame Bereitstellen von Statistiken und Vergleichsdaten der Bildungssysteme aller 16 Länder sollte dazu gehören.
Nehmen die anderen 13 Bildungsminister:innen die Herausforderung ihrer Amtskolleginnen an, könnte sich eine große Chance ergeben: für die Kinder und Jugendlichen – und für das Ansehen der Bildungspolitik.
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Michael Felten (Montag, 20 Januar 2025 23:42)
Das Arbeiten mit quantitativen Zielsetzungen kann auch schiefgehen. Wenn die derart Angespornten nämlich beginnen, die Bilanzen zu frisieren - also etwa Standards abzusenken.
Eigentlich müssten sich alle Beteiligten - neben der Personalfrage - 'lediglich' darauf konzentrieren, breitenwirksam die Basisdimensionen lernwirksamen Unterrichts zu professionalisieren (in SH geschieht dies bereits systemisch): effektive Klassenführung, hochgradige kognitive Aktivierung sowie lernförderliches Unterrichtsklima. Denn da ist vielerorts noch viel Luft nach oben. Insbesondere sollten die Schulen sogenannt selbstgesteuerte Lernformen nur mit großem Bedacht einsetzen - bei Schülern, die davon wirklich profitieren.
Wolfgang Kühnel (Dienstag, 21 Januar 2025 10:44)
Das haben wir doch schon lange vermisst: Ein 10-Jahres-Plan für die Zahlen, mit denen man angeblich Bildung messen kann. Die Wübben-Stiftung hat das hier bereits in einer "futuristischen" Publikation postuliert, die stark an "Big Brother is watching you" erinnert, selbstverständlich als eine Ausprägung der Digitalisierung der Schulen:
https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/bildungsgerechtigkeit-durch-daten-2/
Besonders PR-wirksam: Alles steht unter der Überschrift "Bildungsgerechtigkeit durch Daten". Kleines Zitat (S.11):
"Die effektive Nutzung von Bildungsmonitoring-Daten in
Deutschland erfordert nicht nur technische und analytische
Kompetenzen, sondern auch einen Wandel in der Kultur:
Dieser Wandel umfasst eine stärkere Betonung von Transparenz, Vertrauen, Kooperation und Verantwortlichkeit auf allen Ebenen des Bildungssystems."
Big Data und Vertrauen als Kombination? Da regt sich bei mir die schon im Artikel erwähnte "Grundallergie".
Wolfgang Beywl (Dienstag, 21 Januar 2025 12:21)
Daten auf der Makrobene produziert werden bestenfalls beschränkten Nutzen haben, im schlechten Falle kontraproduktiv sein (siehe oben, Michael Felten). Daten sind dann unterrichtswirkfähig, wenn sie integriert in den Unterricht für den Unterricht generiert werden. Interpretation erfolgt mit der Klasse und in Professionellen Lerngemeinschaften (PLG). Rzejak, Daniela et al. (2025): "Professionelle Lerngemeinschaften". In: Weißbuch Lehrkräftefortbildung in Deutschland. S. 47–77. https://www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/produkte/details/55497-weissbuch-lehrkraeftefortbildung.html Open Access, Hattie nennt diese PLG+ https://paedagogik.de/alle-anzeigen-paedagogik/product/illustrierter-leitfaden-lehren-und-lernen-sichtbar-machen-4292/
Ralf Meyer (Mittwoch, 22 Januar 2025 17:02)
Die Leistung eines Bildungssystems kann nur durch Daten auf der Makroebene gemessen werden, weil auch die Bildungspolitik eines Bundeslandes nur auf dieser Makroebene steuern kann. Die Qualität des Unterrichts ist ungeheuer wichtig für den Lernerfolg, aber liegt in der Hand der Lehrkräfte. Das Bildungsministerium steuert hier bestenfalls indirekt. Der Erfolg dieser Steuerung lässt sich aber auch nur auf einer Makroebene messen, und hier sind die Outputparameter gut etabliert und auch sinnvoll. Da diese Daten von internationalen Organisationen erhoben werden, ist es auch schwer für ein Bundesland, diese Daten zu manipulieren. Die Unterrichtsqualität hat zu viele Dimensionen, um den Erfolg der Bildungspolitik damit wirklich messen zu können.
Michael Felten (Sonntag, 26 Januar 2025 23:42)
Haben die Ministerinnen sich das gar nicht selbst ausgedacht?
Eine skeptische Stimme dazu aus der Schweiz:
"Wir sind umgeben von Ansprüchen unternehmensnaher Stiftungen nach einer ihnen genehmen “Transformation”, von Forderungen an das Humankapital wie “Future Skills”, von “Digitalisierung”, von postulierten Kompetenzen in fünf Kompetenzstufen,von “Big Data” mit einer sich abzeichnenden Datenkrake im Schulbereich, alles geschmückt mit jeder Menge Phraseologie, aber von nur wenig kritischem Denken darüber, wie das alles zusammengehen kann."
https://condorcet.ch/2025/01/18415/