Schwarz-Rot diskutiert über mehr "Spielräume" beim Ganztagsausbau – für die Kommunen. Hinter den wohlklingenden Worten droht die nächste Verschiebung des Rechtsanspruchs. Wann wird Ganztagsbetreuung endlich als dringende Bildungsaufgabe verstanden?

Bild: KI-generiert.
ES KLANG WIE eine gute Nachricht. "Wir halten am Ausbauziel für die Ganztagsbetreuung in der Grundschule fest", hieß es im zwischenzeitlich geleakten Ergebnis der schwarz-roten Koalitionsverhandlungs-AG 10, "Kommunen, Sport und Ehrenamt", und weiter: "Bei der Umsetzung vor Ort eröffnen wir den Kommunen mehr Gestaltungsspielräume. Zur Entlastung der Kommunen schaffen wir einen Übergangszeitraum für den Rechtsanspruch bis zum Schuljahr 2028/29."
Festhalten, Gestaltungspielräume, Entlastung: Tatsächlich wäre das, was da so unspektakulär daherkommt, schon das zweite gebrochene Ganztags-Versprechen gegenüber den Familien und bildungspolitisch grundverkehrt. Und so symbolträchtig wie typisch ist, dass bei dem Vorstoß Bildungspolitiker offenbar gar nicht erst einbezogen wurden.
Aber der Reihe nach. Eigentlich, so hatten es Union und SPD 2018 in ihren damaligen Koalitionsvertrag geschrieben, sollte es "bis 2025"einen "Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter" geben. Was bereits satte 23 Jahre nach dem ersten Ganztagsausbauprogramm der Regierung Schröder gewesen wäre.
Doch wurden diese Ambitionen zwischen Bund und Ländern in den nächsten drei Jahren kleinverhandelt: Das im Oktober 2021 verabschiedete Ganztagsförderungsgesetz legte fest, dass der Einstieg in den Rechtsanspruch auf das Schuljahr 2026/27 geschoben wurde, noch dazu sollte es nur mehr mit den dann eingeschulten Erstklässlern losgehen und der Rechtsanspruch danach Jahr für Jahr um ein Schuljahr ausgeweitet werden. Im Gegenzug wurde Bundesgeld zugesagt: bis zu 3,5 Milliarden Euro für Investitionen, und im Endausbau wollte der Bund sich mit 1,3 Milliarden pro Jahr an den Betriebskosten beteiligen.
Ministerpräsidenten wollten schon
vergangenen Herbst aufschieben
Nochmal drei Jahre später konstatierte der zweite Bericht der Bundesregierung zum Ganztagsförderungsgesetz: Zwar habe sich der Ausbaubedarf deutlich reduziert, es fehlten aber immer noch zusätzliche 342.000 Ganztagsplätze, "um den angenommenen Elternbedarf in 2026/2027, dem ersten Jahr des Inkrafttretens des Rechtsanspruchs, zu erfüllen".
Schon vorher hatten die Regierungschefs der Länder deshalb eine erneute Verschiebung gefordert, und zwar gleich um zwei Jahre. Große Bauprojekte und deren Planung seien zeitaufwändig, hinzu komme der Fachkräftemangel im Bausektor. Außerdem, hielten die Ministerpräsidenten in ihrem Beschluss fest, habe der Bund mehr als 15 Monate gebraucht, allein um die Verwaltungsvereinbarung zum Gesetz an die Länder zu schicken. Nochmal vier Monat später trat sie schließlich in Kraft. Es sei daher bereits mit Beginn der Förderprogramme in den Ländern absehbar, dass die gesetzlich festgelegten Fristen nicht eingehalten werden könnten.
Nun legt das Zwischenergebnis der Koalitions-AG 8 nah, dass die Lobbyisten einer Verschiebung ihr Ziel fast erreicht haben. Denn auch wenn "Gestaltungsspielraum" und "Übergangszeit" bis 2028/29 weicher klingen, kann man sich angesichts der bisher schon ungenügenden Ausbaudynamik vorstellen, was es bedeutet, den Druck vom System zu nehmen.
Denn nicht die Deadline ist das Problem, sondern, das belegt das Ganztags-Vor-Und-Zurück seit den frühen 2000ern, das über viele Jahre mangelnde politische Bewusstsein der Dringlichkeit und Größe dieser Aufgabe.
Dabei geht es in keiner Weise darum, die aktuellen logistisch-planerischen Herausforderungen vor allem für die Kommunen kleinzureden. Die Länder haben ihnen an vielen Stellen den Schwarzen Peter zugeschoben, einige haben wiederholt versucht, ihren Eigenanteil zu drücken. Und das wiederum auf Kosten der Kommunen mit ihrer oftmals extrem angespannten Haushaltslage.
In der ganzen Debatte fehlt die
entscheidende Perspektive
Doch fehlte in der ganzen Debatte stets die entscheidende Perspektive: die der Kinder. Was bedeutet es, wenn, anders als ursprünglich geplant, ganze Grundschuljahrgänge nie in den Genuss des Rechtsanspruchs kommen werden, weil sie zu früh eingeschult worden sind? Und wenn jetzt noch zwei Jahrgänge mehr von der Verzögerung betroffen wären?
So wie der Vorstoß einer erneuten Verschiebung auf die Lage in den Kommunen eingehen soll, war der Rechtsanspruch selbst immer nur vom Betreuungsbedarf der Eltern gedacht. Dass es bei Ganztag eigentlich um Schule und damit um das dringliche Recht der Kinder auf Bildung gehen sollte, war bei den Plänen zum Ganztagsausbau von Anfang kaum im Blick: Er ist im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII – "Kinder- und Jugendhilfe") geregelt und erschöpft sich vorrangig auf die Zusage von acht Stunden Betreuung an fünf Tagen die Woche bei einer Schließzeit von bis zu vier Wochen pro Jahr.
Entsprechend ist das Thema "Ganztag" bislang auch im Familienministerium verortet, und mit dem Verschiebevorschlag der Koalitions-AG 10 soll sich nach deren Vorstellung nur die für Familie zuständige AG 7 noch beschäftigen.
Zum Glück jedoch scheint es unter den schwarz-roten Bildungspolitikern dagegen Widerstand zu geben. Die AG 8, zu mit Karin Prien (CDU) und Stefanie Hubig (SPD) führende Landesbildungsministerinnen gehörten, hat angesichts der nun schon vielfach, zuletzt durch PISA dokumentierten Bildungskrise ambitionierte Pläne in ihr eigenes Ergebnispapier geschrieben. Sie will "Bildungsgerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und Inklusion" fördern, die Bildungsübergänge stärken und über messbare Ziele den Bildungserfolg zu erhöhen. Und sie wissen: Für all das brauchen sie gerade jetzt den energischen Ausbau der Ganztagsschule – und eine Verständigung auf dessen Bildungsziele.
Was ein echter Fortschritt wäre. Denn derweil reden viele Landesbildungsministerien zwar viel von Bildung und Ganztag, gehen bei der Umsetzung vor Ort aber gern auf Tauchgang, delegieren die
Gestaltung des Nachmittags per offener Ganztagsschule allein an die kommunalen Schulträger.
Noch steht der finale Koalitionsvertrag nicht, noch kann der Bruch des zweiten Ganztagsversprechens verhindert werden. Bis dahin ist die Misere ein weiteres Argument dafür, die Zuständigkeiten für Bildung und Jugend in einem Ministerium zusammenzulegen. Vielleicht bekommt die Bildung im Ganztag dann endlich auch einmal eine funktionierende Lobby.
In eigener Sache: Bitte helfen Sie jetzt bei der Finanzierung des Wiarda-Blogs

Ich weiß, die Zeiten sind unsicher, und die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich für viele. Ich merke das an der finanziellen Unterstützung meiner Arbeit im Wiarda-Blog. Wenige Tage vor Monatsende stand das Blogbarometer für den März gerade einmal auf gut der Hälfte, der Rückstand wächst von Monat zu Monat. Wenn Sie gern diesen Newsletter und meinen Blog lesen, überlegen Sie doch bitte, ob Sie monatlich ein paar Euro beisteuern können. Ohne jede Verpflichtung. Jeder und jede, wie er oder sie kann. Dann kann der Blog gerade in diesen Zeiten für alle kostenfrei zugänglich bleiben – unabhängig vom Geldbeutel. Vielen herzlichen Dank!
Kommentar schreiben
Wolfgang Kühnel (Sonntag, 06 April 2025 11:51)
"Bildung und Ganztag"
Ist eigentlich gesichert, dass die Art von Ganztagsschulen, die wir tatsächlich haben (nämlich mit Nachmittags-betreuung statt Nachmittagsunterricht) die in Tests gemessenen Resultate bei der Bildung verbessert? Man scheint davon auszugehen wie von einem Axiom. Aber dieser Artikel hier stimmt eher skeptisch, er spricht von einer "Förderfalle" gerade bei den Leistungsschwächeren:
https://www.pedocs.de/volltexte/2023/25786/pdf/ZfPaed_1_2020_Sauerwein_Heer_Warum_gibt_es.pdf
Jan-Martin Wiarda (Sonntag, 06 April 2025 12:08)
Ich bin da ebenfalls skeptisch und schreibe in den nächsten Wochen noch etwas dazu. Beste Grüße!