Warum scheitern jedes Jahr eine Viertelmillion Jugendliche beim Sprung in eine Ausbildung? Und was hat das mit den Schulen zu tun? Ein Interview mit Susan Seeber und Olaf Köller über ein neues Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, die Bedeutung von Identitätsbildung und Berufsorientierung – und echtes Interesse an den jungen Menschen.

Susan Seeber ist Professorin für Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung an der Georg-August-Universität Göttingen und seit 2020 Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK). Olaf Köller ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der SWK. Fotos: Foto: Frank Lemberg. IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, das neue Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) zum Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung ist inklusive Anhängen 209 Seiten lang. Glauben Sie, dass sich das irgendwer komplett durchliest?
Olaf Köller: 70 Seiten davon sind das Literaturverzeichnis, ohne das sind es schon nur noch 140 Seiten.
Jetzt fangen sie an zu handeln.
Köller: Im Ernst: Wir erwarten nicht, dass alle alles lesen. Wir haben eine knackige Zusammenfassung gemacht, und meine Vermutung ist, dass sich unterschiedliche Leute je nach Interesse Unterschiedliches herauspicken werden. Kollegen aus der Englisch-Didaktik werden sich vorrangig mit dem Englisch-Kapitel beschäftigen, die Wirtschaftsverbände primär auf die Berufsvorbereitung schauen, der Blick der Bildungsminister wird sicher der breiteste sein.
SWK-Gutachten sind also mehr wie ein Buffet? Und aus Ihren 29 Empfehlungen sucht sich jeder raus, was ihm schmeckt?
Köller: Oder wie eine Speisekarte. Man wählt aus, was man intellektuell verdauen will.
"Die Lehrkräfte haben teilweise kein Gespür dafür, mit welchen Defiziten viele Schülerinnen und Schüler
aus der Grundschule bei ihnen ankommen."
Was ist denn dann das wichtigste Menü auf der Speisekarte, die entscheidende Aussage, die alle angeht?
Köller: Dass mit dem Startchancen-Programm, das langsam in Gang kommt, jetzt die Gelegenheit ist, die Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler in den Fokus zu rücken. Das gilt für den Übergang von der Kita in die Grundschule, der Gegenstand eines früheren Gutachtens war. Das gilt genauso für die Sekundarstufe I, wenn die Schülerinnen und Schüler auf das Leben nach der Schule vorbereitet werden. Wie verbinden wir Diagnose und Förderung? Wie sichern wir die Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik? Doch wir wollen auch deutlich machen: Das reicht nicht. Ich stehe hier für eine stärkere Förderung in den Naturwissenschaften, Frau Seeber für eine passgenauere Berufsorientierung und Berufsvorbereitung.
Susan Seeber: Jährlich kommen etwa 250.000 Jugendliche neu in den sogenannten Übergangssektor, weil ihnen der direkte Sprung von der Schule in eine Ausbildung nicht gelingt. In Deutschland leben rund zwei Millionen Männer und Frauen zwischen 25 und 34, die keinen Ausbildungsabschluss haben. Es handelt sich um eine Gruppe junger Menschen, die offensichtlich abgeschnitten wird von ihren Berufs- und damit auch Lebenschancen. Um diese Gruppe müssen wir uns besser kümmern und die Frage stellen: Was brauchen die jungen Menschen, damit sie eine Chance auf Teilhabe in unserer Gesellschaft haben und damit sie beruflich ihren Weg gehen können?
Köller: Das größte Problem ist, dass die Lehrkräfte in der Sekundarstufe I teilweise kein Gespür dafür haben, mit welchen Defiziten große Teile der Schülerinnen und Schüler aus der Grundschule bei ihnen ankommen. Nicht zuletzt, weil sie dafür nicht ausgebildet wurden. Wir reden von 25 bis 30 Prozent der Viertklässler, die nur rudimentär lesen, schreiben und rechnen können. In vielen weiterführenden Schulen gibt es keine Kultur und keine Zeit, sie dort abzuholen, wo sie wirklich stehen. Es gibt die curricularen Vorgaben, es gibt Schulbücher, die bis Schuljahresende durchgepeitscht werden müssen. Viele Lehrkräfte arbeiten den Lehrplan am Anfang der Sekundarstufe I ab, angepasste Förderprogramme sind immer noch seltene Ereignisse in den Schulen.
"Über die Kommunikationsprobleme zwischen
abgebender und aufnehmender Schule diskutieren wir
seit Jahrzehnten. 'Der Datenschutz!', heißt es dann im Zweifel. Nein, hier kommen wir nicht weiter."
Ist das eine Frage des fehlenden Gespürs – oder eher der fehlenden Kommunikation zwischen Grundschule und weiterführender Schule?
Köller: Über die Kommunikationsprobleme zwischen abgebender und aufnehmender Schule diskutieren wir seit Jahrzehnten. "Der Datenschutz!", heißt es dann im Zweifel. Nein, hier kommen wir nicht weiter. Darum müssen wir unseren Fokus auf die Sekundarstufe I selbst legen – und die dort nötigen Schritte. Das fängt an mit einer treffsicheren Lernausgangslagendiagnostik direkt nach dem Ankommen und geht weiter mit der darauf abgestimmten systematischen Förderung. Hierfür gibt es längst Vorbilder wie das riesige BISS-Programm, "Bildung in Sprache und Schrift", das Strategien und Konzepte zur Diagnose und Förderung entwickelt hat. Die müssen wir konsequent in die Schulen bringen.
Im Grundschul-Gutachten betont die SWK die überragende Bedeutung der Grundfertigkeiten in Deutsch und Mathematik. Für die Sekundarstufe gehen Sie darüber hinaus, bringen etwa die Bedeutung von Englisch und den Naturwissenschaften in Spiel. Trotzdem könnte man Ihnen vorwerfen, die Bedeutung der übrigen Fächer kleinzureden.
Köller: Wir konzentrieren uns auf Fächer, für die seit über 20 Jahren Evidenz vorliegt, dass sie Ausbildungserfolg vorhersagen können. Was sind die Kompetenzen, die junge Menschen für ihre berufliche, gesellschaftliche, soziale, kulturelle Teilhabe unverzichtbar benötigen? Ohne die keine Erschließung der Welt möglich ist? Die Forschung zur überragenden Bedeutung der Bildungssprache, der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Selbstregulation reicht zurück zum Gutachten des großen Bildungsforschers Jürgen Baumert 1997 zum Sinus-Programm oder der Vorbereitung der KMK-Bildungsstandards 2003 durch die damalige, von Eckhard Klieme geleitete Kommission.
Seeber: Natürlich spielen andere Fächer eine wichtige Rolle. Der Sportunterricht etwa kann einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration leisten, den Schülerinnen und Schülern Impulse geben, sich selbst zu hinterfragen: Was sind meine Interessen, was meine Fähigkeiten? Kinder und Jugendliche werden dort angehalten, sich Ziele zu setzen. Leistungsbereitschaft, Teamgeist und Verantwortungsübernahme werden gefördert. Das sind Fähigkeiten, die auch in der beruflichen Orientierung und in der Arbeitswelt eine wichtige Rolle spielen. Insofern haben auch andere Fächer als die unseres Gutachtens positive Auswirkungen auf die Berufsorientierung.
Köller: Außerdem fordern wir mit keinem Wort, den Fächerkanon einzuschränken oder die Stundentafeln zu verändern.
Sie fordern aber eine Kompetenzstandüberprüfung in den Hauptfächern alle zwei Jahre. Das verschiebt die Gewichte – und bindet Ressourcen in den Schulen.
Köller: Hamburg und andere Bundesländer praktizieren das längst, und beim Blick etwa auf den IQB-Bildungstrend kann keiner behaupten, Hamburg sei mit diesem Vorgehen nicht erfolgreich. Die ganze Republik schaut inzwischen auf Hamburg, auf die Verzahnung von Diagnose und Förderung im Ganztagsbetrieb, auf die systematische Leseförderung und auf die Konsequenz, mit der zusätzliches Geld und Personal auf die Brennpunktschulen konzentriert werden. Es gibt also Beispiele, wie es funktionieren kann, und was die Lernausgangslagenerhebung angeht, so glaube ich: Die Lehrkräfte in Hamburg wären mittlerweile eher irritiert, wenn es die nicht gäbe.
"Wer bin ich? Zu welcher sozialen Gruppe gehöre
ich und will ich gehören? Was soll aus mir werden?
Wo sehe ich meine berufliche Zukunft?"
Das zweite große Thema neben dem fachlichen Lernen ist in Ihrem Gutachten die Identitätsentwicklung. Das klingt so freundlich, aber verlangen die Betriebe nicht in erster Linie, dass die Jugendlichen die nötige Disziplin lernen, pünktlich sind und ausführen, was ihnen aufgetragen wird?
Seeber: Natürlich spielen in der Ausbildung die sogenannten Arbeitstugenden eine Rolle und werden von den Betrieben eingefordert. Aber uns geht es um mehr, um die Begleitung der Jugendlichen bei den eben schon angesprochenen großen Fragen: Wer bin ich? Zu welcher sozialen Gruppe gehöre ich und will ich gehören? Was soll aus mir werden? Wo sehe ich meine berufliche Zukunft?
Köller: Diese Begleitung ist besonders wichtig für Schülerinnen und Schüler, die Probleme in der Schule haben, teilweise mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die aus armutsgefährdeten Familien stammen, die zugewandert sind, die Ausgrenzungserfahrungen machen. Hier besteht die Gefahr, dass sich problematische soziale Gruppenidentitäten entwickeln. Man gehört zu den Coolen, die die Schule schwänzen, zu spät kommen oder den Unterricht stören. Solche Gruppenidentitäten unterlaufen das schulische Lernen und die Berufsvorbereitung. Das können wir auch auf die persönlichen Identitäten herunterbrechen. Auf das Agieren aufgrund von Stereotypisierungen.
Was meinen Sie damit?
Köller: Wenn Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrkräften hören, beabsichtigt oder nicht, dass sie ohnehin nichts können. Wir wissen, dass an Brennpunktschulen die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen von den Pädagogen oft systematisch unterschätzt wird. Irgendwann glauben die Schülerinnen und Schüler dann selbst: Ich bin arm, ich komme aus einem anderen Land, ich bin nicht schlau genug, aus mir wird nichts. Dem kann man mit relativ einfachen Maßnahmen entgegenwirken.
Und wie?
Köller: Indem Lehrkräfte ein enges Vertrauensverhältnis mit ihren Schülerinnen und Schülern aufbauen. Indem sie die Jugendlichen wertschätzen, ihnen die Gelegenheit geben, schon bei kleinen Dingen ihre eigene Selbstwirksamkeit zu erleben. Das muss nicht im Fachunterricht sein, das kann auch im Kreativen passieren, beim Sport, beim Vorführen der eigenen Talente.
Mehr Wertschätzung für Hip-Hop und Sprayerkultur?
Köller: Von mir aus. Es geht um das Sichtbarmachen von Erfolgserlebnissen auf Seiten der Kinder und Jugendlichen.
Und das lernen Lehrkräfte nicht ohnehin in ihrer Ausbildung?
Köller: Sie haben dafür oft zu wenig Lerngelegenheiten. Wir haben in der Psychologie eine lange Forschungstradition zu Erwartungseffekten in der Schule, basierend auf dem Pygmalion-Effekt, den wir von George Bernard Shaw kennen. Es kommt darauf an, dass Lehrkräfte sich dieser Prozesse bewusster sind, dass sie von Anfang an sensibilisiert werden für die Mechanismen, wie ungünstige soziale und personale Identitäten entstehen und vermieden werden können.
"Bei der Berufswahl sind die Schülerinnen
und Schüler nicht mit zu wenig
Informationen
und Angeboten konfrontiert, sondern genau mit dem Gegenteil, mit einem
Overflow."
Und Jugendliche mit einer gesunden Identitätsentwicklung tun sich dann auch bei der Berufswahl leichter, Frau Seeber?
Seeber: Das ist ein grundlegender Faktor, ja. Aber es braucht mehr. Vor allem Orientierung. Bei der Berufswahl sind die Schülerinnen und Schüler nicht mit zu wenig Informationen und Angeboten konfrontiert, sondern genau mit dem Gegenteil, mit einem Overflow. Schon die Lehrkräfte wissen nicht, was aus diesem ganzen Bauchladen an Maßnahmen in den verschiedenen Bundesländern für ihre Schülerinnen und Schüler wirklich passt. Allein die Zahl der außerschulischen Akteure ist enorm, und sie alle haben ganz eigene Interessen. Darum müssen wir dringend mehr Struktur in die Landschaft bekommen. Was hilft wem? In einem zweiten Schritt müssen die Schulen besser in der Begleitung der Angebote werden.
Können Sie das konkret machen?
Seeber: Generell kann man sagen, dass Maßnahmen verpuffen, wenn sie nicht mit den Schülerinnen und Schülern hinterher besprochen werden. Ob das die Schüler-Labore sind, in denen Jugendliche die MINT-Berufe kennenlernen können. Wenn die dort gemachten Erfahrungen nicht in den Unterricht eingebettet werden, wenn man dort nicht über mögliche Berufe und Optionen redet, bleibt wenig übrig für die Berufsorientierung. Oder die Betriebspraktika in den oberen Klassenstufen, die kaum einen Effekt haben, wenn sie nicht systematisch vor- und nachbereitet werden. Dazu gehört jedoch auch, dass die Lehrkräfte genauer hinschauen, in welchen Unternehmen die Jugendlichen gut betreut und angeleitet werden – und ob es sich lohnt, da wieder Schüler hinzuschicken. Im Zweifel gilt: lieber ein paar weniger Angebote pro Schüler und Klasse und dafür besser begleitet und ausgewertet.
Eine Online-Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) unter Jugendlichen kurz vor dem Schulabschluss ergab gerade, dass sie Besuche im Berufsbildungszentrum und Eignungstests am Computer am wenigsten hilfreich finden – doch zählt beides zu den obligatorischen Maßnahmen an vielen Schulen.
Seeber: Ich halte das für ein ziemlich realistisches Stimmungsbild. Die Jugendlichen machen ihre Berufswahltests. Doch wenn deren Ergebnisse nicht vernünftig besprochen werden, bleibt bei ihnen das Gefühl: Das hat mir überhaupt nichts gebracht.
Köller: Was nicht heißt, dass die Tests schlecht sind.
Seeber: Nein, aber dass man sie einbetten muss in Unterricht und Schule.
Am deprimierendsten an Ihrem Gutachten finde ich die Aussagen über das sogenannte Übergangssystem, in dem, Sie sagten es am Anfang, vor allem die Jugendlichen landen, die bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz leer ausgehen. Es fehlt in den meisten Ländern an grundlegenden Daten zur Situation der Jugendlichen, es gibt kaum Erfolgsindikatoren oder Längsschnitt-Untersuchungen. Will man es nicht besser wissen?
Seeber: Zumindest kann man es als leichtfertig im Umgang mit Ressourcen bezeichnen, dass man wenig darüber weiß, welche Ergebnisse erreicht werden, obwohl vergleichsweise viele Mittel in diesen Bereich des Bildungssystems hineinfließen. Hinzu kommt, dass bei den vielfältigen Angeboten im Übergangssektor oft nicht einmal klar ist, wo die hinführen sollen. Unzureichende Zielklarheit erschwert es, die Jugendlichen in ein passendes Angebot zu integrieren. Beim Übergang findet eher punktuell, jedoch selten eine systematische Diagnostik statt: Welcher Schüler, welche Schülerin braucht welche Unterstützung? Wenn ich schuldistante Jugendliche habe, die über Tage und Wochen nicht im Unterricht auftauchen, kann ich diese nicht einfach in eine rein schulische Übergangsmaßnahme stecken, weil ich dann vermutlich dafür sorge, dass sie noch weniger kommen. Vielleicht habe ich stattdessen Partner in einem Betrieb, die bereit sind, solchen Jugendlichen Gelegenheiten zum praktischen Ausprobieren zu geben, damit sie erste Erfolgserlebnisse haben. Wichtig ist auch: Wenn Jugendliche es aus dem Übergangssystem in eine Ausbildung schaffen, brauchen sie oft weiter Unterstützung. Denn wir wissen, dass in dieser Gruppe die Abbruchrisiken besonders hoch sind.
"Das war alles mit viel Aufwand und Schmerz
verbunden, aber der Erfolg gibt Hamburg Recht."
Hand aufs Herz, Frau Seeber: Müsste man nicht eigentlich das Übergangssystem von Grund auf neu bauen?
Seeber: Einige Bundesländer haben genau das in Angriff genommen. Klar, das hat viel zu lange gedauert, wenn man bedenkt, dass wir seit bald 20 Jahren regelmäßig auf die Schieflage hinweisen. Aber Hamburg zum Beispiel hat genau diese dringend nötige Schnittstelle zwischen allgemeinbildenden Schulen und beruflichen Schulen geschaffen, trotz strenger Datenschutzauflagen. Jetzt gelingt es, die Schülerinnen und Schüler mit Einbindung der Jugendberufsagenturen zu erfassen und die Verlorengegangenen wieder ins System hineinzuholen. Die Angebote des Übergangssektors sind klar strukturiert. Jugendliche ohne regulären Ausbildungsplatz erhalten danach, wenn Bewerbungen erfolglos blieben, die Gelegenheit zu einer geförderten Ausbildung, während der immer wieder versucht wird, sie in ein reguläres betriebliches Ausbildungsverhältnis überzuleiten. Das war alles mit viel Aufwand und Schmerz verbunden, aber der Erfolg gibt Hamburg Recht. Andere Bundesländer wie Hessen ziehen nach und strukturieren den Übergangssektor neu und übersichtlicher, jedoch mit einem anderen Konzept als Hamburg.
Hamburg macht es wie immer besser als die anderen?
Köller: Hamburg ist ein Stadtstaat, und Stadtstaaten tun sich aufgrund ihrer Struktur leichter als Flächenländer, das gehört zur Fairness dazu.
Seeber: Schon richtig, aber wir haben andere Stadtstaaten, bei denen das nicht so gut gelingt.
Frau Seeber, Herr Köller, ist gerade eigentlich der richtige Zeitpunkt für die Veröffentlichung Ihres Gutachtens? Haben Sie keine Sorge, dass Ihre Botschaft von den Koalitionsverhandlungen übertönt wird?
Köller: So ein Gutachten ist ein langfristiger Prozess, und der Zeitpunkt der Veröffentlichung wird mit der Bildungsministerkonferenz abgestimmt. Vorher muss das Papier noch durch die Gremien gehen. Insofern können wir uns nicht immer davon abhängig machen, wie weit gerade die Koalitionsverhandlungen gediehen sind oder ob der US-Präsident mit Zollerhöhungen die Weltwirtschaft gegen die Wand fährt. Außerdem schreiben wir unsere Gutachten nicht in erster Linie, um mediale Aufmerksamkeit zu bekommen.
Seeber: Vielleicht ist gerade nicht der öffentlichkeitswirksamste Zeitpunkt. Aber bildungspolitisch ist die Gelegenheit günstig, an den weiterführenden Schulen nimmt das Startchancen-Programm jetzt Fahrt auf. Am Ende zählt vor allem, was für die Schülerinnen und Schüler herauskommt.
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Wolfgang Kühnel (Freitag, 11 April 2025 13:21)
Also niemand will kommentieren, dann versuche ich es mal. Die neuen Empfehlungen zeigen mir eine gewisse Hilflosigkeit, weil die Kommission offenbar auch nicht weiß, welche Rezepte gegen die festgestellte Misere helfen könnten. Man flüchtet sich -- wie so oft -- in Formulierungsakrobatik:
"Empfehlung 1: Für die Bildungssprache Deutsch basale und unverzichtbare funktionale Kompetenzen ausweisen.
Empfehlung 5: Für Mathematik unverzichtbare funktionale Kompetenzen und basale Kompetenzen als ihre Voraussetzung ausweisen.
Empfehlung 9: Unverzichtbare funktionale naturwissenschaftliche Kompetenzen ausweisen.
Empfehlung 14: Den Fokus auf die Erreichung der unverzichtbaren funktionalen Englischkompetenzen stärken.
Empfehlung 16: Für Digital Literacy unverzichtbare funktionale Kompetenzen definieren und ausweisen.
Empfehlung 17: Sowohl Informatik als auch den Unterricht aller Fächer gezielt zur breiteren Erreichung der unverzichtbaren funktionalen digitalen Kompetenzen weiterentwickeln."
Es folgen Empfehlungen zur Identitätsentwicklung und zur Berufsorientierung. Jedenfalls für Deutsch und Mathematik steht dann noch eine Auswahl von dem, was ohnehin in allen KMK-Standards und Bildungsplänen drinsteht. Das gilt dann als basal und unverzichtbar. Dabei wurde schon vorher immer von "Mindeststandards" geredet.
Da sieht man, wie vorgegangen wird: mit schematischen Formulierungen. Plötzlich gibt es unverzichtbare Kompetenzen, funktionale Kompetenzen und damit offenbar auch verzichtbare oder nicht funktionale Kompetenzen. Ein Jonglieren mit Wörtern, das an die Formulierung eines unverbindlichen Kommuniqués nach einer internationalen Konferenz erinnert. Was alles basal und unverzichtbar ist, dürfte den Lehrern eigentlich schon vorher klar gewesen sein. Das Problem ist, dass das nicht bei den Schülern anzukommen scheint. Und eine Einigkeit über Gegenmaßnahmen von Bremen bis Bayern wird es in der KMK auch nicht geben. Aber Sonntagsreden.
Laubeiter (Montag, 14 April 2025 14:28)
Die Familien, die arm sind und/oder Staatsbürger anderer Länder sind, gehen unterdurchschnittlich oder gar nicht zur Wahl, daher ist die Verteilung von Geld im Bildungssektor eher an Wünschen Wohlhabender und Wahlberechtigter orientiert, oder? Für mich ist das Sprechen über die Hilfen für Kinder aus armen oder nicht wahlberechtigten Familien paternalistisch, als ginge es um staatliche Wohlfahrt für Legas- und Aristmatheniker. Ich finde es gut, dass Identitäten von der Wissenschaft betrachtet werden. Wenn der mainstream Erwachsene mit hybriden Identitäten (deutschslawisch, deutscharabisch, deutschafrikanisch) ausgrenzt, ist ein Desinteresse von Jugendlichen an Schule vielleicht auch ein seltsamer Versuch, dem mainstream was entgegenzusetzen?