Das Verfahren habe an "durchgreifenden Mängeln" gelitten, entschieden die Richter und sprechen von einer "bedenklichen persönlichen Nähe" zwischen beteiligten Akteuren.
Das Löwengebäude der Martin-Luther-Universität Halle-Witteberg am Universitätsplatz. Paul Muster: "Martin Luther Universität Halle-Wittenberg - Universitätsplatz - panoramio.jpg", CC BY 3.0.
"WANN IST ENG ZU ENG?", fragte ich Ende August und meinte den Streit um die Neubesetzung einer Politikprofessur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jetzt hat das Verwaltungsgericht Halle entschieden: Das Berufungsverfahren war fehlerhaft. Es ging zu eng zu. Und deshalb muss die MLU die Auswahlentscheidung wiederholen.
Die Auseinandersetzungen um die Professur "Regierungslehre und Policyforschung" beschäftigt die Hallenser Wissenschaftsszene seit über einem Jahr, und nicht nur diese: In den sozialen Medien wurde der Eklat mit eigenem Hashtag ("#HausberufungHalle") versehen, führende Politikwissenschaftler meldeten sich öffentlich zu Wort, es folgten bundesweite Schlagzeilen, der Landtag von Sachsen-Anhalt stellte Nachforschungen an. Im Dezember 2019 reichte ein unterlegener Mitbewerber eine sogenannte Konkurrentenklage ein, über diese wurde jetzt entschieden.
Eine "Hausberufung", befanden die Richter, sei das, was in Halle geschehen sei, nicht gewesen, sonst aber habe das Auswahlverfahren an "durchgreifenden Mängeln" gelitten.
"In erheblichem
Umfang Beziehungen"
Der wichtigste: Ein Mitglied der Berufungskommission, das laut Gericht "maßgeblich" am Verfahren mitgewirkt habe, hätte gar nicht mitwirken dürfen. Es handelt sich um die heutige Dekanin der Philosophischen Fakultät I, die laut Gericht "im erheblichen Umfang Beziehungen" zum Berufenen gehabt hätte. So hätten beide bei derselben Wissenschaftlerin habilitiert: der bisherigen Inhaberin eben jener Regierungslehre-Professur, die neu besetzt werden sollte. Es liege "eine bedenkliche persönliche Nähe" vor. Ein "objektiver Dritter", so die Richter, rechne damit, "dass der akademischen Lehrerin am Fortkommen ihrer Habilitanden gelegen ist, weil sie von deren Eignung für ein Professorenamt überzeugt ist und dass sich diese Beurteilung auch auf andere Habilitanden derselben akademischen Lehrerin überträgt." Hinzu komme, dass Dekanin wie Berufener lange "an demselben kleinen Universitätsinstitut" tätig gewesen seien – nämlich dem, an dem die Professur ausgeschrieben war.
Die Richter trafen ausdrücklich keine Aussage darüber, ob sich die Dekanin in dem Verfahren tatsächlich parteiisch zugunsten des Berufenen verhalten habe, aber erweckten die Umstände "bei einem objektiven Betrachter durchaus den Eindruck eines gewissen Zusammenwirkens" und zeigten die Gefahr, dass der Berufene deshalb milder beurteilt worden sein könnte als seine Mitbewerber.
Dieser Eindruck, fügten die Richter hinzu, werde durch die vorgelegte Dokumentation der Berufungskommission als auch durch die Verfahrensführung insgesamt noch verstärkt. So habe, nachdem die von der Berufungskommission vorgelegte Berufungsliste zunächst vom erweiterten Fakultätsrat abgelehnt worden war, eine Nachfrage beim Rektorat ergeben, dass die Abstimmung rechtlich fehlerhaft war und wiederholt werden musste.
Keine einheitlichen
Bewertungsmaßstäbe angelegt
Das Gericht: "Für einen objektiven Dritten erstaunlich ist allerdings, dass eine solche Nachfrage gerade im hier zu betrachtenden Berufungsverfahren erfolgt ist, während in anderen Verfahren das auf fehlerhafte Weise gefundene Beschlussergebnis akzeptiert wurde." Bemerkenswert sei unter anderem auch gewesen, dass nicht der Vorsitzende der Berufungskommission, sondern die Dekanin bei der anschließend neu angesetzten Sitzung des erweiterten Fakultätsrates den in der ersten Abstimmung durchgefallenen Besetzungsvorschlag verteidigt hatte.
Weil bei mindestens einem Mitglied der Berufungskommission Befangenheit vorgelegen habe, müsse der Frage, ob dasselbe auch für weitere Kommissionsmitglieder gelte, gar nicht mehr nachgegangen werden, befand das Gericht. Zur Frage der Befangenheit komme indes hinzu, dass die Auswahlentscheidung auch "inhaltlich rechtlich" zu bestanden sei. Vor allem fehle es an einer ausreichend dokumentierten Begründung der Berufungsliste, die Protokollierung sei nicht korrekt abgelaufen.
Und die Liste der kritisierten Punkte ist noch länger: Die Berufungskommission habe bei der Bewertung der von den Bewerbern eingeworbenen Drittmitteln keine einheitlichen Maßstäbe angelegt, auch sei das Ergebnis der Probevorträge nicht hinreichend dokumentiert und die Bewertungen seien nicht nachvollziehbar dargestellt worden. Schließlich seien auch die sogenannten Laudationes der auf der Berufungsliste verzeichneten Bewerber fehlerhaft gewesen – zugunsten des Berufenen, unter anderem weil darin auf nicht in den Bewerbungsunterlagen enthaltene Leistungen verwiesen worden sei.
Nach dem Bekanntwerden der Gerichtsbeschlusses gab die MLU eine Pressemitteilung heraus, die im ersten Satz fast trotzig klingt – so, als habe man nicht gerade eine herbe juristische Niederlage erlitten. "Das Gericht stellt in seinem Beschluss fest, dass der Kandidat, an den der Ruf auf die Professur ergangen ist, geeignet ist und es sich bei dem Verfahren nicht um eine unzulässige Hausberufung handelt." Erst danach räumt die MLU ein, dass dass Gericht auf "verschiedene Verfahrensfehler" hinweise, "die einen Fortgang der Berufung in der vorliegenden Form verhindern."
Die Dekanin, der die Richter den Eindruck von Befangenheit attestierten, wollte sich auf Nachfrage nicht zu der Entscheidung äußern.
"In der Konsequenz etwas überraschend",
findet der Rektor
Der erfolgreiche Konkurrentenkläger, der zweitplatzierte Politikwissenschaftler Christian Stecker, zeigte sich naturgemäß erfreut. "Mir ist es wichtig, ins Fach zu kommunizieren, dass hier kein Methoden- oder Kriterienstreit ausgefochten und nun in eine bestimmte Richtung entschieden wurde." Nach seinem Dafürhalten habe "die Gegenseite" versucht, zuletzt diesen Eindruck zu erwecken, "um die eigene Position als eine unter Druck geratene, aber grundsätzlich legitime und wissenschaftliche darzustellen".
Doch das Gericht habe keinesfalls entschieden, welche Berufungskriterien – etwa die Höhe von Drittmitteln – grundsätzlich einschlägig sein sollten, sondern "grundsätzliche Dinge" gerügt wie den offenkundigen Eindruck von Befangenheit, die uneinheitliche Verwendung von Kriterien und erhebliche Dokumentationsdefizite. "Die Entscheidung, welche Berufungskriterien einschlägig sein sollten, bleibt weiter der anhaltenden Debatte um das Selbstverständnis unseres Faches und natürlich den Universitäten vorbehalten."
Die Universität kann gegen den Beschluss innerhalb von zwei Wochen Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht von Sachsen-Anhalt einreichen.
MLU-Rektor Christian Tietje, der die Auswahlentscheidung zuletzt vor dem Landtag verteidigt hatte, sagte die Universität respektiere den Gerichtsbeschluss natürlich, "wir lernen daraus". Dass die Dekanin laut Richtern nicht am Verfahren hätte mitwirken dürfen, sei "in der Konsequenz etwas überraschend. Denn die Berufungskommission hat sich an die geltenden DFG-Standards zum Umgang mit möglichen Befangenheiten gehalten." Und auch wenn die Geschichte jetzt bundesweit Schlagzeilen mache: So selten seien derartige Konkurrentenstreits ja nun auch nicht.
Der Versuch, die Bedeutung des Falls herunterzuspielen, ist aus MLU-Sicht verständlich. Trotzdem hat die Entscheidung bundesweite Signalwirkung: Es reichen die persönlichen Beziehungen zwischen Berufenden und Berufenen, um ein Verfahren zu eng zu machen. Ob sich alle Beteiligten dann untadelig verhalten oder nicht, spielt keine Rolle. Der Eindruck einer möglichen Befangenheit reicht.
Die MLU werde jetzt umgehend entscheiden, wie es weitergeht, sagt Tietje. Grundsätzlich gebe es zwei Möglichkeiten: die Auswahlentscheidung wird unter den vorhandenen Bewerbern wiederholt. Oder die Professur komplett neu ausgeschrieben. Angesichts des bisherigen Ärgers ist sicherlich der zweite Schritt der erfolgsversprechendere.
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McFischer (Montag, 05 Oktober 2020 10:20)
Interessante Begleitung dieses fast schon idealtypischen Falles akademischer Karriereplanung, zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Nicht immer wird es so explizit deutlich, aber die Diskrepanz zwischen 'wissenschaftlicher Qualität' einerseits und die vielfältigen Ränkespielen andererseits in Berufungsverfahren ist nicht ungewöhnlich. Viele Ausschreibungen sind auf den/die gewünschte Bewerber/in zugeschnitten, gerne werden in den Kommissionen die gewünschten BewerberInnen durchgedrückt... nicht immer klappt das. Dann ist allerdings die Konsequenz - wie offenbar auch hier in Halle - dass die Verfahren lange blockiert werden.
Davon abgesehen: auch die ewigen Berufungsverhandlungen (zumeist durch bekannte Kandidaten mit fester Professur) sind größtenteils absurd; gerne wird monatelang verhandelt, um dann doch an der bisherigen Uni zu bleiben bzw. dort nachzuverhandeln.
René Krempkow (Montag, 05 Oktober 2020 14:12)
Ja, der Beitrag zeigt schlaglichtartig die Probleme der derzeitigen Praxis in Berufungsverfahren, welche auch m.E. für die deutlich schlechteren Chancen ausländischer Nachwuchsforschender auf eine Lebenszeitprofesssur in Deutschland mitverantwortlich sind. Ähnlich gilt dies für die Chancen von Nichtakademikerkindern auf eine Professur in Deutschland (siehe dazu die Zahlen in: www.researchgate.net/publication/340861684).
Wie es aber auch besser ablaufen und könnte und sollte, zeigen zwei Bücher, anwendungsnah und faktenbasiert: Becker, F. (2019): Akademisches Personalmanagement, Bd. 2: Berufungsverfahren...; und Peus, C. u. a. (2015): Personalauswahl in der Wissenschaft: Evidenzbasierte Methoden und Impulse für die Praxis (Rezension in: www.researchgate.net/publication/322231654).
McFischer (Dienstag, 06 Oktober 2020 09:47)
@Krempkow: Danke für die Literaturhinweise.
Ja, es gibt sicherlich auch Beispiele, wie es besser laufen kann, mit transparenten Verfahren, wirklich offener Auswahl und einem respektvollem Umgang mit allen BewerberInnen.
Ich vermute, dass die Art der Berufungsverfahren auch sehr vom sektoralen Bewerbermarkt abhängt: wo ein Überangebot an BewerberInnen wenigen Stellen gegenübersteht (Geschichtswissenschaften, Kulturwissenschaften...) ist es sicherlich anders als in den Ingenieurs- oder Naturwissenschaften.
Hippokrates (Dienstag, 06 Oktober 2020 10:56)
@Krempkow @McFischer Ich habe einige Jahre in einer großen deutschen Medizinfakultät gearbeitet und kann Ihnen versichern, dass es dort in aller Regel genau so abläuft wie in Halle.
Interessant ist die erste Ableitung: Wird es wenigstens langsam besser, oder eher noch schlechter? Nach meinem Eindruck ist das zweite der Fall: Intrinsisch motivierte Forscher spielen viel seltener falsch als Politiker-Typen (egal ob sie in Unileitungen sitzen oder auf W3-Stellen). Und die "Exzellenzinitiative" hat die Macht der Politiker-Typen weiter gestärkt. Auch Projekte wie die Berlin University Alliance wirken in dieselbe Richtung. Leider.
Lehrerkind (Dienstag, 06 Oktober 2020 16:16)
Meiner Erfahrung nach wird in den häufigsten Fällen schon vor einer möglichen Ausschreibung sondiert und festgezurrt, wer die Professur erhalten soll. Ausschreibungs-, Auswahl- und Besetzungsverfahren sind dann nur noch Formsache.
René Krempkow (Dienstag, 06 Oktober 2020 17:22)
@McFischer: Ja, z.B. in den Ingenieurwissenschaften kann man es sich deutlich weniger "leisten", einen großen Teil der Bewerber*innen (und zuvor schon viele der an der Wissenschaft Interessierten) mit intransparent erscheinenden Berufungverfahren zu vergraulen, in denen die Nähe zu bestimmten Personen oder z.B. nicht in den Bewerbungsunterlagen aufgeführte Leistungen möglicherweise ausschlaggebend sind für einen Ruf. Denn dort kommen x-fach weniger Bewerber*innen auf eine Professur als z.B. in Sozialwissenschaften (ausführlicher zu statistischen Berufungschancen in den Fächergruppen s.: www.researchgate.net/publication/320383818).