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Der Ego-Föderalismus

Warum das "Startchancen"-Programm vermutlich nicht die erhoffte Bildungsrevolution wird und warum das nicht die Schuld der Bundesbildungsministerin ist.

Kann sie doch noch zur institutionellen Verkörperung eines neuen Bildungsföderalismus werden? Die KMK und ihr Sekretariat in Berlin (links) und Bonn. 

DASS ES SO nicht weitergeht in der bundesdeutschen Bildungspolitik, ist eine seit Jahren wiederholte und immer richtige Feststellung. Marode, oftmals schlecht ausgestattete Schulgebäude, nachlassende Schülerleistungen durch fast alle Milieus und ein Fünftel jeden Jahrgangs, das nicht richtig lesen und schreiben kann. Je stärker die Bildungschancen von der Herkunft abhängen, desto mehr wird eine Bildungsfinanzierung, die nicht nur insgesamt unzureichend ist, sondern fast ausschließlich nach dem Gießkannenprinzip erfolgt, zum Ausdruck bildungspolitischen Versagens.

 

Zur sozialen Schieflage kommt ein deutschlandweiter Lehrkräftemangel, der inzwischen so gewaltig ist, dass es, ohne voreiliger Hysterie verdächtig zu werden, bald gerechtfertigt ist, wie Georg Picht Anfang der 60er Jahre wieder von einer Bildungskatastrophe zu sprechen. Die Ursachen für die Misere sind vielfältig. Ganz oben auf der Liste stehen eine alternde, auf die Absicherung des Heute fokussierte Gesellschaft, die der Bildung nicht die politische Priorität einräumt, wie es die Generationengerechtigkeit erfordern würde. Und eine Bildungspolitik, der Konzeptionsfähigkeit, Koordination und Vorausschau weitgehend abhanden gekommen sind. Falls sie sie jemals hatte. 

 

Dass es so nicht weitergeht in der bundesdeutschen Bildungspolitik, ist zugleich eine Feststellung, die seit Jahren folgenlos geblieben ist. Weil zur Bewältigung fast aller Probleme ein wirklich länderübergreifender Ansatz und damit eine grundsätzliche Reform des Bildungsföderalismus nötig wäre. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat zwar ein inhaltlich durchaus beachtliches Bildungsabkommen beschlossen, es aber – vorrangig aus Gründen der einfacheren Durchsetzbarkeit – nicht in einen Staatsvertrag gegossen.

 

Am Ende schaut doch jedes
Bundesland
vor allem auf sich selbst

 

Und solange die Gremien- und Entscheidungsstrukturen in der KMK ebenso wenig reformiert sind wie ihre Verwaltung, das sogenannte Sekretariat, schaut am Ende doch wieder jedes Bundesland vor allem auf sich selbst und seine eigenen Interessen. Das Klein-Klein bleibt, die Gemeinsamkeiten erschöpfen sich in einem mühsamen Vorantrippeln, das – selbst wenn es in die richtige Richtung geht – nicht in einer Zeit sozialer und technologischer Umwälzungen passt. Denn mit diesen ändern sich auch Richtung und Herausforderungen so schnell, dass nur in sich stimmige, zur Adaption fähige Entscheidungsinstanzen zu einer föderalen Bildungspolitik in der Lage sein werden, für die lange Linien und Reaktionsschnelle keine Widersprüche sind. 

 

Ein aktuelles Beispiel für das Klein-Klein in der Bildungspolitik bei gleichzeitigem Fehlen eines ausreichend entwickelten gesamtstaatlichen Imperativs ist die Debatte um das Startchancen-Programm, das die Ampelkoalition versprochen hat. In den vergangenen Monaten haben die Länder viel Zeit dafür aufgebracht, eine einheitliche Linie zu finden, mit der sie die Verhandlungen mit dem Bund führen wollen. 

 

Das Problem ist dabei keineswegs das Eckpunkte-Papier zu inhaltlichen Ausgestaltung, das die Bildungsstaatssekretäre von Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ausgearbeitet haben. Im Gegenteil, es ist sogar vom Inhalt her gedacht enthält viel Richtiges. Zum Beispiel dieses: "Es werden in den Ländern sozialindikatorengestützt und kriteriengeleitet die Schulen ausgewählt, in denen im Sinne der Ziele dieses Programmes ein besonderer Handlungsbedarf besteht. "

 

Diese Ziele sind: die Verbesserung von Bildungs- und Teilhabechancen, die Verbesserung des Lernens, die Persönlichkeitsentwicklung und die sozialen Stabilität der Schülerinnen und Schüler der rund 4000 teilnehmenden Schulen. Ein wichtiger Fokus soll dabei das Erreichen "von Mindeststandards aller Schülerinnen und Schüler aller Schularten in den Bereichen der sprachlichen und mathematischen Grundbildung sowie der sozialen Kompetenzen im Programmzeitraum" sein. So dass der Anteil der Schüler, die die Mindeststandards verfehlen, in den "Startchancen"-Schulen innerhalb von zehn Jahren halbiert werden soll. Und für jede einzelne Schule sollen diese Ziele konkret auf ihre Situation heruntergebrochen und so so formuliert werden, "dass ihre Erreichung systematisch und länderübergreifend evaluiert werden kann". Entsprechende Indikatoren sollen dafür entwickelt und vereinbart werden.

 

Die Dominanz der
Gießkanne

 

Klingt alles sehr gut. Würde das Narrativ des gemeinsamen bildungspolitischen Aufbruches nicht genau an der Stelle enden, an der es um die konkrete Verteilung der Bundesmittel geht. Wie zuerst der Table Media berichtete, würde nach den vorläufigen Vorschlägen der Vierer-Gruppe der Großteil des Geldes wieder per Gießkanne in die Länder fließen, also wie bisher meist einfach pro Kopf der Bevölkerung. Obwohl die Ampel Anderes besprochen hat.Und obwohl sich praktisch alle Bildungsexperten einig sind: Ein Bund-Länder-Programm speziell für Schulen in sozial schwierigen Lagen, das alle Bundesländer gleich behandelt, ist ein besonders großer Widerspruch in sich, denn die Schulen in sozialen Lagen sind ebenso wie sozial benachteiligte Schüler keineswegs gleichmäßig über Regionen und Bundesländer verteilt.

 

Trotzdem sehen die Pläne vor, dass für zwei der drei "Startchancen"-Säulen der Bundesanteil ohne Rücksicht auf die soziale Situation in den Länder gezahlt würde. Zum einen der Schulbau. Im Ampel-Koalitionsvertrag ist von einem "Investitionsprogramm für moderne, klimagerechte, barrierefreie Schulen mit einer zeitgemäßen Lernumgebung und Kreativlaboren" die Rede. Die Länder wollen 60 Prozent der Programmmittel dafür ausgeben, pro Kopf der Bevölkerung in Bayern genauso viel wie in Bremen. Das Gleiche gilt für die Säule Schulsozialarbeit. Zitat aus dem Koalitionsvertrag: "Wir unterstützen diese Schulen dauerhaft mit Stellen für schulische Sozialarbeit." Hier sollen weitere 20 Prozent per Gießkanne fließen.

 

So bliebe allein die dritte Säule, um bedarfsgerecht zu finanzieren. "Wir stellen diesen Schulen ein Chancenbudget zur freien Verfügung, um Schule, Unterricht und Lernangebote weiterzuentwickeln und außerschulische Kooperationen zu fördern", haben SPD, Grüne und FDP angekündigt. Und nur innerhalb dieser 20 Prozent würde nach den derzeitigen Vorschlägen überhaupt umverteilt. So dass, wie Table Media berechnet hat, aufs Gesamtprogramm bezogen Bremen am Ende lediglich 14 Prozent mehr pro Einwohner hätte und Bayern sechs Prozent weniger, obwohl in Bremen der Anteil von Kindern in Bedarfsgemeinschaften fast fünfmal so hoch ist.

 

Wie gesagt: Nichts ist final. Doch wer die bisherige Logik des Bildungsföderalismus kennt, der weiß: Solange die KMK so aufgestellt ist, wie sie ist, solange besagter gesamtstaatlicher Imperativ fehlt und es nicht einmal einen Bildungsstaatsvertrag zwischen den Ländern gibt, der Bildung verbindlich als den Ländereinzelinteressen übergeordnete Gemeinschaftsaufgabe definiert, solange wird das Endergebnis nicht wesentlich anders ausfallen als der Vorschlag der Staatssekretäre. Auch wenn Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zu verstehen gibt, dass sie sich auf eine solche Nahezu-Gießkannenverteilung nicht einlassen wolle – eben weil dann das "Startchancen"-Programm nicht mehr der Start einer neuen, anderen föderalen Bildungspolitik wäre, sondern schlicht ein weiteres Stück ambitionsarmer Mittelmäßigkeit.

 

Warum alle Rufe nach Zentralisierung
trotzdem illusorisch sind

 

Stark-Watzingers einziges Druckmittel wäre, das Programm dann ganz platzen zu lassen – doch das kann sie sich angesichts des herrschenden Erwartungsdrucks kaum leisten. Es wäre deshalb schon eine große Leistung, wenn sie die Länder tatsächlich dazu bringen würde, die geforderte 50-Prozent-Kofinanzierung der einen versprochenen "Startchancen"-Milliarde zu leisten. Denn derzeit planen die Länder tatsächlich mit gut zwei Milliarden – aber auch die zweite fordern sie vom Bund.

 

So ist es gut möglich, ja wahrscheinlich, dass der bildungspolitische Paradigmenwechsel, der das "Startchancen"-Programm hatte werden sollen, ausfällt. Weil die entscheidenden Voraussetzungen dafür bislang fehlen. Ein Länder-Staatsvertrag, der Umbau der Kultusministerkonferenz, ihrer Gremien und Entscheidungswege und die Neustrukturierung ihres Sekretariats. Eine Ertüchtigung der bundesdeutschen Bildungspolitik – wohlgemerkt unter Achtung der traditionellen Kultushoheit der Länder. 

 

Wer glaubt, es gäbe einfachere Alternativen, etwa durch das Anknabbern der Länderzuständigkeiten, der irrt. Ganz sicher sind es nicht die Forderungen nach einer Zentralisierung, nach mehr Einfluss des Bundes, die auch Stark-Watzinger immer wieder ins Spiel bringt.

 

Mehr Abstimmung zwischen Bund und Ländern: ja. Mehr Mitsprache: illusorisch. Darauf werden sich die Ministerpräsidenten nie einlassen, weil die Kultushoheit, so sehr die Länder die Bildung im Alltagsgeschäft mitunter auch vernachlässigen, doch zu ihren zentralen identitätsstiftenden Elementen gehört. Von denen es, seien wir ehrlich, sonst nicht wirklich viele gibt. 

 

Gleichzeitig müssen sich die Ministerpräsidenten aber bewusst sein, dass die dauerhafte Minderperformanz des Bildungsföderalismus demokratieschädlich ohne gleichen ist. Wenn je nach Umfrage 80 Prozent und mehr der Bevölkerung den Bildungsföderalismus abschaffen und folglich die Kultusministerkonferenz als Instanz ablehnen, heißt das nicht, dass diese in ihre Existenz gefährdet ist, da sind die Ministerpräsidenten vor. Das heißt aber, dass auf Dauer der Politik insgesamt, nicht nur der Bildungspolitik, die öffentliche Legitimation verloren geht.

 

Es gibt mutige und reformorientierte Bildungsminister und Staatssekretäre in der KMK, die das wissen. Und die die Reform des Länderclubs deshalb seit Jahren voranzutreiben versuchen. Erstes Ergebnise waren das von vielen bislang als zahnlos erlebte Länderabkommen und die – ursprünglich aus Verlegenheit erfolgte – Gründung der erfreulich umtriebigen Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK. Jetzt treiben die Reformer ihre Kultusministerkonferenz in Richtung erst einer Evaluation und dann, so der Plan, einer Neubestimmung ihrer selbst.

 

Ein völlig neuer
Bildungsföderalismus

 

Dass die KMK dafür mit "Prognos" eine Unternehmensberatung eingeschaltet hat, ist kein Ausdruck von Neoliberalismus und auch nicht ihrer institutionellen Schwäche, sondern im Gegenteil ein Zeichen der Bereitschaft, dieser institutionellen Schwäche diesmal nicht nachgeben zu wollen. Drei Fragenkomplexe sollen geklärt werden, bevor die Kultusminister Anfang Dezember die Bestandteile und Umsetzungsplanung des Projekts "KMK 2025" beschließen wollen.  Erstens: "Welche Anforderungen muss die KMK in der Zukunft erfüllen? Welche Aufgaben soll die KMK der Zukunft wahrnehmen?" Zweitens: "Wie sollten die Strukturen und Prozesse der KMK (Governance) gestaltet sein, um diese Anforderungen zu erfüllen?" Und drittens: "Mit welchem Aufgabenspektrum, welchen Strukturen und Prozessen kann das Sekretariat die Arbeit der KMK bestmöglich unterstützen?"

 

Die Fragen sind mutig gestellt. Nämlich so, dass eine ehrliche Beantwortung zwangsläufig zu einer völligen Neukonzeption des Länderclubs und damit des Bildungsföderalismus münden müsste. Hin zu deutlich weniger Gremien, die dafür deutlich häufiger tagen, hin zu Mehrheitsentscheidungen auch bei zentralen Bildungsfragen – die dann von der unterlegenen Minderheit akzeptiert und mitgetragen werden müssten. Vor allem auch solche, siehe "Startchancen"-Programm, zur Verteilung von Bundesgeldern. Entsprechend müsste sich das KMK-Sekretariat ebenfalls komplett verändern und zur institutionellen Verkörperung dieses neuen Bildungsföderalismus werden: stark in der Konzeptentwicklung und im ländervergleichenden Monitoring, selbstbewusst im Außenauftritt. Und zusammen mit einem/einer für einen längeren Zeitraum gewählten KMK-Präsident*in in der Lage, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung im öffentlichen Diskurs Paroli zu bieten.

 

Unrealistisch? Meines Erachtens müssen wir anfangen, eine andere Frage zu stellen: Wie weltfremd und zukunftsunfähig ist die Art von Föderalismus, wie wir ihn uns derzeit leisten?

 

Es geht so nicht weiter in der bundesdeutschen Bildungspolitik. Dass es beim "Startchancen"-Programm trotzdem so wie bislang zu kommen droht, verstärkt diese Erkenntnis nur noch mehr. Hoffentlich zum letzten Mal.



Fotos: Jörg Zägel: "Berlin, Mitte, Taubenstrasse 10, Patzenhofer-Brauerei.jpg", CC BY-SA 3.0., Sir James: "2015-02-28 Bonn Graurheindorfer Str 157 KMK.JPG", CC BY-SA 3.0./"2015-02-28 Bonn Graurheindorfer Str 157 KMK Bonn Seitenansicht.JPG",  CC BY-SA 3.0.

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Kommentare: 3
  • #1

    Franka Listersen (Montag, 20 Februar 2023 13:00)

    Ich bin da eher für Übereinstimmung von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung. KMK und Bund sollten die Standards setzen und einen Mindeststandard an Mitteln vorgeben bzw. unterstützen. Für Umsetzung und Ergebnisse sind aber aus gutem Grund die Länder zuständig: Wenn schon Föderalismus, dann bitte richtig und umfassend.

    Warum sollte etwa Bremen jetzt dafür belohnt werden, dass man dort über Jahrzehnte schlechte Ergebnisse ignoriert hat? Da müssen sich die Bremer Bürger schon selbst entscheiden, eine andere Bildungspolitik zu wollen.

    Die Schweiz etwa hat eine Kooperations- und Koordinationspflicht zwischen Bund und Kantonen, dennoch sind diese sehr frei in der Gestaltung ihrer Bildung. Hätten wir mehr Bundeskomptenz der Regeln und Finanzen, wären diejenigen, die sich jetzt immer über föderales Chaos aufregen, wohl die ersten, die über bösen Zentralismus schimpfen.

  • #2

    Matthias Güldner (Dienstag, 21 Februar 2023 11:13)

    Stimme in fast allem zu. Einzig die grandios betitelte "Ländervereinbarung über die gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens und die gesamtstaatliche Verantwortung der Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen" der KMK von 2020 ist eher ein Paradebeispiel für "uneigentliches Messaging" als ein "durchaus beachtliches Bildungsabkommen". Überall wo IN den Zeilen von Kooperation, Gemeinsamkeit, Abstimmung, etc. die Rede ist, steht mindestens ZWISCHEN den Zeilen Ausnahme, Öffnung, Abweichung. Es wird für das allgemeine Publikum eine virtuelle Gemeinsamkeit inszeniert, die im selben Moment wieder zurückgenommen wird. Im Grunde will jedes Land genau das so weitermachen, was es bisher teils in völliger Abweichung von den propagierten Zielen auch gemacht hat. Und das - je nach Land - mit entweder dauerhaftem, oder in den letzten Jahren zunehmenden Misserfolg. Natürlich ist es bemerkenswert, dass die KMK 56 Jahre nach dem Hamburger Abkommen sich 2020 wieder auf ein Papier verständigen konnte, zumal die ostdeutschen Bundesländer nach 1990 ohne ein solches Abkommen einfach jeder für sich mitgewurstelt haben. Leider hat das Papier mehr von einem Scheinriesen, was sich bei der gut beschriebenen Steuerungslosigkeit bei der Verteilung der Startchancen-Gelder ja auch erbarmungslos zeigt.

  • #3

    Hans Georg Gemuenden (Mittwoch, 22 Februar 2023 11:35)

    Man könnte es auch anders machen. Warum schließen sich nicht einfach ein paar Bundesländer zusammen und gründen wie die Steuerberater ihre DATEV eine Genossenschaft, die sich um IT für den Unterricht, um Zusatzausbildungen und Communities of Practice (Wissensgemeinschaften) für den IT-Einsatz im Unterricht kümmert etc. und verpflichten sich diese Genossenschaft dauerhaft zu unterstützen? Sie könnten dann einfach mal zeigen, dass es geht.