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Fraunhofer-Senatsvorsitzende beschwört den Neuanfang

In einem Schreiben an alle Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft kündigt Hildegard Müller umfangreiche Aufklärungsarbeit im Spesenskandal an. Dabei sollte das Fraunhofer-Aufsichtsgremium auch seine eigene Rolle hinterfragen.

AM TAG NACH DER WAHL Holger Hanselkas zum neuen Fraunhofer-Präsidenten hat sich die Senatsvorsitzende Hildegard Müller am Freitag in einem Schreiben an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft deutlich wie nie zum Spesenskandal geäußert. Müller, im Hauptberuf Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), verschickte ihre Nachricht am Morgen der Fraunhofer-Mitgliederversammlung in Dresden, in dessen Rahmen die Entlastung des bisherigen Vorstandes für das Jahr 2022 anstand.

 

"Die Entscheidung für Holger Hanselka haben wir als Senat bewusst getroffen, um auch intern einen Neuanfang für die Fraunhofer-Gesellschaft zu ermöglichen", schrieb Müller. "Dazu gehört auch eine transparente und klare Aufarbeitung problematischer Vorgänge aus der Vergangenheit."

 

Ausdrücke wie "Aufarbeitung" und "problematische Vorgänge" gehörten bislang selten zum Vokabular der Senatsvorsitzenden, sobald sie öffentlich (und das ist ein Schreiben an alle 30.000 Fraunhofer-Mitarbeiter) Stellung bezog zu den Vorwürfen gegen den gestern zurückgetretenen Ex-Präsidenten Reimund Neugebauer und den übrigen Vorstand. Ihre Mitarbeiterbrief am Freitag kann man insofern als Wendepunkt bezeichnen, zumal sie darin die Belegschaft eindringlich zur aktiven Mitarbeit am Neustart aufforderte.

 

Liegt der Skandal nun tatsächlich
schon "in der Vergangenheit"?

 

Nur: Gehört der Skandal, der Fraunhofer nach innen und außen in eine tiefe Krise stürzte, allein deshalb schon der von Müller erwähnten "Vergangenheit" an, weil mit Neugebauer am Donnerstag sein mutmaßlicher Protagonist  – offiziell freiwillig – vorzeitig sein Amt niedergelegt hat?

 

In ihrem Schreiben jedenfalls erweckte Müller am Freitag den Eindruck, als habe der Fraunhofer-Senat erst durch den im Februar 2023 öffentlich gewordene Prüfbericht des Bundesrechnungshofs das Ausmaß der möglichen Vergehen erkannt. Der Prüfbericht, formulierte die Vorsitzende des Aufsichtsgremiums, habe "Zweifel an ausgewählten Aspekten der Haushalts- und Wirtschaftsführung der Fraunhofer-Gesellschaft in den Jahren 2016 bis 2021 aufgeworfen". Mittlerweile habe auch die Staatsanwaltschaft München I den Senat "über ihre Ermittlungen zum Nachteil der Fraunhofer-Gesellschaft" (derzeit gegen unbekannt) informiert, schrieb Müller weiter.

 

Freilich hatten die von ihr angesprochenen "Zweifel" schon lange vorher bestanden, waren jedoch vom Senat, bis Dezember 2022 noch unter der Leitung vom Ex-Chef der Salzgitter-AG Jörg Fuhrmann, stets abgetan worden. Im November 2021 etwa teilte Fuhrmann mit, der Senat habe sich "mit vereinzelten, über Medien, parlamentarische Anfragen und soziale Netzwerke verbreiteten Unterstellungen und Vorwürfen Dritter in Bezug auf Leitungsgremien der Fraunhofer-Gesellschaft" befasst. Das Gremium habe diese dann aber "geschlossen und auf Basis einer unabhängigen Prüfung als durchweg haltlos" eingestuft. Bei der von Fuhrmann angeführten "unabhängigen Prüfung" hatte es sich damals freilich um Recherchen der internen Revision gehandelt. 

 

Im Jahr 2022 ermittelten dann BMBF und Rechnungshof bei Fraunhofer, und zumindest muss sich der Senat dann so unsicher gewesen sein, dass er im vergangenen Mai der Mitgliederversammlung nur eine Teilentlastung des Vorstandes um Neugebauer für das Jahr 2021 vorschlug – ausgespart um "zum Zeitpunkt der Befassung noch nicht vorliegende Sachverhalte", wie es die Fraunhofer-Pressestelle damals auf Anfrage formulierte. 

 

Ab wann hätte der Senat
die Vorwürfe ernstnehmen müssen?

 

Inwiefern, lautet also jetzt die Frage angesichts von Müllers Darstellung im Mitarbeiterbrief, hätte der Senat die angeblich erst durch den Rechnungshofbericht aufgeworfenen Zweifel schon früher ernstnehmen müssen, und inwiefern hat er das ausreichend getan?  

 

Seit Anfang März erhobenen Forderungen aus der Politik nach personellen Konsequenzen in der Fraunhofer Führungsetage war der Senat als oberstes Aufsichtsgremium zumindest nicht gefolgt, und Müller selbst hatte Neugebauer noch Wochen später beim wichtigsten VDA-Kongress als Eröffnungsredner begrüßt.

 

In ihrem Schreiben am Freitag indes ließ Müller die Fraunhofer-Mitarbeiter wissen: Nachdem Senat und Vorstand (durch Rechnungshof und Staatsanwaltschaft) mit den Vorwürfen über eine unsachgemäße Haushalts- und Wirtschaftsführung konfrontiert worden seien, hätten sie "umgehend Sofortmaßnahmen" ergriffen, außerdem, "eine Überprüfung und Veränderung von Prozessen eingeleitet, um Schaden von der Fraunhofer-Gesellschaft abzuwenden".

 

Welche Schritte Müller
im Einzelnen nennt

 

o Eine interne Untersuchung "der in Rede stehenden Sachverhalte" durch die "Kanzlei Hessen" aus Frankfurt am Main "mit strafrechtlicher Begleitung" durch die auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht spezialisierte Münchner Kanzlei "Knauer & Partnerschaft". Die interne Untersuchung betreffe die Vorstandspraxis "im Hinblick auf Kosten für eigene Dienstreisen, Repräsentationsaufwendungen (Bewirtungen, interne Veranstaltungen, Begleitungen der Vorstandsmitglieder auf Dienstreisen und gewährte Geschenke) sowie Dienstwagennutzung und -anschaffung". Sie umfasse den Zeitraum von Januar 2016 bis März 2023.

 

o Eine weitere Kanzlei sei mit der Prüfung von Ansprüchen der Fraunhofer-Gesellschaft gegen die zwischen 2012 und 2021 amtierenden Vorstandsmitglieder beauftragt worden.

 

o Ein Schwerpunkt der Untersuchungen sei unter anderem die  "umfangreiche Sicherung von Daten betroffener Vorstandsmitglieder, ehemaliger Vorstandsmitglieder und Mitarbeitender". 

 

o Ein eigens eingesetzter Senatsausschuss unter Leitung Müllers steuere die Untersuchung, unterstützt von einer Fraunhofer-internen Projektgruppe zur operativen Unterstützung des Ausschusses, die auch ausschließlich an diesen und an den Senat berichte. Bei allen Maßnahmen seien Gesamtbetriebsrat, Betriebsrat der Zentrale der Fraunhofer-Gesellschaft, der Datenschutz- sowie der IT-Beauftragte eingebunden. Was insofern eine wichtige Mitteilung ist, weil es aus Fraunhofer-Betriebsräten im Februar erhebliche Kritik am Vorstand und dessen Vorgehen gegeben hatte: Das Vertrauen in die Zentrale sei "insgesamt zerrüttet".

 

War eine Entlastung des Vorstands
für 2022 am Freitag überhaupt denkbar?

 

"Selbstredend", betonte die Senatsvorsitzende Müller nun in ihrem Schreiben, hätten alle betroffenen aktiven Vorstandsmitglieder ihre umfängliche Kooperation versichert, mit den ehemaligen stehe man in Austausch. "Im Hinblick auf mögliche Erstattungsansprüche wurden zwischenzeitlich  auch verjährungssichernde Vereinbarungen getroffen bzw. anspruchssichernde Maßnahmen veranlasst." 

 

Womit sich eine weitere Frage stellt: War unter diesen Umständen eine Entlastung des bisherigen Vorstands für das Jahr 2022 am Freitag überhaupt denkbar, wenn gleichzeitig doch laut Müller mögliche Erstattungsansprüche im Raum stehen? Eine offizielle Bestätigung, ob die Entlastung nun erfolgte oder nicht, gibt es bislang nicht von Fraunhofer, Anwesende berichten jedoch, es habe eine Entlastung zumindest einiger Vorstände stattgefunden. 

 

Übrigens hatten sich die Forderungen von Bundestagsabgeordneten und auch von Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) stets auf einen "schnellstmöglichen Neustart im Vorstand" bezogen und damit explizit nicht nur auf Neugebauer. 

 

Diese Frage nach Sinn und Zweck einer Entlastung des Vorstands zum jetzigen Zeitpunkt wird umso dringlicher, da Müller selbst – bei aller von ihr herausgestellten Kooperationsbereitschaft der Betroffenen – in ihrem Schreiben die Fraunhofer-Mitarbeiter ermutigte, dass sie sich mit Informationen vertraulich direkt an die ermittelnde Kanzlei wenden könnten. Und noch einmal betonte, alle Unterlagen und elektronischen Daten, die mit der Untersuchung in Zusammenhang stehen könnten, müssten in dem Zustand belassen werden, in dem sie sich zur Zeit befänden. 

 

Interimschefin Sandra Krey ist erst
seit August 2022 Mitglied des Vorstands 

 

Insider sagen denn auch, es sei kein Zufall, dass mit der für den Bereich Finanzen und Controlling zuständigen Sandra Krey ein Vorstandsmitglied mit der kommissarischen Führung der Fraunhofer-Gesellschaft betraut worden ist, die sich erst seit August 2022 im Amt befindet.

 

Am Ende ihres Schreibens ging die Senatsvorsitzende, die am Donnerstag den abgetretenen Präsidenten noch überschwänglich gelobt hatte, auf weitere rhetorische Distanz zu Neugebauer: "Mit der Berufung von Holger Hanselka zum neuen Präsidenten beginnt eine neue Ära bei Fraunhofer – auch nach innen." Sie als Senatsvorsitzende werde den künftigen Präsidenten "mit aller Kraft unterstützen". Dann wendete sich Müller noch einmal direkt an die Mitarbeiter:" Ich möchte Sie alle ausdrücklich ermuntern, sich mit Ihren Ideen, Ihrer konstruktiven Kritik und all Ihrer Leidenschaft an diesem Neustart zu beteiligen."

 

In der jüngsten Vergangenheit, klagten viele Mitarbeiter, sei ihre Meinung über die Vorgänge in der Fraunhofer-Führungsetage weniger geschätzt gewesen. Und die von ihnen aufgeworfenen Fragen – etwa zum Rechungshofbericht – ebenso wenig. So schrieb der Betriebsrat der Münchner Zentrale Ende Februar an den damaligen Vorstand: "Wir haben noch niemanden gefunden, der mit Ihrer Antwort zufrieden gewesen wäre."

 

Müllers demonstrativer vorgetragener Eifer, den durch Hanselka verkörperten Neustart mit einer Bewältigung der Vorgänge in den vergangenen Jahren zu verbinden – ja, zur Voraussetzung zu machen –, ist erfreulich. Gleichzeitig wird auch sie noch unter Beweis stellen müssen, wie ernst sie es mit ihrer Ansage meint. Zur einer glaubwürdigen Aufklärungsarbeit wird nicht nur gehören, weitere Konsequenz gegenüber dem bisherigen Vorstand zu zeigen, die internen Führungsstrukturen bei Fraunhofer zu durchleuchten oder sie, wo nötig, neu aufzustellen. Auch das Handeln des Senats selbst während des Skandals, sein Umgang mit Whistleblowern und Vorwürfen gegen den Vorstand – kurz die Art der Wahrnehmung seiner Aufsichtsfunktion – muss Gegenstand der von der Senatsvorsitzenden beschworenen Aufarbeitung werden.

 

Genauso wie das Handling der Angelegenheit durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, unter anderem durch ein bestimmtes ehemaliges Leitungsmitglied, das laut Rechnungshof dreimal fürstlich von einem Fraunhofer-Vorstandsmitglied bewirtet worden sein soll. Apropos BMBF: Dessen früherer parlamentarischer Staatssekretär Thomas Sattelberger (FDP) hatte dann immerhin eine eigene Untersuchung in der Zentrale der Forschungsgesellschaft veranlasst. Doch den dazu gehörende Abschlussbericht hat das BMBF trotz mehrerer im Sommer 2022 gestellter Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz bis heute nicht herausgegeben – Fraunhofer hatte kurz vor Ablauf der Frist Widerspruch dagegen eingelegt.


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