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"Mir wird noch klarer, wie groß die Nöte tatsächlich sind"

Katharina Günther-Wünsch ist seit wenigen Wochen Berliner Bildungssenatorin und KMK-Präsidentin. Ein Interview über unpopuläre Maßnahmen gegen den Lehrermangel, ein verpflichtendes Kitajahr, Forderungen an die Bundesbildungsministerin – und wie ihr jetzt ihre Erfahrungen in der Schulleitung helfen.

Katharina Günther-Wünsch, 40, ist Lehrerin für Chemie, Mathematik und Geschichte und arbeitete seit 2013 an der Walter-Gropius-Gesamtschule in Berlin-Neukölln. 2021 wurde sie Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die CDU, nach der Wiederholungswahl übernahm sie das Amt der Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie. Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.

Frau Günther-Wünsch, die SPD wollte das Bildungsressort in Berlin unbedingt abgeben, Sie wollten es unbedingt haben. Bereuen Sie schon Ihre Chuzpe?

 

Auf keinen Fall! Richtig ist aber: Dieser Job erinnert mich an einen Eisberg. Die Spitze habe ich gesehen, und jeden Tag erahne ich etwas mehr von dem, was sich unter der Wasseroberfläche befindet.

 

Fangen wir mit der Spitze des Eisbergs an.

 

Ich mache seit 20 Jahren Politik, und aus der Opposition heraus sehen Sie den Personalmangel, Sie sehen den Platzmangel in den Schulen und den fehlenden roten Faden zwischen den einzelnen Stationen der Berliner Bildungspolitik von der frühkindlichen bis zur beruflichen Bildung. 

 

Und was zeigt Ihnen jetzt der Blick unter die Wasserlinie?

 

Was das eine mit dem anderen zu tun hat. Vorher in den Haushaltsdebatten konnte ich es mir nur denken, jetzt aber wird es für mich in vollem Ausmaß sichtbar: Das Geld, was zur Verfügung steht, ist nicht nur endlich. Es ist in vielen Fällen gar nichts da zum Gestalten. Außerdem erlebe ich die langen Entscheidungswege, all die Instanzen, deren Zustimmung Sie brauchen. Und gleichzeitig wird mir noch klarer, wie groß die Herausforderungen und Nöte von Lehrern, Schülern und Eltern tatsächlich sind. 

 

Warum wollten Sie überhaupt unbedingt Bildungssenatorin werden?

 

Mein Eindruck war auch mit Blick auf die Bildungspolitik in anderen Bundesländern: Der Praxisbezug, die Kenntnis über viele Zusammenhänge, die ich als Lehrerin und in der Schulleitung sammeln konnte, könnten sich in diesem Amt als hilfreich erweisen.

 

"Ich werde ohnehin nie alle Gruppen
und Klientel glücklich machen."

 

Sie haben viele Jahre an Deutschlands erster Gesamtschule, der Walter-Gropius-Schule in Berlin-Neukölln, gearbeitet. 

 

Und das hilft mir jetzt. Einerseits, weil ich dort eine gewisse Resilienz erworben habe. Die Resilienz, auch durch Täler und Krisen zu kommen. Andererseits, weil ich die Strukturen kenne, das Zusammenspiel der Verantwortlichen auf den unterschiedlichen Ebenen. Ich weiß, wen ich wie ins Boot holen kann. Dazu gehört, dass ich in der Lage bin,  jenseits von Parteipräferenz und Ideologie pragmatisch Entscheidungen zu treffen. Wenn es darauf ankommt, schnell – und vielleicht auch mal unliebsam. Ich werde ohnehin nie alle Gruppen und Klientel glücklich machen.

 

Ihre Vorgängerin, Astrid-Sabine Busse, war auch Lehrerin und Schulleiterin. Manche sagen, genau deshalb habe sie sich schwergetan, unbequeme Entscheidungen zu Lasten von Lehrkräften zu treffen.

 

Es geht mir ums Gesamtsystem. Mich trägt das Ziel, mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu erreichen. Jeder Schüler und jede Schülerin soll ihr bestmögliches Lernergebnis erreichen können, und weil das für mich ganz oben steht, kann ich nicht einzelne Gruppen präferieren. 

 

Der Philologenverband war jedenfalls schon mal sehr glücklich über Ihre Aussagen zur Bedeutung der Gymnasien. 

 

Falls Sie damit implizieren wollen, dass wir in der neuen Berliner Koalition eine spezielle Behandlung für die Gymnasien durchgesetzt hätten, dann haben Sie zu früh mit der Lektüre des Koalitionsvertrages aufgehört. Wir wollen alle Schulformen bedarfsgerecht ausstatten, Gymnasien genauso wie Gemeinschaftsschulen. Vergangenes Jahr wurden an knapp 200  Sechstklässler Schulbescheide verschickt, ohne dass sie einer Schule zugewiesen werden konnten. Die allermeisten davon hatten eine Gymnasialempfehlung. Wenn de facto also der Bedarf an zusätzlichen Plätzen an Gymnasien am größten ist, dann müssen wir reagieren.  

 

Reagieren müssen Sie vor allem beim Lehrkräftemangel. Fast 1500 volle Lehrerstellen können Sie in Berlin aktuell nicht besetzen, haben Sie neulich vorgerechnet. Während sich Ihre Kollegin, die neue Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra, im RBB optimistisch gab: Sie erwarte bald 2000 Lehramts-Absolventen pro Jahr. 

 

Ich habe nicht nur gesagt, dass uns dieses Jahr knapp 1500 Lehrer fehlen. Sondern auch, dass es nächstes Jahr noch mehr werden. Ich freue mich, dass meine Kollegin Ina Czyborra, die für das Hochschulstudium angehender Lehrer zuständig ist, mit den Hochschulen Gespräche führt und Verbesserungen ankündigt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir uns parallel in einer demografischen Krise befinden. Alexander Lorz, Kultusminister von Hessen, hat das auf den Punkt gebracht: Um in Zukunft genügend Lehrkräfte zu haben, müsste jeder vierte oder fünfte Abiturient von heute Lehrer werden. Doch gleichzeitig zerren die anderen Branchen und Berufsfelder genauso an den jungen Leuten. Wir brauchen Spezialisten für die Energiewende, für Verkehr, für Gesundheit, für IT und so weiter. Wir haben einfach ein demografisches Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, und auf dieses Missverhältnis wollte auch Frau Czyborra hinweisen. 

 

"Ich kann nach drei Jahren mit einem Bachelor
in die Raumfahrtforschung gehen, brauche aber
fünf Jahre, um nach dem Lehramts-Master überhaupt ins Referendariat zu kommen."

 

Und was folgt daraus?

 

Wir müssen die Attraktivität des Lehramtsstudium steigern. Das geht los mit der Frage nach seiner Praxisnähe. Mit welcher Qualifikation und was für Kompetenzen gehe ich da raus? Bin ich dann wirklich tauglich für die Schule? Und wie lange dauert meine Ausbildung? Ich kann nach drei Jahren mit einem Bachelor in die Raumfahrtforschung gehen, brauche aber fünf Jahre, um nach dem Lehramts-Master überhaupt ins Referendariat zu kommen. Und erst dann darf ich eigenständig Schüler unterrichten. Das passt doch nicht. 

 

Was haben Sie vor?

 

Einen schnelleren Zugang zu den Schulen und mehr Praxisnähe bekomme ich durch neue Formen des Studierens, zum Beispiel in dualen Modellen. Schleswig-Holstein macht das jetzt vor: Da können Sie den Master und das Referendariat kombinieren und sind auf diese Weise auch schneller fertig. Über so ein Modell möchte ich mit Universitäten und der Wissenschaftsverwaltung sprechen. 

 

Brandenburg etwa geht einen anderen Weg. Dort sollen bald Bachelorabsolventen, auch wenn sie kein Schulfach studiert haben, bis zu ihrer Pensionierung als verbeamtete "Bildungsamtsfrauen- und männer" unterrichten.

 

Ein Modell, das aus der Not geboren wurde. Wir beobachten, wie das läuft – haben aber noch große Bedenken hinsichtlich der Qualität.

 

Ganz ausschließen wollen Sie deine Nachahmung in Berlin also nicht?

 

Wie gesagt: Wir schauen uns das in Ruhe an, gehen aber erstmal unsere eigenen Wege. 

 

Ist genau das nicht eines der Hauptprobleme der föderalen Bildungspolitik – dass jedes Land seinen eigenen Weg geht? Genau deshalb hatte Schleswig-Holsteins Bildungsministerin, Ihre Parteikollegin Karin Prien, vergangenes Jahr als KMK-Präsidentin eine bundesweite Reform der Lehrkräftebildung angestoßen.

 

Zu Recht! Momentan befinden sich alle 16 Bundesländer in einem Wettbewerb. Sie alle kämpfen, wenn auch unterschiedlich stark, mit dem Lehrermangel und versuchen, sich mit den unterschiedlichsten Programmen gegenseitig das Personal abzuwerben. Insofern sind wir gespannt auf das Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der KMK, das Ende des Jahres kommen soll. Wir hoffen auf wissenschaftliche Empfehlungen, wie wir das Lehramtsstudium so reformieren können, dass alle Länder mitgehen. Wir leiden doch alle unter der aktuellen Situation: Und wir  alle würden profitieren, wenn wir eine einheitliche Definition von Qualität, Schnelligkeit und Praxisorientierung hinbekämen. 

 

"Ich bin seit 17 Jahren Pädagogin und ich
'habe noch nie erlebt, dass Bildung so sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand wie jetzt."

 

Das haben, mit Verlaub, schon Generationen von Kultusministern vor Ihnen getan: die föderale Einheit beschwören und parallel anderswo Plakatkampagnen starten, um die Absolventen ins eigene Bundesland zu holen. 

 

Aber jetzt haben zum ersten Mal alle 16 Bundesländer gleichzeitig diesen Mangel. Und nahezu überall gibt es mittlerweile diese große Heterogenität in den Klassenzimmern, wo Lehrer jeden Tag ihr Äußerstes tun, um all die emotionalen, sprachlichen und kognitiven Defizite und die sozialen Benachteiligungen aufzufangen. Ich bin seit 17 Jahren Pädagogin und ich habe noch nie erlebt, dass Bildung so sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand wie jetzt. Das bietet die große Chance und die Verpflichtung, sich auf eine gemeinsame Reform der Lehrerbildung zu einigen. Was allemal einfacher ist, als jetzt wieder eine Debatte über einen Länder-Bildungsstaatsvertrag zu starten.

 

Den Sie hiermit für nicht erstrebenswert erklären?

 

Von dem ich weiß, dass bei der Erwähnung dieses Wortes die Kultusverwaltungen in einigen  Ländern Schnappatmung bekommen. 

 

Soll die Verwaltung wirklich diktieren, wo es langgeht in Sachen Bildungsföderalismus?

 

Die Verwaltung in meinem Haus ist längst nicht so starr, wie ihr das nachgesagt wird. Aus der Opposition heraus hatte ich selbst solche Vorbehalte, aber ich habe hier einen offenen und kooperativen Empfang erlebt, von Anfang an eine gute Zuarbeit und angenehme Zusammenarbeit. Neulich hatten wir eine freiwillige Mitarbeiterversammlung der Belegschaft, über ein Drittel war da, es kamen kritische Fragen und spannende Ideen. Mein Eindruck war, man freut sich, dass die Tür der Senatorin offensteht.

 

Sie werden auch Verbündete brauchen, wenn Sie die Empfehlungen der SWK umsetzen wollen zum Umgang mit dem kurzfristigen Lehrermangel. Die waren so unpopulär, dass einige in der KMK erstmal in Schockstarre verfallen sind. 

 

Ich finde, das waren sehr wertvolle Empfehlungen, von denen ich bereits mehrere aufgegriffen habe. Erstens: Wir müssen gerade in den Mangelfächern zusehen, dass wir den Zugang für Seiteneinsteiger leichter machen. Wenn Sie erfolgreich waren in Ihrem Beruf, werden Sie sich nicht einfach in ein zweites Studium und das Referendariat hineinzwängen lassen, auch wenn Sie sich grundsätzlich für den Lehrerberuf begeistern können. Ich lasse gerade prüfen, welche rechtlichen Vereinfachungen wir an der Stelle vornehmen können. Zweitens sind die Hürden für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse immer noch zu hoch und die Verfahren zu lang: Es muss möglich werden, all diese Pädagogen mit ihrer Expertise in die Schulen zu holen, auch wenn sie bislang vielleicht nur Grundkenntnisse im Deutschen haben. Am Beispiel ukrainischer Schüler sehen wir, wie sehr es auf deren emotionale und soziale Stabilisierung ankommt, das können die Kollegen leisten und sich parallel sprachlich qualifizieren. Denn das bleibt wichtig, keine Frage. Und wenn das nötige Sprachniveau erreicht ist, können die Lehrkräfte voll angestellt werden und eine volle Lehrbefähigung erhalten. Also: Es gibt zu viele Barrieren, um Lehrer zu werden, manche mögen sinnhaft sein, doch alle müssen wir in der aktuellen Situation kritisch hinterfragen.

 

Was genau daran ist jetzt unpopulär?

 

Wenig Begeisterung bei den betroffenen Lehrern hat zum Beispiel meine Ansage ausgelöst, dass wir alle vorgenommenen Abordnungen hinterfragen.

 

"So werden wir es mit jeder
einzelnen Abordnung halten: Wir schauen genau hin, was noch gerechtfertigt ist – und was nicht."

 

Abordnungen bedeuten, dass Lehrkräfte nicht an Schulen, sondern anderswo eingesetzt werden.

 

Was in normalen Zeiten ein Gewinn sein kann. Aber wenn zum Beispiel bei den drei Kollegen, die in der Berliner Jugendkunstschule eingesetzt werden, die Schulaufsicht sagt: Wir brauchen sie zurück, weil wir sonst die Stundentafeln an den Schulen nicht sichern können – dann sage ich: Der Unterricht geht vor! Wir suchen bei der Jugendkunstschule jetzt nach einer Alternativlösung mit freien Trägern. Und so werden wir es künftig mit jeder einzelnen Abordnung halten: Wir schauen genau hin, was noch gerechtfertigt ist – und was nicht. Insgesamt betrifft das bis zu 800 Stellen in Vollzeit. Das ist die Zahl, die von der Senatsverwaltung auf meine parlamentarische Anfrage ermittelt hatte, noch zu Oppositionszeiten. Aber darunter sind natürlich viele, die als Seminarleitungen Referendare ausbilden oder für die Schulpsychologie Förderbedarfe von Kindern abklären. Solch erfahrene Lehrkräfte brauchen wir dort natürlich.

 

Die SWK empfahl außerdem, die geltenden Teilzeitregelungen für Lehrkräfte kritisch zu überprüfen.

 

Ich kann klar sagen, dass es in Berlin keine verpflichtende Rückkehr zur Vollzeit geben wird. Es werden weiter Teilzeitanträge bearbeitet und genehmigt. Wenn es in einem Fach eine Mangelsituation gab, bei der Sprachförderung oder bei der Inklusion, dann bin ich als Schulleiterin immer auf die betreffenden Kollegen in Teilzeit zugegangen und habe sie gefragt, unter welchen Umständen sie sich einen höheren Stundensatz vorstellen könnten. Wenn ich ihnen parallel versichert habe, dass die zusätzlichen Stunden nicht mit zusätzlichen Korrektur- oder Klassenleitungsaufgaben einhergingen, haben die Kollegen in der Regel zugestimmt. Ich will sagen: Hinter jeder Entscheidung zur Teilzeit steckt eine individuelle Geschichte, oft geht es um Kinder oder um Pflege. Auf Schulebene geht da viel, aber eine pauschale Regelung von oben ergibt keinen Sinn.

 

Der Lehrermangel trifft auf einen wachsenden Anteil von Grundschülern, die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können. Die jüngsten Ergebnisse des IQB-Bildungstrends waren eine weitere Bestätigung der bedrückenden Realität in vielen Schulen. Schon vorher hatte sich das CDU-Bundespräsidium für Sprachtests und, falls nötig, ein verpflichtendes letztes Kitajahr ausgesprochen. Die Frage ist: Wie bekommt man das abseits politischer Schlagzeilen umgesetzt?  

 

Daran arbeiten wir. In unserem Koalitionsvertrag haben wir das "Kita-Chancenjahr" genannt. Auf der Senatsklausur Anfang Juni haben wir unser Sofortprogramm beschlossen, dazu gehören erste Runde-Tisch-Gespräche mit den Kitaträgern und Verbänden noch im Herbst. Bis Ende des Jahres soll das Konzept zum Kita-Chancenjahr stehen, dann ändern wir das Schulgesetz, im Herbst 2024 starten wir mit den Sprachstanderhebungen, und im Sommer 2025 beginnt für die Kinder, die es brauchen, das verpflichtende Chancenjahr in den Kitas. Wir alle wissen: Sprache generiert sich auch durch den Alltag, durch das Einüben der Gruppendynamik, durch strukturierte Abläufe, durch Alltagssituationen. 

 

Sprachstandserhebungen gab es doch bislang schon in Berlin.

 

Die gab es, und daraufhin erhalten die Kinder, bei denen ein Förderbedarf festgestellt wird, als Angebot drei, vier Stunden in der Woche Sprachförderung. Aber die allermeisten Kinder und ihre Familien nahmen das Angebot nicht an. 

 

Für das verpflichtende "Kita-Chancenjahr" brauchen Sie zusätzliche Plätze in den Kitas, Sie brauchen noch mehr Erzieherinnen und Erzieher, und Sie müssen die nötigen Fortbildungen ermöglichen. 

 

Ich kann Ihnen noch keine Zahl nennen, was das alles kosten wird, aber 96 Prozent unserer Drei- bis Sechsjährigen gehen schon in die Kita. Wir reden also von einer überschaubaren Zahl zusätzlicher Kinder – für die der Besuch aber immens wichtig ist, weil es genau diejenigen sind, denen der Start in den Grundschulen sonst am schwersten fällt. Es handelt sich um eine Frage der Bildungsgerechtigkeit. 

 

"Ich erwarte am 23. Juni klare Aussagen
von der Bundesbildungsministerin".

 

Eine Frage der Bildungsgerechtigkeit ist auch der Ausbau des Ganztages. In den Grundschulen gilt der – bereits nach hinten geschobene – Anspruch auf Ganztagsbetreuung von 2026 an. Astrid-Sabine Busse hatte das Thema deshalb zum Leitmotto ihrer KMK-Präsidentschaft gemacht. 

 

Das war das richtige Leitmotto. Wir haben noch gut zwei Jahre Zeit, um endlich über qualitative Standards zu sprechen und wie wir sie mit dem Lehrer- und Fachkräftemangel zusammenbringen. Was ist notwendig, was ist sinnvoll? Da müssen wir eine Bestandsaufnahme machen und handeln. 

 

Müssen Befürworter eines verpflichtenden letzten Kitajahres nicht auch für einen gebundenen Ganztag sein – also ein tägliches, verbindliches Bildungsangebot für alle Kinder, das Unterricht, Übungen und Freizeitangebote bis in den Nachmittag hinein sinnvoll miteinander verknüpft und abwechselt?

 

Das halte ich nicht für realistisch derzeit, weil das den Personalmangel noch verstärken würde. Uns fehlen schon jetzt, verstärkt durch den Zuzug geflohener Kinder und Jugendliche, deutschlandweit Schulplätze. 

 

Um der Bildungsgerechtigkeit willen will die Bundesregierung auch das Startchancen-Programm an bis zu 4000 Schulen bundesweit etablieren. Zuletzt machten die Verhandlungen von Bund und Ländern aber vor allem wegen atmosphärischer Verstimmungen Schlagzeilen. Haben Sie sich wieder vertragen?

 

Beim Startchancen-Programm nehmen wir Bewegung wahr. Bei der Klausurtagung sind Länder und Bund hier gemeinsam weitergekommen, das ist eine gute Entwicklung. Gleichzeitig müssen wir aber auch feststellen, dass wir bei zentralen Fragen – etwa zur Aufteilung der Säulen, zur rechtlichen Umsetzung und zur Co-Finanzierung – weiterhin einen Dissens zwischen Bund und Ländern haben. Hier muss sich der Bund bewegen, und ich erwarte hier klare Aussagen der Bundesbildungsministerin bei unserem Treffen am 23. Juni.

 

Dazu musste das BMBF erst einmal die Berechnung nachliefern, wie sich das von ihm vorlegte Modell finanziell auswirkt.

 

Das hat das BMBF getan, und so enorm groß sind die Unterschiede gar nicht. Im Kern sind wir uns einig, dass mehr Geld dorthin fließen soll, wo es mehr benachteiligte Schülerinnen und Schulen gibt. Viel kritischer ist für uns, dass Länder wie Hamburg, Schleswig-Holstein oder Berlin, die schon eigene Landesprogramme zur Brennpunkt-Förderung haben, nicht doppelt zahlen. Sie leisten ihren Länderanteil teilweise schon, mitunter seit vielen Jahren. Anstatt da jetzt ein neues Programm darüberzustülpen mit all der zusätzlichen Bürokratie, muss es erlaubt sein, die bestehenden Initiativen mithilfe der Startchancen zu finanzieren und auszubauen.

 

Ich verstehe Sie richtig, dass Sie mit der Forderung des Bundes, dass die Länder zu der Bundesmilliarde eine eigene Milliarde zusteuern sollen, gar kein grundsätzliches Problem mehr haben – sondern dass es nur noch um die Frage geht, was angerechnet werden kann und was nicht?

 

Es geht um die Frage, wie die Kofinanzierung ausgestaltet wird und wie sie angerechnet wird.

 

Der Bund forderte in seinen Eckpunkten, dass die Länder ihre Kofinanzierung in denselben Topf mit der Bundesmilliarde werfen – und dann dieser Gesamttopf anhand sozialer Kriterien auf alle Bundesländer aufgeteilt wird. Was ein Novum wäre, weil dann nicht nur die Bundes-, sondern auch Landesgelder transferiert würden – auf Kosten von Ländern wie Bayern oder Baden-Württemberg, die faktisch Landesgelder nach Bremen oder Berlin überweisen würden.  

 

Das habe ich so nicht gehört. Aber derzeit laufen die Verhandlungen und wir sprechen über Co-Finanzierung, Anrechenbarkeit und vieles mehr, da spüre ich in den Ländern eine große Bereitschaft, auch Kompromissbereitschaft. 

 

Die eine Extra-Bildungsmilliarde pro Jahr, die Bundesfinanzminister Christian Lindner BMBF-Chefin Bettina Stark-Watzinger versprochen hat, wäre mit dem Startchancen-Programm bereits verfrühstückt. In den Ländern wächst die Sorge, dass für die Fortsetzung des Digitalpakts kein Geld mehr da sein wird.

 

Wir sehen die Haushaltssituation im Bund genauso wie in den Ländern, aber es gibt große nationale Aufgaben, da kann auch der Bund nicht aus der Verantwortung. Der erste Digitalpakt war notwendig und hat die Länder unterstützt, die Digitalisierung in die Fläche der Schulen zu bringen. Die Ausstattung mit Technik ist jetzt überall deutlich besser geworden. Aber es muss weitergehen. Wir müssen das Personal qualifizieren, wir müssen die Schulen mit der nötigen Lernsoftware ausstatten, wir müssen den Unterricht technologisch so weiterentwickeln, wie er in anderen Ländern dieser Welt längst Usus ist. Genau dafür und einen weiteren Ausbau hat uns die Ampel-Regierung den Digitalpakt 2.0 in Aussicht gestellt. Jetzt muss sich der Bund aber auch ehrlich machen.

 

Ehrlich machen?

 

Das BMBF hält sich seit Monaten bedeckt, sagt immer, es müsse erst noch den rechtlichen Rahmen prüfen. Das hatten wir aber doch alles schon mal, bevor der erste Digitalpakt kam. Nein, das Zeitspiel muss jetzt vorbei sein. Der Bund muss klar sagen: Will er den Digitalpakt 2.0 noch oder nicht? Hat er das Geld dafür oder nicht? Die Fakten müssen jetzt auf den Tisch. 

 

"Wir brauchen eine geschlossene KMK, die klare
Botschaften sendet und die in der Lage ist, starke gemeinsame Positionen zu entwickeln."

 

Eine Gelegenheit zum Klartextreden wäre die am Mittwoch zu Ende gegangene Bund-Länder-Klausur gewesen.

 

Die Arbeitsebene hat beim Startchancen-Programm unter Beteiligung der Amtschefs einige kritische Punkte abräumen können. Wir haben alle gezeigt, dass wir zu Kompromissen bereit sind. Das war ein erster Schritt, um einiges von dem wieder heilzumachen, was in den vergangenen Monaten an Porzellan zerschlagen worden ist. 

 

Die Atmosphäre zwischen KMK und BMBF war in den vergangenen Monaten zeitweise eisig – und führte zu manchem öffentlichen Empörungsausbruch vor allem auf Seiten der Länder.

 

Wir müssen alle unsere Befindlichkeiten zurückstellen, wenn wir die Krise in unserem Bildungssystem in den Griff bekommen wollen. Das sind wir den Schülern und den Pädagogen schuldig. Ich freue mich, dass die Bundesbildungsministerin meine Einladung angenommen hat und nächste Woche Freitag in Berlin ein Spitzengespräch mit allen Kultusministern führen wird. 

 

Wenn sich die Kultusminister untereinander wenigstens grüner wären. Noch so ein Thema, das Karin Prien vergangenes Jahr als KMK-Präsidentin gepusht hat: die Reform der KMK, ihres Sekretariats und ihrer Abstimmungsmodalitäten. 

 

In diese Richtung werde ich bis Jahresende weiter arbeiten. Wir brauchen eine geschlossene KMK, die klare Botschaften sendet und die in der Lage ist, starke gemeinsame Positionen zu entwickeln, auch in den Verhandlungen mit dem Bund um Startchancen oder Digitalpakt. Und ich bin gespannt auf den Bericht der Strukturkommission.

 

Bedeutet das abseits nett klingender Appelle, dass Sie sich für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips bei allen Grundsatz- und finanzwirksamen KMK-Entscheidungen einsetzen werden?

 

Ich gebe zu, das war in den ersten fünf Wochen meiner KMK-Präsidentschaft noch kein Thema, aber ich bin sicher, dass es das bei den nächsten Sitzungen sein wird. Natürlich gibt es Themen, wo eine Einstimmigkeit notwendig ist, aber gleichzeitig würde der KMK etwas mehr Flexibilität auch guttun. 


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