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Ein Forum für die "Next Generation University"

Müssen wir in einer Welt der Krisen nicht auch die Universitäten neu denken? Und wenn ja, was bedeutet das? Ein Plädoyer für ein "Davos der Wissenschaft" von Manfred Nettekoven.

Manfred Nettekoven ist seit 2006 Kanzler der RWTH Aachen und verantwortet damit alle Bereiche der Verwaltung. Foto: Peter Winandy/RWTH Aachen.

OB GLOBAL ODER REGIONAL: An Emergency-Einsatzfeldern für eine wirksame Wissenschaft mangelt es nicht. Wir sehen eine historisch einmalige Koinzidenz von weltumspannenden Krisen: geopolitischer Wandel, Stresstest für Demokratien, Klimawandel und neue Existenzbedingungen wesentlicher westlicher Industrien. Parallel dazu müssen ganz massive regionale Umbrüche wie der Strukturwandel im Rheinischen Revier oder der Lausitz bewerkstelligt werden. 

 

Wie selbstverständlich geben sich die 422 Hochschulen in Deutschland in dieser Lage als die Problemlöser, und es stimmt ja auch: Akademische Ausbildung, Grundlagenforschung, Schlüsseltechnologien, Forschungstransfer leisten einen maßgeblichen Beitrag zu Fortschritt und Wohlstand in unserem Land. Nur dürfen die Hochschulen dabei nicht die Frage ausblenden, was die Verwerfungen der vergangenen 15 Jahre eigentlich mit ihnen selbst machen. Angefangen mit der Lehmann-Krise über Dieselgate und Klimafolgen, die sich nicht mehr leugnen lassen, bis hin zum Demokratie-Sterben, einer anderen Weltordnung und dem Krieg in der Ukraine: Müssen wir nicht viel intensiver diskutieren, was all das für das Wissenschaftssystem bedeutet? Brauchen wir am Ende zur Bewältigung all der neuen Probleme nicht auch ein anderes, ein neues System, andere Universitäten, eine "Next Generation"?

 

Globale Wirtschaftsfragen werden beim Weltwirtschaftsforum in Davos diskutiert, internationale Sicherheitspolitik auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Wo bleibt das Pendant für die Wissenschaft, der große Diskurs der Universitäten? Die Wissenschaftsszene muss endlich einen Denk- und Experimentierraum bekommen, der ihrer großen Verantwortung für die Gesellschaft gerecht wird und in dem das Bestmögliche aus den Institutionen zu Tage gefördert werden kann. Es muss selbstverständliche Praxis werden, dass Perspektiven, Lösungsansätze und Best-Practice-Modelle zusammengeführt werden. Dafür braucht es ein paneuropäisches Forum – ein "Davos der Wissenschaft" – auf dem Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, forschende Industrie, Politik, NGOs und Young Academics gemeinsam eine "Next Generation University" entwickeln können. 

 

Wer den Entwicklungen hinterherhinkt,
kann sich kaum als Gestalter positionieren

 

Denn wenn wir uns der Bestandsaufnahme stellen, dann finden wir eine Vielzahl von durch Regeln geprägte Strukturen, die es den Institutionen nahezu unmöglich machen, mit der heutigen Veränderungsgeschwindigkeit Schritt zu halten. Wer aber den Entwicklungen hinterherhinkt, kann sich kaum als Gestalter positionieren.

 

Hinzu kommt bisweilen der Eindruck einer viel zu stark ausgeprägten Selbstreferenziertheit. Die rasante Entwicklung eines COVID-19 Impfstoffes hat zwar gezeigt, welches Potenzial im Wissenschaftssystem schlummert. Aber schon dass wir es so oft als ermutigendes Beispiel anführen, zeigt seine Außergewöhnlichkeit. Braucht es immer erst eine Katastrophe, eine Pandemie, um den Elfenbeinturm einzureißen und die Potenziale der Orchestrierung voll auszuschöpfen? Und wenn Universitäten sich dann einmal an innovative Strukturen heranwagen, fehlt bisweilen Ermöglichungsgeld, wie es beispielsweise in den USA mit überzeugter Selbstverständlichkeit alltäglich ist. 

 

Deshalb: Wir brauchen andere Universitäten mit neuen, dynamischeren Rahmenbedingungen! Wir brauchen Institutionen, die strategisch denken und schnell handeln, die selbstkritisch und veränderungswillig sind, die ein zeitgemäßes Verständnis von ihrer Rolle in der Wissensgesellschaft haben und eng mit den weiteren forschenden Einrichtungen, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Politik verknüpft sind. 

 

Was könnte ein erster Schritt zum Reset der Universitäten sein? Es braucht jedenfalls eine Initiative, es braucht Gestalterinnen und Gestalter, die das Big Picture formulieren wollen, die die Chance sehen, Strukturen für die Next Generation University zu definieren. Es braucht eine Lebendigkeit und den Veränderungswillen derer, die die universitäre Landschaft der Zukunft prägen wollen, die nächste Generation der Innovatoren und derjenigen, die ihnen zu Seite stehen.

 

Die RWTH möchte wertvoller Innovationstreiber sein und empfindet deshalb die Verantwortung, eine solche "Next Generation University"-Initiative als dreistufigen Prozess zusammen mit all den europäischen Universitäten zu starten, die sich der Herausforderung stellen möchten. 

 

Wir freuen uns über Mistreiterinnen,
Mitstreiter und kluge Ideen

 

Ob Studierende, Lehrende, Forschende, Hochschulangehörige oder Externe: Wir freuen uns über Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die in einem Thinktank kluge Ideen entwickeln wollen, wie das Wissenschaftssystem und insbesondere die Universitäten umgebaut werden könnten. Gestartet haben wir diesen Prozess mit ersten Fragen zu Translation, Sprunginnovationen und dem Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Medien.

 

Die Ergebnisse und Impulse aus dem Thinktank sollen dann auf einem jährlichen "Next Generation University-Summit" – dem oben geforderten "Davos der Wissenschaft" – in die Breite getragen werden. Zielgruppe: Entscheider und Akteure des europäischen Wissenschaftssystems. Also Menschen, die die Zukunft gestalten wollen.

 

Die dritte und entscheidende Stufe der Initiative ist erreicht, wenn die guten Ideen nicht nur erdacht und verbreitet werden, sondern zur Methode werden und reale Veränderungen auslösen. Langfristiges Ziel ist daher das Schaffen von Experimentierräumen an der RWTH und ihren Partner-Universitäten, die die vielversprechendsten Ideen real austesten. Dann wären wir ihr ganz nah, der Vision der Next Generation University.  


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Kommentare: 6
  • #1

    Karla K. (Dienstag, 27 Juni 2023 22:52)

    Da trifft es sich ja gut, dass die Deutsche Gesellschaft für Psychologie heute ihren Bericht

    "Anreizsystem, Machtmissbrauch und Wissenschaftliches Fehlverhalten. Eine Analyse zum funktionalen Zusammenhang zwischen strukturellen Bedingungen und ethischem Verhalten in der Wissenschaft"

    vorgelegt hat - als Programm mit einer Vielzahl an Ansatzpunkten für Veränderungen, um Hochschule tatsächlich zukunftsfähig zu gestalten. Wer sich auf diesen Weg macht, ist wirklich Innovationstreiberin. Und alles Weitere wird sich ergeben (ganz ohne Selbstberauschung und Management-Buzzword-Sprech).

    Den Verantwortlichen des Berichts sei auf diesem Wege sehr herzlich gedankt.


    Auch vorliegend passend der Abschluss des Begleitworts zum Bericht:

    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern." (Erich Kästner)

  • #2

    Christiane J. (Mittwoch, 28 Juni 2023 11:45)

    Danke für den anregenden Gastbeitrag und den Blick über das System.
    Die Analyse, dass wir in einer gesellschaftliche Transformationsphase mit hoher Dynamik und weitreichendem Verwerfungspotenzial auch das Wissenschaftssystem besser, zukunftsfähiger aufstellen müssen, würde ich teilen. Insbesondere eine Rollenklärung gerade an den Nahtstellen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft wäre nützlich und hilfreich.
    Die Lösungsidee, die im Kern in einen organisierten Diskurs bei Kollaboration mündet, ist systemimmanent und passend. Und doch mutet es seltsam an, wenn für dieses paneuropäische Forum explizit Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, forschende Industrie, Politik, NGOs und Young Academics angesprochen werden und die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften als wichtige und vergleichsweise schnell agierende Player im Wissenschaftssystem mit ihrer praxisorientierten Forschung und dem Know-How im Transferbereich nicht vorkommen.
    Ein Forum, das sich der Veränderung des Wissenschaftssystems verschreibt, sollte das ganze System in den Blick nehmen.

  • #3

    Nereus (Mittwoch, 28 Juni 2023 14:49)

    Ist witzig. Da wird die "next generation university" propagiert und im ersten Kommentar geht es um Machtmissbrauch, Ethik und Fehlverhalten. Typisch Deutsch möchte man sagen. Selbstbeschäftigung halt. Offenbar ist die Universität oft ein selbstreferentielles System, das sich um Wirksamkeit nicht kümmert. Es geht doch, wie Manfred Nettekoven es beschreibt, darum, den Beitrag der Universitäten für eine Welt in Unsicherheiten, Verteilungskämpfen und einer rasenden technologischen Entwicklung neu zu definieren. Der Zweck der Universitäten richtet sich nach außen, nicht nach innen. Da die Bürger die Universitäten bezahlen, muss die Leistung der Universitäten auch dem Bürger zu Gute kommen. z.B. in sehr guten Kliniken, in Technologie, in Wohlstand, in Kunst, in den Geisteswissenschaften. Die Wirksamkeit von Hochschulen muss bei Ausbildung und Forschung deutlich steigen. Irgendwann sollte man diese Leistung auch mal messen können. Ich bezweifle, dass sich das viele HochschullehrerInnen bewusst machen, dass ihr jeweiliger Lehrstuhl Geld kostet und der Staat und die Bürger dafür etwas haben wollen. Was ist denn eigentlich der volkswirtschaftliche Beitrag der Universitäten? Es reicht nicht, 400 mal an 400 Hochschulen im Grunde das gleiche / selbe Basiswissen zu vermitteln. Das kann die KI bald besser. Es geht jeweils um das Besondere, was dabei hilft, unsere Gesellschaft im Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften und Regionen zu stärken. Daher finde ich die Initiative der RWTH super. Hoffentlich wird sie nicht verkopft zerredet.

  • #4

    Karla K. (Mittwoch, 28 Juni 2023 17:59)

    zu #2

    "Und doch mutet es seltsam an, wenn [...] die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften [...] nicht vorkommen."

    Seit wann ist es überraschend, dass manche Universitätsleitung sich "Fachhochschule" nicht als Gesprächs-, geschweige denn als ernst zu nehmende Kooperationspartnerin vorstellen kann? "Mit welchem Mehrwert sollte man einen Regionalligisten in der Champions League mitspielen lassen?" wird sich da so mancher Fragen.

    Wer (quasi-global) am großen Rad drehen und mit anderen wichtigen Jungs spielen will, schaut doch nicht, ob lokal das kleine Schwesterchen für irgendetwas Vorbild sein könnte.

    Der Ansatz: eurozentriert, exklusiv-elitärorientiert, forschungsfixiert, top-down-agierend. Ist die Frage, wie viel diese Methode zur Gestaltung der Zukunft taugt, oder ob sie vielleicht eher Teil des zugrundliegenden Problems ist.

    Da der Bogen geschlagen wird: 2022 lag der Frauenanteil beim Weltwirtschaftsforum in Davos bei 24 %, nicht besser sieht es bei der Münchner Sicherheitskonferenz aus (wer erinnert sich nicht an das vielsagende Foto vom CEO-Lunch im vergangenen Jahr?). Wie hoch ist doch gleich noch der Professorinnenanteil? Vorbild? Lösung? Oder Problem?


    zu #3

    Nein, der Hinweis zielte nicht selbstreferentiell auf die hochschulinterne Selbstbeschäftigung mit dem Thema "Machtmissbrauch und Fehlverhalten", sondern auf das umfangreiche Programm des Berichts als Grundlage, Hochschule konstruktiv neu zu denken. Es handelt sich dabei halt um einen grundlegend anderen Ansatz, wie die "Hochschule der Zukunft" ausgestaltet sein könnte - um ein Raum zu sein für Kreativität, Entfaltung, Wertschätzung, Kooperation, (Selbst-) Wirksamkeit, Innovation etc.

    Warum braucht es ein "Davos der Wissenschaft", um Denk- und Experimentierräume zu schaffen? Wer ist denn die abstrakte "Wissenschaftsszene", die diese Räume bekommen soll? Wofür? Die Schaffung von Experimentierräumen an Hochschule wäre von jetzt auf gleich möglich, vor Ort, für Studierende, für Wissenschaftler:innen, ohne Umwege. Es bräuchte nur den Willen. Also müsste man sich die Frage stellen, wer warum ein Interesse an diesen Umwegen hat.

    Ergibt es Sinn, Wirtschafts- und Politikversagen (als neues Phänomen?) zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen und die Leistung von Hochschule klein zu reden, wenn ein zentrales Problem vielleicht gar nicht die Leistung der Hochschulen ist, sondern das Aufgreifen von wissenschaftlicher Erkenntnis durch Wirtschaft und Politik? Fehlende Anschlussfähigkeit mag in diesem Sinne vorliegend ja durchaus ein Problem sein - in der Ausrichtung von Hochschule auf die Logik von Wirtschaft und Politik die Lösung zu sehen, um dort wirksam zu werden und dies als sinnvolle Zukunft von Hochschule zu verstehen, erscheint mir nicht erstrebenswert.

    Zur Anmerkung (von der es bei #3 weitere ähnlich ausgerichtet gibt und deren Grundidee sich durchaus auch im Uni-Bashing des eigentlichen Beitrags findet):

    "Ich bezweifle, dass sich das viele HochschullehrerInnen bewusst machen, dass ihr jeweiliger Lehrstuhl Geld kostet und der Staat und die Bürger dafür etwas haben wollen. Was ist denn eigentlich der volkswirtschaftliche Beitrag der Universitäten?"

    kommt mir in den Sinn, dass zunächst eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wissenschaftsfreiheit hilfreich sein könnte, um dann zu diskutieren, welche berechtigten Beschränkungen möglich und wichtig sind.

  • #5

    Nereus (Freitag, 07 Juli 2023 12:04)

    Zu Ihrer Einlassung: "Fehlende Anschlussfähigkeit mag in diesem Sinne vorliegend ja durchaus ein Problem sein - in der Ausrichtung von Hochschule auf die Logik von Wirtschaft und Politik die Lösung zu sehen, um dort wirksam zu werden und dies als sinnvolle Zukunft von Hochschule zu verstehen, erscheint mir nicht erstrebenswert."

    Ich empfehle das Interview mit Emmanuelle Charpentier aus der FAZ (siehe unten) Ich finde das ziemlich frustrierend, was sie sagt.
    z.B.
    "Amerikanische Institutionen verstehen sehr schnell, wenn etwas eine „gute Geschichte“ ist. Die gesamte In­frastruktur, einschließlich der Universitäten, ist gut auf die Herausforderungen eingestellt."

    oder

    "Die Europäer arbeiten jetzt zwar an einer Revision der Verbote, aber wir wissen nicht, was am Ende herauskommt. Bis jetzt jedenfalls schaden sie eher, weil sie Europas Forschern die Möglichkeit nehmen, sichere und für die Zukunft gut gerüstete Nutzpflanzen zu entwickeln. Inzwischen sind viele Unternehmen mit dem wichtigsten Teil der Entwicklung in die USA abgewandert."

    In anderen Ländern ist man offenbar schneller, konsequenter. Man denkt in Chancen und weniger in Risiken. Es gibt mehr Risikokapital. Private Stiftungshochschulen sind schneller bei Entscheidungen; Sie sind besser darin, Geld aufzutreiben aus der Wirtschaft. Und die Dinge werden schneller umgesetzt in Produkte. Das geht nur in einem Ökosystem, das Forschung, Lehre und Wirtschaft stärker integriert. Und mit einem mindset, das nicht nur erkenntnisorientiert sondern auch outputorientiert ist.

    https://www.faz.net/aktuell/wissen/nobelpreistraegertagung-laenger-als-in-deutschland-war-ich-nirgends-19008403.html

  • #6

    Laubeiter (Dienstag, 11 Juli 2023 18:06)

    Ich lese die hier präsentierte Idee für next generation universities als etwas Neues. Sehr gute Univ. in Großbritannien und Schweiz liegen in nicht-EU-Ländern. Wenn also EU- und non-EU-Univ. sich gemeinsam etwas vornehmen - ja super, los geht's! Was Charpentier der FAZ sagte, lese ich als eine subjektive und gemischte Bilanz. Wenn mediz. Crispr-Therapien weniger in EU und mehr in USA entwickelt werden, steht diese Schwäche der EU neben ihrem großen Vorsprung in der Lebenserwartung der BürgerInnen und in der Gerechtigkeit und Effizienz ihres Gesundheitssektors gegenüber den USA.