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Höchste Zeit zum Ehrlichmachen

Deutschland vernachlässigt systematisch die Zukunftschancen seiner Jugend – und meidet die Debatte darüber. Wie lässt sich die Schieflage zwischen den Generationen erklären – und gibt es Hoffnung auf Veränderung? Ein Essay.

Bild: Wokandapix / pixabay.

ANFANG VERGANGENER WOCHE schaffte es "Pickel am Po" auf die Frontseiten mehrerer Tageszeitungen und Online-Portale. Das war, nachdem der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, eine Eigenbeteiligung für Eltern gefordert hatte, die mit ihren Kindern wegen vermeintlichen Nichtigkeiten am Wochenende in den chronisch überlasteten Kinder-Notdiensten auftauchen. "Die Notfallversorgung muss auf Notfälle konzentriert werden und nicht für die Pickel am Po der Kinder, für die die Eltern unter der Woche keine Zeit haben und mit denen man dann am Wochenende beim Notdienst aufschlägt", sagte Fischbach der Neuen Osnabrücker Zeitung. 

 

Offenbar braucht es inzwischen so plastische Formulierungen, damit die dramatische Schieflage der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen überhaupt wieder einmal bundesweit Schlagzeilen macht. Insofern handelte es sich um einen strategisch geschickten Vorstoß Fischbachs, der mitten in der Sommerpause des politischen Betriebs dankbar von den Medien aufgegriffen wurde. Was allerdings nicht daraus entstand, war eine nachhaltige Debatte über die Hintergründe und Ursachen dieser Schieflage.

 

Ähnlich verhielt es sich mit der Aufregung um eine misslungene Werbeaktion des baden-württembergischen Kultusministeriums. Am Stuttgarter Flughafen wurden Reisende begrüßt mit dem Plakatslogan: "Gelandet und gar keinen Bock auf Deine Arbeit? Hurraaa! Mach, was Dir Spaß macht, und werde Lehrer*in". Während Lehrerverbände Sturm liefen, hier werde Lehrkräften pauschal Faulheit unterstellt, sagte die grüne Kultusministerin Theresa Schopper: "Bei uns ist niemand überhaupt nur auf die Idee gekommen, Lehrkräfte mit dem Attribut faul in Verbindung zu bringen." Der Slogan werde jetzt abgeändert.

 

Nicht einmal mehr der
Anschein eines Rucks

 

Auch dieser Ärger hätte Anlass sein können, um eine bundesweite Debatte über eine Schieflage anzuzetteln. Eine Debatte darüber, wie groß der Lehrkräftemangel inzwischen sein muss, dass Ministerien sich überhaupt auf derart eigenartige PR-Stunts einlassen. Doch auch diese Chance wurde verpasst: Nach Transport der offiziellen Empörungsperspektive verschwand das Thema wieder aus den Medien.

 

Die immer gleichen Meldungen über all die tausenden und abertausenden unbesetzten Lehrerstellen bundesweit haben die Öffentlichkeit längst abstumpfen lassen, so scheint es. Oder waren es die seit Jahren regelmäßigen Berichte, dass Deutschlands Schüler immer schlechter lesen, schreiben und rechnen können, wie zuletzt im Mai nach Veröffentlichung der neuen IGLU-Ergebnisse? Die jedes Mal noch ein kurzes Aufblitzen erzeugen, aber nicht einmal mehr den Anschein eines Rucks durchs Land gehen lassen?

 

Vielleicht haben die regelmäßigen Nicht-Debatten über die Zukunftschancen der jungen Generation aber auch einen anderen Grund. Vielleicht gibt es ja eine gemeinsame Ursache für die Unterfinanzierung von Kindermedizin, für den Mangel an Psychotherapieplätzen für Kinder und Jugendliche, für das jahrelange Vorbeiplanen der Landesregierungen an einem absehbar drohenden Lehrermangel, für die Versuchung von Finanzpolitikern in Land und Bund, Haushaltslöcher häufig überproportional auf Kosten der Jugend und ihrer Familien zu stopfen?

 

In so einer Gesellschaft muss eine Bildungsmilliarde
als Gipfel des Machbaren erscheinen

 

Sprachkitas, BAföG, Bundeszentrale für politische Bildung: Die Liste vollzogener oder diskutierter Kürzungen lässt sich fast beliebig fortsetzen. Sie gipfelt in der Art und Weise, wie das BMBF das Ampel-Versprechen eines Bildungs- und Chancenaufbruchs längst in ein doppeltes Zeitspiel verwandelt hat: um das einst so groß angekündigte und längst grenzwertig geschrumpfte Startchancen-Programm genau wie um die Fortsetzung des Digitalpakts. Ein Finanzminister, der eine einzige zusätzliche Bildungsmilliarde pro Jahr als Großzügigkeit der jungen Generation gegenüber verkauft, sekundiert von der Bundesbildungsministerin, sendet damit zugleich eine brutal ehrliche Botschaft: In einer politisch-gesellschaftlichen Gemengelage, in der die Chancen der jungen Generation so wenig Priorität genießen, ist mehr eben nicht drin. Da muss eine Bildungsmilliarde mehr bereits wie der Gipfel des Machbaren erscheinen. 

 

Es ist diese politisch-gesellschaftliche Gemengelage, die an die Stelle notwendiger Debatten nur noch ein indifferentes Achselzucken setzt. Und wer dafür die Politik verantwortlich macht, übersieht Wesentliches. Das Wesentliche sind wir alle, eine Gesellschaft, die in ihrer Überalterung die Sicherheitsinteressen der Älteren, der Arrivierten über das Eröffnen von Entwicklungsoptionen für die Jungen setzt. Eine Prioritätensetzung, die von einer Politik, die wiedergewählt werden will, dann nur umgesetzt wird. 

 

In dieser Gesellschaft leben in nur noch jedem fünften Haushalt Menschen unter 18, in jedem dritten aber Menschen über 65. Es ist eine Gesellschaft, die seit vielen Jahren trotz zahlloser anderslautender Versprechungen kaum darüber hinauskommt, drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Schulen und Kitas auszugeben, aber es sich in voller Kenntnis ihrer demographischen Entwicklung geleistet hat, eine Rente mit 63 einzuführen. Die es in der Corona-Zeit für richtig hielt, Kindern wochen- und monatelang das Recht auf Bildung und Teilhabe einzuschränken, während den viel gefährdeteren Älteren längst der Gang ins Restaurant wieder offen stand – und die Büros nie geschlossen wurden. 

 

Demografie als Erklärung,
nicht als Entschuldigung

 

Doch auch wenn die Demografie eine Erklärung bietet, so taugt sie doch nicht als Entschuldigung. Dass alternde Gesellschaften andere politische Pfade einschlagen können und sich, nebenbei gesagt, langfristig durch eine dadurch verursachte Steigerung der Geburtenrate auch noch jünger halten, zeigt etwa der Blick ins benachbarte Ausland. Dänemark gab 2022 laut dem Industriestaatenverband OECD 3,6 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Kitas und Schulen aus, Schweden 3,9 Prozent, selbst Frankreich kam auf 3,7 Prozent. Deutschland: 3,1 Prozent. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Allein um auf das französische Niveau zu kommen, wären pro Jahr nicht eine zusätzliche Bildungsmilliarde nötig, sondern 23. Wie schaffen die, was wir nicht schaffen?

 

Ich habe drei Erklärungen anzubieten. Erstens: Die frühkindliche, vorschulische Bildung hat sich in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zwar qualitativ und quantitativ dramatisch weiterentwickelt, doch immer wieder stößt sie auf kulturelle und finanzpolitische Vorbehalte. Sie ist längst nicht so selbstverständlich und finanzpolitisch obligatorisch wie anderswo, ebenso wenig wie es der (gebundene) Ganztagsunterricht es hierzulande ist mit all dem, was Schulen drumherum dann anbieten. Man denke nur an die indiskutable Umsetzung des bereits verschobenen Rechts auf Ganztag für Grundschüler ab 2026, von Ganztagsbetreuung im Übrigen, nicht von Ganztagsbildung.

 

Doch das Problem ist, dass diese Erklärung keinerlei Anhaltspunkte liefert, warum Deutschland auch außerhalb der Bildung das Wohl seiner Jugend so viel weniger wert ist als etwa den skandinavischen Ländern, die hier Gradmesser für uns sein sollten. Was mich zu Erklärung Nummer zwei bringt, die ich schon kurz angedeutet hatte: Deutschland ist eine strukturkonservative Gesellschaft, die jede Form von Veränderungen erst einmal als Risiko ansieht und Investitionen ins Morgen meidet, sobald sie für das Heute Einschränkungen bedeuten würden.

 

Die Gleichberechtigung von Frauen geht einher mit
mehr Gleichberechtigung der Generationen

 

Weshalb sich drittens in Deutschland auch der Weg der Frauen zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung so viel steiniger gestaltet als in fast allen anderen westeuropäischen Ländern. Hier schließt sich für mich der Kreis zu Erklärung Nummer 1: Dort, wo Frauen gleichberechtigt sind, spielen frühkindliche Bildung und Ganztagsschule eine tragende Rolle, dort sind Ausgaben für hochwertige Bildungs- und Betreuungsangebote eine Grundverpflichtung des Staates und nichts, worüber sich in Zeiten knapper Kassen diskutieren ließe.

 

Wer sich im Übrigen fragt, warum die skandinavischen Ländern in Sachen Corona-Schulschließungen im Schnitt deutlich liberaler vorgingen, findet, so meine These, hier ebenfalls seine Antwort: wegen des größeren gesellschaftlichen Einflusses von Frauen und ihrer Belange. Die OECD vermerkte schon 2021 in ihrem Bericht "Bildung auf einen Blick": "Schulschließungen dauerten in Ländern mit schlechteren Lernergebnissen tendenziell länger an." Wobei Deutschland eines der wenigen Länder war, die 2021 die Schulschließungen gegenüber 2020 sogar noch verschärften, so dass die Bundesrepublik im zweiten Corona-Jahr in Sachen Schulschließungen von 48 verglichenen Ländern nur noch von Mexiko, Litauen und Chile übertroffen wurde. 

 

Ist Deutschland in Sachen Generationengerechtigkeit also ein hoffnungsloser Fall? Ich hoffe nicht. Und ich sehe ebenfalls drei Anhaltspunkte, die mich verhalten optimistisch stimmen.

 

Erstens: Die geplante Senkung der Einkommensgrenze fürs Elterngeld hat eine Diskussion übers Ehegattensplitting ausgelöst. Die Forderung nach dessen Abschaffung, um damit das Elterngeld in seiner bisherigen Form zu finanzieren, war natürlich für die politische Galerie, da ohne jede Realisierungschance. Ich hielte die Lösung darüber hinaus für falsch. Das Ehegattensplitting muss weg, ja. Aber im Sinne der Generationengerechtigkeit gehört mit seiner Abschaffung ein Familiensplitting finanziert, das Familien abhängig von der Kinderzahl besserstellt und nicht Ehen unabhängig von der Kinderzahl. Es gilt, das Debattenfenster, das sich hier auftut, entsprechend zu nutzen. In der nächsten Legislaturperiode gehört das Familiensplitting oben auf die Agenda – ein Anfang ist getan. Dass es darüber hinaus sinnvoll wäre, im Sinne der Gleichstellung das Elterngeld mit seinen bisherigen Einkommensgrenzen zu belassen, ist eine andere Sache. Aber nicht gegenfinanziert über die Milliarden fürs Ehegattensplitting, die, siehe oben, für eine andere Reform gebraucht werden. 

 

Mahnende Stimmen, 
die einen Anfang machen

 

Zweitens: Eine Herabsetzung des Mindestwahlalters auf 16 wird seit Jahrzehnten diskutiert und liegt bei Bundestagswahlen noch in weiter Ferne. Bei Kommunal- und Landtagswahlen aber ist es in einigen Bundesländern mittlerweile Realität, das verschiebt das gesellschaftliche Machtgefüge – ein wenig – zugunsten der Jugend. Irgendwann wird dieses Momentum auch die Bundesebene erreichen.

 

Drittens: Gerade hat eine Gruppe von Ökonomen die Abschaffung der Rente mit 63 gefordert. Der von SPD, Grünen und FDP geplante weitere Ausbau der gesetzlichen Rente werde nur dann langfristig finanzierbar sein, wenn sich die Koalition gleichzeitig zu einigen empfindlichen Einschnitten entschließe, schreibt der Mannheimer Volkswirt Eckhard Janeba laut FAZ in einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Janeba ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Wrtschaftsministerium, und der mahnt die Politik: Falls es nicht den Willen zur Abschaffung insgesamt gebe, sollte die Rente ab 63 zumindest auf die wirklich Bedürftigen beschränkt werden. Entgegen landläufiger Meinung werde die Regelung nämlich "überwiegend von gut gebildeten, überdurchschnittlich verdienenden und gesünderen Menschen in Anspruch genommen". Auf die Kosten der jungen Generation, wie Janeba plastisch ausführt: "Die Gefahr ist groß, dass dadurch die Finanzierung von Zukunftsaufgaben verdrängt wird, etwa der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft, aber auch vermehrte Bildungsanstrengungen und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur."

 

Oder wie der Wirtschaftswissenschaftler Christian Lessmann von der Technischen Universität Dresden auf dem vormals Twitter genannten Nachrichtendienst "X" übersetzte: "Wenn da nicht in dieser Legislaturperiode ernsthaft gegengesteuert wird, dann wird das nix mit der Integration von Immigranten, Bildungsoffensive, Reduktion von Treibhausgasen usw. Die (weniger werdenden) Jungen zahlen dann für die Alten und wir sind gelähmt. Geld alle." Mein einziger Einwand: Ich glaube, an dem Punkt sind wir längst.

 

Ansonsten sind es diese Stimmen eines gesellschaftlich-politischen Ehrlichmachens, die wir jetzt vermehrt brauchen. Dass es sie gibt, macht mir Hoffnung, dass die gesellschaftliche Indifferenz in Sachen Generationengerechtigkeit nicht das letzte Wort sein muss.


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Kommentare: 4
  • #1

    Working Mum (Montag, 14 August 2023 09:15)

    Volle Zustimmung, bis auf die Einleitung. Der Vorschlag von Herrn Fischbach, verunsicherte und vielleicht in Teilen überforderte Eltern zur Kasse zu bitten, zielte eben nicht auf die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems für junge Patient*innen ab, sondern verschob die Verantwortung für gesellschaftliche Missstände auf die Ebene der Individuen. Eine Argumentationsfigur, die man in Deutschland häufig beobachten kann und die eben den erforderlichen Ruck lähmt, weil wir nicht als Gesellschaft angesprochen werden, sondern als Einzelne, die es besser machen müssten.

  • #2

    N. Dehne (Mittwoch, 16 August 2023 11:00)

    Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag!

  • #3

    André Baier (Mittwoch, 16 August 2023 11:21)

    boah, diese Zahlen kamen ja hier schon immer mal wieder im Blog auf, aber wenn man sie mal so geballt liest, da kann einem nur schlecht werden - und man fragt sich halt wirklich: was soll das ganze?

    danke für diese klare stimme!

  • #4

    M Schmidt (Dienstag, 22 August 2023 17:20)

    "für die Versuchung von Finanzpolitikern in Land und Bund, Haushaltslöcher häufig überproportional auf Kosten der Jugend und ihrer Familien zu stopfen? "
    Auch wenn im Artikel gesagt wird, dass dringend bei den Renten zu sparen sei, so haben die Rentner seit den 1960er Jahren insgesamt etwa 1 Bio dadurch ins System gezahlt, dass die versicherungsfremden Leistungen nicht vollständig durch Steuern gedeckt worden sind.