Stehen die Startchancen-Verhandlungen vor dem Durchbruch oder auf der Kippe? Wer hat welche Interessen? Und wie geht es jetzt weiter? Eine Analyse.
DIE VERGANGENEN TAGE ging es wieder einmal hoch her in Sachen Startchancen-Verhandlungen. Während BMBF-Staatsekretärin Sabine Döring und ihre vier Länderkollegen in der gemeinsamen Verhandlungs-AG pragmatisch an Lösungen arbeiteten, warf FDP-Fraktionschef Christian Dürr den Kultusministern im Bundestag "Mimimi" in Sachen Startchancen vor. Einige Kultusminister wiederum machten intern ihrem Ärger Luft, dass Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (ebenfalls FDP) ihre verhandelnde Staatssekretärin mit so wenig Prokura ausgestattet habe, dass diese bei allem guten Willen oft nur vorläufig-unverbindliche Aussagen habe machen können. Was wiederum die Gespräche deutlich verlangsamt habe.
Für Irritationen sorgte, als das BMBF am Dienstagabend kurzfristig zu einem Presse-Hintergrundgespräch über die Startchancen unter Beteiligung (aber offenbar nicht auf Betreiben) von Döring einlud, obwohl mit den Ländern Stillschweigen über den Gesprächsverlauf vereinbart worden war. Mit dem Ergebnis, dass das BMBF den Termin wenige Stunden später wieder absagte, für den Tag darauf erneut einlud, nochmal verschob – und der Termin schließlich am Donnerstagabend gemeinsam mit den Ländern stattfand.
Doch was bedeutet das nun alles? Bei der Bewertung des erreichten Verhandlungsstands gehen die Meinungen auseinander – und zwar auch zwischen den Ländern.
"Die Gespräche mit dem BMBF in den vergangenen Tagen, die unsere Staatssekretäre geführt haben, waren nicht immer ermutigend", bilanziert Hessens Kultusminister Alexander Lorz, der die Bildungspolitik der CDU-regierten Länder koordiniert.
Sein Konterpart von der SPD, Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, lobt dagegen, die Verhandlungs-AG habe in der parlamentarischen Sommerpause "sehr gut zusammengearbeitet und zahlreiche Vereinbarungen erzielt. Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass die letzten offenen Fragen in den nächsten Tagen geklärt werden können. Ich freue mich sehr über diese positiven Verhandlungen."
Bestimmt das Sein das
Startchancen-Bewusstsein?
Das Sein – die Partei des einen in der Bundestags-Opposition, die des anderen Teil der Ampelkoalition – bestimmt das Bewusstsein, sprich die Wahrnehmung des Erreichten?
Fest steht: Genau in dieser Gemengelage müssen die Länder und Bund bis zur nächsten Sitzung Kulturministerkonferenz Mitte Oktober auf die Startchancen-Eckpunkte einigen, damit deren ohnehin schon später Start im August 2024 nicht in Gefahr gerät. Dass der derzeitige Entwurf trotz vieler Fortschritte noch wichtige Streitpunkte enthält, scheint dabei das kleinere Hindernis zu sein.
Das größere steht gar nicht in den Eckpunkten. Lange bestand es aus Sicht praktisch aller Länder in der vermeintlichen Weigerung des BMBF, ihnen klare Zusagen zur Zukunft des Digitalpakts zu machen. So hatte etwa SPD-Politiker Rabe noch im Juli zu Protokoll gegeben: "Wenn die Bundesregierung jetzt aus dem Digitalpakt aussteigt, können mehrere Millionen neu angeschaffte Tablets, Laptops, digitale Tafeln und Server ab 2024 weder gewartet noch modernisiert und ersetzt werden."
Das Argument der Länder: Eine gleichzeitige Startchancen-Kofinanzierung bei einem gleichzeitigen Wegfall der Bundesmittel für die Digitalisierung wäre angesichts der Haushaltslage vieler Länder nicht leistbar – zumal sich der Bund auch an anderer Stelle, namentlich bei der Versorgung und Beschulung geflüchteter Kinder und Jugendlicher, finanziell einen schlanken Fuß mache.
Deshalb hatte die KMK im Juli parteiübergreifend lautstark vor einem Platzen des Digitalpakts 2.0 gewarnt. Denn obwohl die erste Phase im Frühjahr 2024 ausläuft, ist bislang im Bundeshaushalt 2024 kein einziger Euro für eine Anschlussfinanzierung eingestellt – und auch nicht für die im Ampel-Koalitionsvertrag versprochene Fortsetzung.
SPD-Senator Rabe ist jetzt viel
optimistischer als noch im Juli
Trotzdem sagt Rabe jetzt auf Anfrage: "Als Sprecher der SPD-Bildungsministerinnen und -minister gehe ich davon aus, dass das Bundesbildungsministerium und die Bundesregierung wie vereinbart auch den Digitalpakt ab dem Jahr 2025 fortsetzen werden." Und er lobt Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger dafür, dass sie sich "klar für die Fortsetzung des Digitalpaktes einsetzt".
Ein demonstrativer Optimismus, der in einem auffälligem Gegensatz zu den Forderungen steht, die aus der CDU laut werden. Ein Spitzengespräch mit Stark-Watzinger noch vor der KMK-Sitzung im Oktober sei in dieser entscheidenden Verhandlungsphase dringend nötig. "Wir brauchen jetzt dringend eine starke Bundesbildungsministerin", sagt Schleswig-Holsteins CDU-Bildungsministerin Karin Prien, "die sich auch im Kabinett nachdrücklich gleichermaßen für mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland einsetzt." Das gemeinsame Bekenntnis von Bund, Ländern und Kommunen zur Digitalisierung der Schulen müsse verlässlichen Bestand haben. Und Prien fügt hinzu: "Frau Stark-Watzinger kann sich nicht mehr wegducken. Wenn sie wirklich will, dass die Startchancen pünktlich starten, muss sie sich jetzt mit uns zusammensetzen." Nur dann ließen sich die offenen Punkte verlässlich abräumen – und die Irritationen beim Digitalpakt überwinden.
Die Länder seien dem Bund bei den Verhandlungen "inhaltlich erneut sehr konstruktiv begegnet", sagt auch Hessens Kultusminister Lorz. "Jetzt liegt es in der Hand der Bundesbildungsministerin, ebenfalls Zeichen zu setzen und die Verhandlungen damit endlich mit substantiellen Vorschlägen voranzubringen."
Einig sind sich die Kultusminister aller Couleur, dass ihnen die Pakt-Neuauflage, und zwar mindestens in gleicher Höhe (=eine Milliarde Euro Bundesgeld pro Jahr) wie bislang, genauso wichtig ist wie die Startchancen. Einigen, so scheint es, sogar noch wichtiger.
Keine Startchancen-Einigung
ohne formale Digitalpakt-Zusage?
Zumindest einige unionsregierten Länder wollen jetzt offenbar sogar so weit gehen, den Startchancen-Abschluss von einer formalen Digitalpakt-Zusage abhängig zu machen. Das will Lorz' Kollegin Prien zwar nicht bestätigen, sagt aber: "Die Hinhaltetaktik der Bundesregierung beim Digitalpakt zerstört viel Vertrauen in Ländern, Kommunen und den Schulen. Sie muss vor der endgültigen Verabredung zum Startchancen-Programm ausgeräumt sein."
Bettina Stark-Watzinger reagierte noch am Freitag auf die Forderungen aus der Union: "Die Verhandlungen über das Startchancen-Programm werden seit Beginn auf Staatssekretärsebene geführt. Hierfür haben die Länder eine eigene Verhandlungsgruppe gebildet. Angesichts der Fortschritte bei den Verhandlungen gibt es für das BMBF keinerlei Anlass, daran etwas zu ändern", sagte eine Sprecherin auf Anfrage. Es sei nicht überraschend, dass bei komplexen Vorhaben wie dem Startchancen-Programm die Positionen in der Schlussphase der Verhandlungen in manchen Punkten noch auseinander lägen. "Gemeinsames Ziel ist, dass das Startchancen-Programm zum Schuljahr 2024/25 starten kann." Die Verhandlungen zum Digitalpakt 2.0 seien davon unabhängig. Das BMBF habe dabei immer betont, dass dessen Start nicht vor 2025 erfolgen könne. "Die Bundesbildungsministerin hat mehrfach öffentlich betont, dass sie sich mit Nachdruck für den Digitalpakt 2.0 einsetzt."
Rückendeckung erhält Stark-Watzinger von SPD-Senator Rabe. Ein Junktim zwischen dem Startchancen-Programm und dem Digitalpakt mache wenig Sinn, "weil wir mit dem Startchancen-Programm nicht bis zur Fortsetzung des Digitalpaktes 2025 warten können." Er setze auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern "und verlasse mich daher auf die Zusage, dass der Digitalpakt fortgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund hoffe ich sehr, dass alle Länder dem jetzt ausverhandelten Startchancenprogramm zügig zustimmen."
Was Rabe allerdings auch sagt: dass es "überdies hilfreich" sei, "wenn auch die Bundesregierung sowie die Regierungsfraktionen sich genauso klar für den Digitalpakt aussprechen." Dringen hier bei aller pragmatischen Ampel-Solidarität doch Zweifel durch?
Schwerer Abschied
von der Gießkanne
In der Parlamentsdebatte zum Haushalt 2024 erwähnte Stark-Watzinger am Donnerstagabend die Digitalpakt-Fortsetzung erwartungsgemäß nicht, verband ihr Bekenntnis zu den Startchancen aber mit dem Vorwurf an CDU-Parteichef Friedrich Merz, er habe "allen Ernstes" gefordert, "dass der Bund kein Geld mehr für Bildung gibt". Und sie versicherte: "Wir unterstützen die Länder auf jeden Fall. Denn uns sind die Kinder wichtig in unserem Land."
Unter öffentlichem Erwartungsdruck steht derweil nicht nur Stark-Watzinger, sondern die Länder mindestens genauso stark. Denn während das BMBF im Einklang mit weiten Teilen der Bildungsforschung eine möglichst vollständige Verteilung der Startchancen-Gelder nach sozioökonomischen Kriterien verlangte, haben sich zahlreiche Kultusminister genau dagegen von Anfang an gesperrt. Und zwar vor allem diejenigen, die bei einer solchen Verteilung den Kürzeren ziehen würden.
Mühsam hatte man sich dann im März innerhalb der KMK auf einen Kompromiss geeinigt, der einen Umverteilungseffekt nach Bedarf bringen würde – aber mit föderal angezogener Handbremse beschränkt auf fünf Prozent der Bundesmittel. Bis zuletzt gab es an dem Modell viel Kritik aus der Wissenschaft: Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) etwa rechnete erst neulich vor, dass bei Berücksichtigung der Armutsquote an den Grundschulen Bayern zum Beispiel nur 1,7 Prozent der Mittel erhalten würde statt 15,6 Prozent bei Anwendung des gewohnten Königsteiner Schlüssels. NRW 37,1 statt 21,1 Prozent, Bremen würde seinen Anteil sogar verdreifachen. Und die Wübben-Stiftung zeigte, dass an Brennpunktschulen derzeit dramatisch viel weniger Schüler die Mindeststandards in Lesen, Schreiben oder Rechnen erreichen.
Auch vor diesem Debatten-Hintergrund agiert also die "4+1"-Verhandlungsgruppe der vier Staatssekretäre aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zusammen mit BMBF-Kollegin Döring. Übrigens eine Auswahl von Ländern, die bereits jetzt mit eigenen (mehr oder weniger) Startchancen-ähnlichen Programmen ihre Brennpunktschulen unterstützen – während etliche der übrigen zwölf Länder genau das nicht tun. Etwa die Hälfte der Bundesländer hat bislang nicht einmal einen Sozialindex, der für eine bedarfsgerechte Mittelvergabe nötig ist. Gut denkbar, dass die vier Landesstaatssekretäre persönlich in der Verhandlungs-AG deshalb deutlich stärker Richtung Sozialbasierung zu gehen bereit wären (zumal sie, die WBZ-Maßstäbe angelegt, bis auf Rheinland-Pfalz alle davon profitieren würden). Aber dann, das wissen sie, dürfte sie das die Unterstützung manch anderer Kultusministerien kosten. Keine dankbare Aufgabe also.
Ein weiteres Paradoxon
im Bildungsföderalismus
Kann man die Gießkannen-Bewahrer in den Ländern dafür kritisieren? Man kann nicht nur, man muss – sollte zugleich aber realistisch genug sein zu wissen, dass da nicht mehr viel Bewegung
kommen wird. Weil der Blick der betreffenden Kultusminister ins eigene Bundesland geht und sie fürchten, bei zu viel Kompromissbereitschaft von den dortigen Schulen und politischen
Konkurrenten vorgehalten zu bekommen, sie setzten sich nicht genug für die eigenen Schüler ein. Ein weiteres Paradoxon im Bildungsföderalismus.
Und fast schon erstaunlich, dass man sich überhaupt vom reinen Königsteiner Schlüssel wegbewegt hat. Was sicherlich viel mit dem Verhandlungsgespür und der Hartnäckigkeit der fünf
Staatssekretäre zu tun hat.
Sind die Startchancen nun nur wenige Tage vom Klären der letzten offenen Fragen entfernt? Oder befinden sie sich, wenn Stark-Watzinger die Verhandlungen jetzt nicht zur Chefsache macht, in der Gefahr, noch auf der Zielgerade zu scheitern? Es scheint auf die Perspektive anzukommen. Und die hängt derzeit offenbar stark von Standort und Parteizugehörigkeit ab.
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