· 

"Ein wirkmächtiger Think Tank"

Wie sich die neue KMK-Präsidentin die Kultusministerkonferenz der Zukunft vorstellt – und was passieren muss, damit diese Vision Realität wird: ein Interview mit Christine Streichert-Clivot über Lehren aus Pisa, Reformen im Lehramtsstudium, die bildungspolitische Bilanz der Ampel – und den Umgang mit Transformation als Leitthema.

Christine Streichert-Clivot, 43, ist SPD-Politikerin und seit 2019 saarländische Ministerin für Bildung und Kultur. Foto: Ministerium für Bildung und Kultur Saarland/Holger Kiefer.

Frau Streichert-Clivot, am 1. Januar 2024 hat das Saarland turnusmäßig die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz übernommen. Sie führen die nächsten zwölf Monate lang die Geschicke des deutschen Bildungsföderalismus. Was lässt sich da als zweitkleinstes Bundesland eigentlich ausrichten?

 

In der KMK haben jeder Minister und jede Ministerin unabhängig von der Größe ihres Bundeslandes das gleiche Stimmrecht, und ich glaube, dass ich als Kultusministerin des Saarlandes sogar einen Vorteil habe. Wir führen die gesamte Bildungslandschaft aus dem Ministerium heraus, wir haben keine nachgeordneten Behörden, das heißt: Der Draht in die Praxis hinein könnte enger kaum sein. Wir erfahren immer sofort, was los ist, und wo besonderer Unterstützungsbedarf besteht. Das macht uns agiler, und diese Agilität möchte ich in die KMK einbringen inmitten ihres spannenden Transformationsprozesses, den ich in diesem Jahr gern führen und zu einem Ergebnis bringen möchte. Also: Ich freue mich auf das Jahr, natürlich bedeutet die Präsidentschaft viel Arbeit, aber auch eine ausgesprochene Ehre. Zumal ich den Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen immer als sehr inspirierend erlebe.

 

Traditionell hat jede KMK-Präsidentschaft ein Leitthema. Was wird das Ihre sein?

 

Die Bildungslandschaft steht vor einer Vielzahl komplexer und miteinander verflochtener Probleme, die eine ganzheitliche und kooperative Herangehensweise erfordern. Deshalb haben wir als Saarland uns für die Präsidentschaft auch kein fokussiertes Einzelthema gesetzt, sondern eine Leitidee für zukünftiges bildungspolitisches Handeln formuliert: "Bildung in Zeiten des Wandels - Transformation aktiv gemeinsam gestalten". In einer Zeit, in der sich die KMK genauso im Umbruch befindet wie unser Bildungssystem genauso, in der wir an verschiedenen Stellen ansetzen müssen und nicht das eine Rezept, die eine Lösung existiert, kann es für mich nur eine Leitidee geben: der mutige Umgang mit Transformation. 

 

"Der entscheidende gemeinsame Kompass muss
bei allen Veränderungen immer der Blick der Kinder
und Jugendlichen sein."

 

Klingt so richtig wie abstrakt. Was bedeutet das praktisch?

 

Wenn wir unsere Schulen durch die Zeit der Transformation leiten wollen, geht das nur gemeinsam mit den politischen Ebenen in den Ländern, Kommunen und dem Bund und in enger Zusammenarbeit mit anderen Fachkonferenzen. Weitere wichtige Themen, die die KMK im kommenden Jahr begleiten werden, sind unter anderem der allgemeine Fachkräftemangel, der nicht nur die Schulen, sondern auch die Hochschulen fordert, die Lehrkräftegewinnung und –qualifizierung, die digitale Transformation des Lehrens und Lernens und die pädagogische Weiterentwicklung von digital gestützten Lehr- und Lernprozessen, auch im Umgang mit Künstlicher Intelligenz an Schulen. Wir werden uns aber auch an der anstehenden und dringend nötigen Weiterentwicklung und Reform der KMK messen lassen müssen. Die Transformation betrifft uns als ganze Gesellschaft in all unseren Teilen. Der entscheidende gemeinsame Kompass muss bei allen Veränderungen immer der Blick der Kinder und Jugendlichen sein.

 

Was macht Sie optimistisch, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen diesen Anspruch teilen?

 

Wir sind die einzige Ministerkonferenz, die sich der Durchleuchtung durch eine Organisationsberatung gestellt hat. Aus einer Unzufriedenheit mit dem Zustand der KMK und der Langsamkeit ihrer Entscheidungen heraus. Mit dem Wunsch, viel stärker als bislang die politisch relevanten Themen zu setzen und Lösungen bereitzustellen. Optimistisch macht mich auch, dass wir schon entscheidende Schritte in die Richtung gemacht haben. Vor allem durch die Einrichtung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK), die bereits jetzt mit ihren Gutachten, Impulsen und Papieren die bildungspolitische Debatte prägt. 

 

Was muss sich als erstes ändern in der KMK?

 

Erstens hat die KMK eine viel zu große Zahl an Gremien, zum Teil ohne Einsetzungsbeschluss, die ein Eigenleben entwickelt haben in den vergangenen Jahren. Diese Gremien binden sehr viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Landesministerien und im KMK-Sekretariat. Da müssen wir ran, zumal das Gutachten von "Prognos" gezeigt hat, dass all diese Gremien untereinander kaum vernetzt sind, es kommt also zu Dopplungen, zu nicht abgestimmten Entscheidungen. Wenn die KMK ein wirkmächtiger Think Thank der Bildungspolitik werden soll, sind das die wichtigsten Stellschrauben, an die wir ranmüssen. 

 

Was heißt für Sie "Think Tank"?

 

Wir müssen das Rad nicht in jedem Bundesland neu erfinden. Wir brauchen eine Stelle, die einerseits die Zusammenarbeit der Länder effektiver organisiert und andererseits transparent macht, welche bildungspolitischen Projekte in welchen Ländern gut laufen. Für ersteres brauchen wir ein langfristiges Arbeitsprogramm, das über Jahre und mehrere KMK-Präsidentschaften hinwegreicht. Für zweiteres brauchen wir eine KMK-Verwaltung, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit und in der Lage sind, die Bildungspolitik der Länder zu begleiten und auszuwerten, anstatt in der Betreuung zu vieler Gremien festzustecken. 

 

Braucht es ein Arbeitsprogramm, das über mehrere Präsidentschaften hinwegreicht, oder braucht es eine Präsidentschaft, die über mehrere Jahre dauert? Führung erfordert Erfahrung und Zeit. 

 

Ich finde es zu früh, diese Frage zu beantworten. Fakt ist, dass die gegenwärtige Regelung die Möglichkeiten einer Präsidentschaft, langfristig zu wirken, stark einschränkt. Und ich beobachte bei vielen meiner Kolleginnen und Kollegen die Bereitschaft, längerfristig Verantwortung zu übernehmen, und sei es erstmal für einen Teilbereich, wie wir es heute schon etwa im Rahmen der länderübergreifenden Vorhaben beim Digitalpakt praktizieren.

 

"Oft würde es ja schon reichen, wenn wir
die KMK-Beschlüsse, die wir haben, so umsetzen,
dass sie auf Dauer greifen."

 

Eine andere Frage, bei der Sie und Ihre Kolleginnen gern im Allgemeinen bleiben, ist die nach den künftigen Abstimmungsmodalitäten. Muss die KMK nicht endlich weg vom Einstimmigkeitsprinzip bei allen wichtigen Fragen – weil sonst allzu oft nicht die beste Lösung gewinnt, sondern die, die am wenigsten wehtut?

 

Richtig ist, dass wir zuerst über die Struktur unserer Zusammenarbeit und unserer künftigen Agenda als KMK sprechen und zu einem Ergebnis kommen sollten, bevor wir darüber reden, ob wir einander häufiger überstimmen sollten. Sonst verzetteln wir uns und verschwenden Energie und Ressourcen, die wir gerade dringend für die inhaltliche Arbeit brauchen. Oft würde es ja schon reichen, wenn wir die Beschlüsse, die wir haben, so umsetzen, dass sie auf Dauer greifen. Zumal regelmäßige Mehrheitsentscheidungen derart stark in die Bildungshoheit der einzelnen Länder eingreifen würden, dass wir Bildungsminister uns jedes Mal mit unserem Kabinett und der Mehrheit in den Landtagen abstimmen müssten. Ob das probat wäre?

 

Welches sind denn die Themen, die Ihres Erachtens auf der längerfristigen Agenda der KMK oben stehen sollten?

 

Mit am zentralsten sind für mich die Schlussfolgerungen, die wir aus den jüngsten Pisa-Ergebnissen ziehen. Die Studie hat erneut offengelegt, dass es einen starken Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen und ihrer Herkunft gibt, wobei ich darunter viel mehr verstehen würde als nur die Frage nach ihrer Migrationserfahrung. Es geht um die sozioökonomische Situation der Familien, die soziale Schere hat sich in den vergangenen Jahren weiter geöffnet in Deutschland. Dass darüber hinaus die Pandemie eine Rolle bei der massiven Verschlechterung gespielt hat, beantwortet noch nicht die Frage, was genau da passiert ist. Für mich besteht hier wiederum ein enge Verbindung zu der sozialen Schieflage. Ein Großteil der Kinder ist gut durch die Zeit der Schulschließungen gekommen, aber bei vielen anderen fehlte die Unterstützung, sie haben starke seelische Belastungen erlitten.   

 

Was bedeutet das für die Zukunft?

 

Was es jedenfalls nicht bedeutet: dass wir auf die zunehmende Heterogenität und Diversität reagieren, indem wir versuchen, die Klassen und Schulen wieder homogener zu machen. Der Hinweis, dass es vor allem Länder mit weniger diverser Bevölkerung seien, die bei Pisa bessere Leistungen erreicht haben, mag berechtigt sein oder nicht, wenn wir jetzt stärker aufteilen, stärker gliedern, wie einige Lehrerverbände es fordern, verstärken wir die Ungerechtigkeiten weiter. 

 

Aber was dann?

 

Wir haben im Saarland mit dem Ausbau von Schulsozialarbeit und Sprachförderung die Unterstützung unserer Schulen massiv verstärkt, wir haben die Einrichtung multiprofessioneller Teams gesetzlich verankert. Das sind Erfahrungen, die ich in der KMK einbringen kann. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich die begonnene enge Verzahnung zwischen KMK und Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) 2024 fortsetzen möchte, unter anderem mit einer gemeinsamen Sitzung der Präsidien. Wir haben viele gemeinsame Themen, mit Blick auf multiprofessionelle Teams, auf den Ganztag und die Fachkräftegewinnung in den Kitas. Da ist viel Musik drin, ich werde mit Bremens Kinder- und Bildungssenatorin Sascha Karolin Aulepp, die nächstes Jahr der JFMK vorsitzt, dort weitermachen, wo unsere Vorgänger Katharina Günther-Wünsch und Steffen Freiberg aufgehört haben. Darüber hinaus, glaube ich, sollten wir als Konsequenz aus Pisa häufiger den Schülerinnen und Schülern zuhören, wie sie ihren Unterricht erleben.

 

"Sich einfach zurückzulehnen und zu sagen,
Mädchen seien halt weniger an Mathe interessiert
und wer keine mathematische Grundbildung erhält, hat selbst schuld, bringt uns nicht weiter."

 

Was meinen Sie damit?

 

Pisa bietet auch dazu wichtige Erkenntnisse. Es stellt sich beim Blick auf Angaben der Jugendlichen sehr schnell die Frage, ob der Mathematikunterricht, wie er in den meisten Schulen erteilt wird, noch zeitgemäß ist. Bietet er die Lebensorientierung, die Schülerinnen und Schüler sich wünschen? Wie muss er ablaufen, damit Mädchen sich genauso angesprochen fühlen? Sich einfach zurückzulehnen und zu sagen, Mädchen seien halt weniger an Mathe interessiert und wer keine mathematische Grundbildung erhält, hat selbst schuld, bringt uns nicht weiter. Weshalb die Weiterentwicklung der Lehrkräftebildung nicht zufällig das nächste große Thema auf unserer Agenda als KMK ist. 

 

Aber geht es bei der wirklich vorrangig um besseren Unterricht? Oder beruht die plötzliche Reformdynamik vor allem auf dem Kalkül der Kultusminister, möglichst schnell möglichst viele Lehrkräfte gegen den Mangel zu produzieren?

 

Den Eindruck habe ich nicht. Natürlich muss jedes Land erstmal schauen, selbst genug Lehrkräfte zu haben. Darum brauchen wir auch kurzfristige Strategien gegen den Fachkräftemangel, der nicht nur die Schulen betrifft, weshalb wir mit vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen um die gleichen Köpfe konkurrieren. Andererseits müssen wir aber grundsätzlich schauen, wie wir die Lehrerbildung praxisorientierter machen, um genau den lebensweltlichen Bezug zu den Schülerinnen und Schülern zu erreichen, der im Unterricht oft eben nicht da ist. Und so hilfreich das kürzlich veröffentlichte Gutachten der SWK zur Zukunft der Lehrkräftebildung war, genau an der Stelle haben wir mit den Experten einen offenen Diskussionspunkt.

 

Eine recht euphemistische Umschreibung dafür, dass die SWK die Begeisterung der Kultusminister für die Einführung eines dualen Studiums überhaupt nicht teilt.

 

Es erscheint vorstellbar, dass wir dazu in der KMK bald eine Beschlusslage hinbekommen. Und ich glaube, dass sich der Konflikt mit der SWK ein Stückweit erledigt, wenn wir uns von den Begrifflichkeiten lösen. Was ich unter einem dualen Studium verstehe, eine stärkere Praxisorientierung schon ab dem ersten Semester, wird von etlichen Wissenschaftlern geteilt. Da hat sich in den vergangenen Jahren schon viel getan mit Praktika und Praxissemestern. Aber wir stellen fest, dass die Studierenden sich noch mehr wünschen, sie wollen die unmittelbare Konfrontation mit dem Schulalltag. Mit der praxisintegrierten Ausbildung der Erzieherinnen gibt es längst gute Vorbilder. 

 

Der SWK geht es aber um die tiefe wissenschaftliche Fundierung – die die Studierenden sich übrigens genauso wünschen.

 

Die SWK fürchtet, es könnten sich durch einen zu frühen Praxiseinsatz ungute Arbeitsstrategien verfestigen, bevor sie theoretisch hinterfragt werden konnen. Für mich ist das aber vor allem eine Frage der Organisation und der geeigneten Umsetzung.

 

"Im Saarland diskutieren wir jetzt die Etablierung
von Ausbildungsschulen , ähnlich wie es Lehrkrankenhäuser für angehende Mediziner gibt." 

 

Vor allem ist es eine Frage der Betreuung. Die Realität sieht vielerorts so aus, dass schon Lehramtsstudierende als Vertretungskräfte in den Schulen arbeiten, ohne jedes Coaching – wenn doch Bildungswissenschaftler warnen, dass Praxiseinsatz ohne umfangreiche Anleitung pädagogisch wertlos ist. 

 

Es ist aber genau, wie Sie sagen: Diese Frage stellt sich nicht erst mit der Debatte ums duale Studium. Das Problem beginnt, sobald die jungen Fachkräfte, die eigentlich noch in Ausbildung sind, zur Abdeckung von Personallücken eingesetzt werden. Verschärft wird es, wenn gleichzeitig Betreuungspersonen fehlen. Schon im Referendariat ist eine angemessene Begleitung immer wieder aufs Neue eine Herausforderung, viele Fachseminarleiter wünschen sich einen stärkeren und verbindlicheren Austausch mit den Schulen. Weshalb wir im Saarland jetzt die Etablierung von Ausbildungsschulen diskutieren, ähnlich wie es Lehrkrankenhäuser für angehende Mediziner gibt. Das sind Standorte, wo es Mentorinnen gibt, die mit Studierenden und Referendaren zusammenarbeiten, sie im unmittelbaren Austausch begleiten. Dann und nur dann kann ein duales Studium funktionieren – bis hin zu einer Variante mit einem bezahlten Einsatz bereits zu Beginn des Studiums. An den Grundschulen in meinem Bundesland spüre ich da eine große Offenheit, an den weiterführenden Schulen weniger, wenn man beispielsweise die ablehnende Position des Philologenverbandes betrachtet. Aber die Debatte müssen wir trotzdem führen. Und sie zusammendenken mit der Reform der dritten Phase, der verstärkten berufsbegleitenden Weiterqualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern. 

 

Die noch mehr von Schulen und Universitäten abverlangen würde.

 

Die aber lohnen würde. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Im Saarland haben wir dieses Schuljahr das Fach Informatik eingeführt, flächendeckend an allen weiterführenden Schulen ab Klasse sieben. Die dafür nötigen Informatiklehrer finden wir nicht auf dem Arbeitsmarkt, weil erstens Informatiker anderswo deutlich mehr verdienen können als in den Schulen und weil zweitens mit jedem Bundesland, das Informatik als Schulfach etabliert, die Konkurrenz zunimmt. Darum haben wir mit der Universität des Saarlandes eine neues Weiterbildungsprogramm auf die Beine gestellt, bei dem Lehrerinnen und Lehrer Informatik als drittes Fach hinzustudieren können. Das ermöglicht uns, Schritt für Schritt den Bedarf zu decken.  

 

Die SWK schlägt als weitere Maßnahme die Einführung von Assistenzlehrkräften vor – im Sinne eines neuen Berufsbildes, aber auch als Entlastung der Kollegien.

 

Aktuell haben wir im Saarland keine Assistenzlehrkräfte, ich bin bei der Frage mit Blick auf mögliche Konflikte auch sehr zurückhaltend. Am Ende führt das zu unterschiedlichen Bezahlstrukturen unter dem Dach einer Schule. Wir sollten eher schauen, ob es andere Möglichkeiten gibt, die Kollegien zu unterstützen, etwa durch eine Ausweitung der systemischen Unterstützung im Rahmen ganztägiger, inklusiver Schulen. Als zusätzliche professionelle Struktur an den Schulen. Das gehört zu dem, was ich mir unter multiprofessionellen Teams vorstelle.

 

Zu denen auch die Systemadministratoren gehören würden, über deren Einsatz in Schulen seit dem Digitalpakt verstärkt diskutiert wird. Apropos Digitalisierung: Im Jahr 2 nach dem Auftauchen von ChatGPT hätte man denken können, dass Sie das Thema Künstliche Intelligenz zum Thema Ihrer Präsidentschaft machen. 

 

Das ist Teil der Transformation, über die ich am Anfang gesprochen habe. So wichtig digitale Souveränität und digitale Mündigkeit als Zukunftskompetenzen sind, so besorgt beobachte ich, wie etwa skandinavische Länder den Rückzug aus der Digitalisierung in den Schulen verkünden. Das würde bei uns die digitale Spaltung in der Schülerschaft weiter vertiefen. Wir statten im Saarland alle Schülerinnen und Schüler ab Klasse drei mit eigenen digitalen Endgeräten aus, fertig konfiguriert mit den nötigen Inhalten. Wir reden nicht mehr von digitalen Schulbüchern in PDF-Format, sondern von einer Vielfalt von Diagnoseinstrumenten für eine Individualisierung des Lernfortschritts mit paralleler Rückmeldung an die Lehrkräfte. Was zeigt, dass es um weit mehr geht als die Potenziale von Large Language Models wie ChatGPT. Und um völlig neue Herausforderungen. Woher weiß ich noch, dass mein Gegenüber in der Videokonferenz echt ist und nicht durch eine Software generiert? Oder wenn ich auf Facebook die immer gleichen Bilder zum Konflikt zwischen Israel und Palästina angeboten bekomme, warum ist das so? Alles Fragen, auf die unsere Schulen die Kinder vorbereiten müssen. Sie werden in einer Welt leben, die nach ganz anderen Gesetzen funktioniert als unsere heutige. Wir müssen ihnen die Instrumente gegeben, diese Welt kritisch zu begleiten und im besten Falle gestalten zu können. 

 

Mit dem "Wir" meinen Sie die Bundesländer, weil sie die Bildungshoheit haben?

 

Die Zukunft der Bildungspolitik liegt in der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen, weshalb gerade beim Digitalpakt, diesem großen kommunalen Unterstützungsprogramm, die Fortsetzung so wichtig ist. Ohne den Digitalpakt I wären viele Investitionen in die Digitalisierung unserer Schulen nicht möglich gewesen. Er endet im Juni 2024, und natürlich haben wir uns als Länder ein klares Signal des Bundes gewünscht, dass es unmittelbar mit dem Digitalpakt II weitergeht. Stattdessen bekamen wir die Ansage, dass es frühestens 2025 etwa wird. Wenn ich mir jetzt die Entwicklungen der vergangenen Wochen anschaue, bin ich sehr gespannt, wie es der Bundesbildungsministerin gelingen wird, das Programm im Haushalt zu platzieren. Gelingt ihr das nicht, werden viele neue im Digitalpakt I entstandene Strukturen in den Kommunen kaputtgehen. Einfach, weil die meisten Länder die Ausgaben nicht allein stemmen können. Der Bund hat eine Mitverantwortung, dass in den Schulen aller Bundesländer eine gleichwertige digitale Infrastruktur besteht. 

 

"Digitalpakt und Startchancen sind die zwei Programme, die am Ende über bildungspolitische Bilanz von Ministerin Stark-Watzinger entscheiden werden."

 

Wäre es dann nicht die Verantwortung der Länder, wie vom Bund gefordert 50 Prozent der Finanzierung beizusteuern? 

 

Der Bund hat erst im Laufe des Jahres 2023 seine Strategie geändert und will plötzlich überall und einseitig weg von den alten Finanzierungsschlüsseln. Darüber wird zu verhandeln sein, so wie wir beim Startchancen-Programm darüber verhandelt haben – auch über die Eigenleistungen der Länder, die dann angerechnet werden. Wenn wir im Saarland alle Schüler mit Endgeräten ausstatten, stemmen wir viel selbst – das sollte der Bund anerkennen. Und wenn wir über eine Fifty-Fifty-Finanzierung reden, wäre es übrigens umgekehrt angebracht, dass der Bund sich auf eine langfristige Lösung einlässt. Wir können nicht immer von einer Programmverlängerung in die nächste gehen. Wir brauchen einen höheren Grad an Verbindlichkeit. 

 

Es gibt Länder, vor allem mit CDU-geführten Kultusministerien, die ein Junktim machen wollen zwischen Startchancen-Programm und Digitalpakt. Die sagen: Auch wenn es zeitnah eine Startchancen-Verwaltungsvereinbarung gibt, werden wir die nur ratifizieren, wenn es Sicherheit beim Digitalpakt gibt.

 

Dafür habe ich großes Verständnis. Der Digitalpakt ist ein Infrastrukturprogramm: Wenn der Digitalpakt nicht fortgeführt werden kann, dann wird die Infrastruktur auf kommunaler Ebene darunter leiden. Deshalb schauen wir als Länder natürlich beim Startchancenprogramm auch auf die Entwicklung des Digitalpakts. Sieht der Bund hier seine Aufgaben nach Auslaufen des Programms seine Aufgabe als erledigt an oder bekennt er sich zu seiner Verpflichtung einer Anschlussfinanzierung? Vor dem Hintergrund des jüngsten Verfassungsgerichtsurteils schauen wir als Kultusministerinnen und Kultusminister genau hin, ob sich das Bekenntnis für die Fortführung des Digitalpakts auch in den Zahlen in der Bundeshaushaltsplanung ablesen lässt. 

 

Der Entwurf der Startchancen-Verwaltungsvereinbarung, die der Bund für November angekündigt hatte, ließ derweil bis zwei Tage vor Weihnachten auf sich warten. 

 

Ich will dem Bund da nichts unterstellen, das BMBF hat mit den Ländern gemeinsam äußerst intensiv in der gemeinsamen Arbeitsgruppe an dem Programm gearbeitet. Aber natürlich ist es sehr bedauerlich dass es so lange gedauert hat, denn ein Beginn zum August 2024 wird jetzt zu einer extremen Herausforderung. Ich erinnere nur an den Entwurf der Vereinbarung zu den Ganztagsschulen, die über Monate zwischen Bundesfamilienministerium und den Ländern hin- und herging. Unsere Ministerien müssen den Vorschlag des Bundes jetzt in kürzester Zeit bewerten und dabei trotzdem gründlich sein, wir müssen auf politischer Ebene sehr schnell zu einer Einschätzung kommen, ob wir auf dieser Grundlage weitermachen können. Darum hatten wir ja so viel Wert darauf gelegt, möglichst früh den Entwurf zu erhalten. Nun ist es, wie es ist. Und wir müssen zweigleisig fahren: mit dem Bund verhandeln und parallel bereits schauen, welche Schulen wir für das Programm vorschlagen wollen. Das geht aber nur teilweise. Ich kann nicht mit den Schulen ins Gespräch gehen über die einzelnen Säulen des Programms, ohne zu wissen, ob diese Säulen dann auch so kommen. Wir arbeiten also mit angezogener Handbremse und müssen doch mit aller Kraft dafür kämpfen, dass wir zum nächsten Schuljahr pünktlich starten können.

 

Die Ampelkoalition in Berlin ist mit großen bildungspolitischen Ambitionen in die Legislaturperiode gestartet. Hat sie geliefert?

 

Die Antwort ist offen. Ich erwarte, dass das BMBF bei Digitalpakt und Startchancen liefert. Das sind die zwei Programme, die am Ende über bildungspolitische Bilanz von Ministerin Stark-Watzinger entscheiden werden.


In eigener Sache: Blog-Finanzierung

Wie dieser Blog finanziell aufgestellt ist, warum er Ihre Unterstützung braucht – und welche Artikel im November am meisten gelesen wurden. 

 

Mehr lesen...


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0