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Sieben liberale Leitsätze für die Wissenschaftsfreiheit

Im Kampf für ein Klima der Offenheit und Freiheit sind die Hochschulen allein überfordert – weshalb den Bundesländern jetzt eine besondere Verantwortung zukommt. Ein Gastbeitrag von Stephan Seiter.

Stephan Seiter ist seit 2021 Mitglied des Bundestages für die FDP und Sprecher seiner Fraktion für Forschung, Technologie und Innovation. Bis zu seiner Wahl war er Professor für Volkswirtschaftslehre an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen. Foto: DBT/Stella von Saldern.

AN DEN DEUTSCHEN HOCHSCHULEN kam und kommt es aktuell zu Ausschreitungen und Vorfällen, die in ihrem Ausmaß, ihrer Intensität und ihrem Inhalt betroffen machen. Das Behindern von Rednerinnen und Rednern und die Gewalt insbesondere gegen jüdische Studierende gefährden das Klima der Offenheit und Freiheit des wissenschaftlichen Diskurses. Es geht um nichts Geringeres als die Verteidigung der nach Artikel 5 des Grundgesetzes garantierten Freiheiten.

 

Insbesondere die Bundesländer müssen ihre legislative und exekutive Macht zur Durchsetzung der Wissenschaftsfreiheit einsetzen, allein sind die Hochschulen damit überfordert. An den folgenden Leitsätzen muss sich die Wissenschaftspolitik dabei meiner Auffassung nach orientieren:

 

1.
"Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung."
Der Verfassungsgrundsatz nach Artikel 5 des Grundgesetzes definiert die einzige legitime Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Die Wissenschaftsfreiheit schützt keine Verfassungsfeinde und ist zu jeder Zeit und insbesondere im Hochschulraum durchzusetzen.

2.
Die Wissenschaftsfreiheit ist eine konstituierende Eigenschaft der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland.
Die deutsche Geschichte – vom Nationalsozialismus bis hin zum DDR-Unrechtsstaat – lehrt uns: Freiheit und Demokratie brauchen eine unabhängige Wissenschaft. Sie ist ein unverzichtbarer Teil der wehrhaften Demokratie.

 

3.
Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind unfrei, wenn Hochschulmitglieder im Rahmen ihrer Hochschulaktivität Hetze, Bedrohungen oder sogar Gewalt ausgesetzt sind.
Die Bundesländer sind maßgeblich für die innere Sicherheit verantwortlich. Sie tragen auch die Verantwortung für die Sicherheit an Hochschulen. Zu diesem Zweck müssen Bund und Länder Beratungsstellen zur juristischen, psychologischen und kommunikativen Unterstützung bedrohter Wissenschaftler stärken und Täter mit allen Mitteln des Rechtsstaates zur Rechenschaft ziehen.

 

4.
Die Länder sind in der Pflicht, ihre Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit den geeigneten rechtlichen Mitteln auszustatten,
damit diese ihrer Aufgabe der Wahrung der Wissenschaftsfreiheit und Sicherheit an ihren Institutionen nachkommen können. Dazu zählt unter anderem die Möglichkeit der Zwangsexmatrikulation antisemitischer Gewalttäter.

 

5.
Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen geprägt sein von einem Klima der Freiheit.
Pauschale Selbstbeschränkungen der Wissenschaft, die über die verfassungsrechtlichen Beschränkungen hinausgehen, sind aus diesem Grund abzulehnen. Dazu zählen weitreichende Zivilklauseln.

 

6.
Das Behindern von Lehr- und Diskussionsveranstaltungen durch Einschüchterungsversuche oder Gewalt sind keine Formen des legitimen Protests.
Es ist die Aufgabe des Rechtsstaats, seine Bürger und Institutionen von derartigen illegitimen Formen des Protests zu schützen, zugleich müssen die Hochschulen aber auch konsequent die Unterstützung der Polizei in Anspruch nehmen.

7.
Hochschulen müssen ein Ort des freien Austausches sein.
Keine Theorie oder politische Ideologie – auch nicht der Postkolonialismus – hat einen Anspruch auf absolute Wahrheit. Studien und Berichte, die darauf hindeuten, dass Studierende und Forschende aus Angst vor Repressionen Selbstzensur betreiben, sind alarmierend. Diesen Entwicklungen muss die offene Gesellschaft konsequent mit Diskurs, Streit und Debatte begegnen.

Das deutsche Wissenschaftssystem ist für die Zeitenwende noch nicht gewappnet. Im Umgang mit einer neuen sicherheitspolitischen Realität sind deutsche Hochschulen fast machtlos einem Spannungsfeld aus öffentlicher Erwartung, dogmatischer Selbsteinschränkung und teils realitätsferner Landesgesetzgebung ausgesetzt. In allen Feldern ist es nun angesagt, sich verstärkt von der Freiheit leiten zu lassen.



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Kommentare: 6
  • #1

    Maria (Donnerstag, 22 Februar 2024 10:13)

    Geht es hier wirklich um Wissenschaftsfreiheit? Das möchte ich doch sehr in Frage stellen. Die Wissenschaftsfreiheit ist wie die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und das Postgeheimnis ein Grundrecht, ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates und staatliche Institutionen. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich haben Hochschulen das Recht und die Verpflichtung, Hetze und Gewalt aus ihren Räumlichkeiten zu verbannen, die Strafverfolgungsbehörden sind aufgefordert, Straftaten zu ahnden, etc. Dafür stehen aber auch Mittel und Wege im Rechtsstaat zur Verfügung und werden auch angewandt. Antisemitismus und Gewalt dürfen an unseren Hochschulen keinen Platz haben! Hier allerdings die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr zu sehen, dient aus meiner Sicht der weiteren Umdeutung des Begriffs "Wissenschaftsfreiheit", die seit Jahren durch die Gazetten geistert und einem Narrativ dient, dass durch das "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" oder auch die AfD befeuert wird. Ein Effekt ähnlich wie bei der Umdeutung des Begriff der "Meinungsfreiheit": Inzwischen sind viele Menschen Deutschland der Auffassung, dass man hier seine Meinung nicht mehr kundtun dürfe. Das Befeuern eines solchen Narrativs macht unsere Grundrechte kleiner als sie sind und schürt den Zweifel an unserem demokratischen System.

  • #2

    WiMi (Donnerstag, 22 Februar 2024 10:42)

    Es ist bezeichnend, was für ein Beispiel Stephan Seiter am Ende anführt. Postkoloniale Theorien haben mitnichten einen alleingültigen Anspruch. Ihr Ansatz ist gerade jener, Sachen überhaupt erst in Frage zu stellen.

    Aber noch bezeichnender ist, worauf er nicht eingeht. Gerade die schlechten Arbeitsbedingungen im Wissenschaftssystem, und die Blockade der FDP bei einer sinnvollen Reform dieser Arbeitsbedingungen, erzeugen enormen Konformitätsdruck und sind in der Praxis für hohe Einschränkungen der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit verantwortlich. Beschäftigte, die in engen Abhängigkeitsverhältnissen mit prekären Arbeitsverträgen leben, sind auf Gedeih und Verderb einem fast schon feudalistischen System ausgeliefert. Professorales Personal nutzt diese Abhängigkeitsverhältnisse oft genug aus, sei es real, sei es als Drohgebärde. Dabei insbesondere jene Profs, die in Tarnorganisationen wie dem Netzwerk Widerspruchsfreiheit, äh, "Wissenschaftsfreiheit", vorgeben sich eigentlich für Freiheit einsetzen zu wollen.

    Auch gegenüber Studis sind Profs zu oft dabei ihre Macht auszunutzen und vermeintliche Abweichler zu bestrafen. Bereits die Benutzung (grammatikalisch korrekter!) inklusiver Sprache kann, so Haltung eines Kollegen, zu Punkteabzügen führen. "Er wolle so etwas nicht".

    Seiters Beitrag ist gut gemeint, aber schlecht gemacht. Er bringt abgedroschene Phrasen, aber reagiert mit Ordnungspolitik, einer Unkenntnis der realen Probleme vor Ort, und einem verqueren Blick aufs Thema. Auf die eigenen Verfehlungen und eigentlichen Probleme des Systems hingegen wird nicht eingegangen.

  • #3

    Roland Klaus (Donnerstag, 22 Februar 2024 14:07)

    #1,#2: Der Beitrag liefert leider kaum neuen Überlegungen.
    Wenn aber die NS- und die DDR-Zeit in einen Unrechts-Topf geworfen werden, dann hat der Autor wirklich Unrecht.

  • #4

    Benno (Donnerstag, 22 Februar 2024 14:17)

    Die Beiträge von Maria und WiMi zeigen, dass man nur die Fehler bei anderen, aber kaum bei sich selbst sieht. Selbst organisierte Netzwerke sind offenbar nur dann akzeptabel, wenn sie die übliche linke Diskurshoheit an Hochschulen widerspiegeln.

  • #5

    Kalopsus (Donnerstag, 22 Februar 2024 16:35)

    "Pauschale Selbstbeschränkungen der Wissenschaft, die über die verfassungsrechtlichen Beschränkungen hinausgehen, sind aus diesem Grund abzulehnen. Dazu zählen weitreichende Zivilklauseln. "
    Es wäre schön, wenn da als Beispiel statt der Zivilklauseln die Zusammenarbeit mit China u.ä. genommen worden wäre, welche die FDP institutionell abschaffen will.

  • #6

    Späte Einsichten (Freitag, 23 Februar 2024 08:19)

    Zur Wissenschaftsfreiheit lesenswerte (etwas späte) Einsichten von Thomas Sattelberger, der auch in diesem Blog schon publiziert hat, heute in table.Research
    https://table.media/research/rigorosum/wissenschaftsfreiheit-die-freiheit-des-andersdenkenden/