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Antisemitismus-Streit in Halle: Unterstützung für Ghassan Hage

Fachgesellschaften und Wissenschaftler aus aller Welt schreiben Protestbriefe an die Max-Planck-Gesellschaft, nachdem diese sich von dem australischen Ethnologen getrennt hatte.

NACH ANTISEMITISMUS-VORWÜRFEN hatte sich die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) Anfang Februar von dem australischen Gastprofessor Ghassan Hage getrennt, laut MPG-Pressemitteilung im Einvernehmen. Seitdem ist es ruhiger geworden um Hage, zumindest in den deutschen Medien. In der internationalen Wissenschaftsszene verursacht der Fall dagegen weiter Aufregung. Zahlreiche Unterstützungsbekundungen für Hage in den vergangenen Wochen zeigen eine Dimension der internationalen Debatte über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, die im deutschen Kontext gelegentlich weniger wahrgenommen wird.

 

So hat die Provost der Universität von Melbourne, Hages Heimathochschule, dem forschungsstarken Ethnologen gerade erst in einem Schreiben an seine gesamte Fakultät der universitären Rückendeckung versichert. "Akademische Freiheit ist grundlegend für unsere Werte und Regeln", schrieb Nicola Phillips. "So, wie wir sie in der Vergangenheit aktiv verteidigt haben unter anderen Umständen, so tun wir es jetzt wieder in diesem Fall." Hage sei ein respektierter Kollege und Gelehrter mit internationaler Reputation.

 

Phillips‘ Schreiben ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Max-Planck-Gesellschaft die Beendigung von Hages Aufenthalt am Max-Planck-Institut in Halle ebenfalls mit Verweis auf die "Grundwerte der MPG" begründet hatte, mit denen viele der "von Ghassan Hage in jüngerer Zeit über soziale Medien verbreiteten Ansichten" unvereinbar seien. 

 

Unter anderem hatte der in Beirut geborene Wissenschaftler Israel als "sich überlegen fühlender Schläger" bezeichnet, dessen Ende als jüdischer Staat prognostiziert und laut WELT am Sonntag in einem inzwischen gelöschten Post geschrieben, "die Zionisten mit ihrer Siedlergewalt" würden zu "den wilden Bestien des Westens". Laut Zeitstempel noch am Tag des Hamas-Überfalls auf Israel schrieb Hage in seinem Blog ein Gedicht, das in der Feststellung kulminierte: "Die Palästinenser, wie alle kolonisierten Völker, beweisen noch immer, dass ihre Fähigkeit zum Widerstand endlos ist. Sie graben nicht nur Tunnel. Sie können über Mauern fliegen."

 

Die Erklärung der
Max-Planck-Gesellschaft

 

Der inzwischen nach Australien zurückgekehrte Forscher bestritt, während er in Deutschland war, ein Antisemit zu sein, und betonte auf "X", die Autoren, von denen er am meisten gelernt habe, seien fast alle Juden gewesen. "Und hier lebe ich nun inmitten der Kulturen, die den Judenhass, das Verbrennen jüdischer Bücher und Geschäfte, das Einsperren von Juden in Konzentrationslager und deren massenhafte Ermordung zu einer makabren Kunstform erhöht haben, und muss mir moralische Vorträge anhören, wie man sich nicht antisemitisch verhält." 

 

Nachdem zuerst die WELT am Sonntag über Hages Posts berichtet hatte, geriet die MPG zunehmend unter Druck. Nach tagelangem Schweigen veröffentlichte die MPG schließlich eine Mitteilung, in der sie den Abschied von Hage verkündete. "Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Diskriminierung, Hass und Hetze haben in der Max-Planck-Gesellschaft keinen Platz."

 

Derweil hat eine vor drei Wochen gestartete Online-Petition zu Hages Unterstützung inzwischen über 3.500 Unterzeichner gefunden, viele davon aus englischsprachigen Ländern und nicht wenige, die nach eigenen Angaben Juden und sogar Verwandte von Holocaust-Überlebenden sind.

 

Briefe von Fachgesellschaften und
Wissenschaftlern aus aller Welt

 

Fachgesellschaften und Wissenschaftler aus aller Welt haben sich in öffentlichen Briefen an MPG-Präsident Patrick Cramer gegen Hages "Entlassung" bzw. deren Begründung gewandt, darunter die Australische Anthropologischen Gesellschaft, die Britische Gesellschaft für Nahost-Studien und die Europäische Gesellschaft für Sozialantrophologie

 

Auch der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie sprang Hage in einer Erklärung zur Seite und betonte die "unbedingte Notwendigkeit, Antisemitismus, Rassismus, und Islamophobie in Deutschland und weltweit zu bekämpfen". Dies lasse sich jedoch nicht durch "die Überwachung von Wissenschaftler:innen, ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihrer persönlichen Stellungnahmen erreichen". Auseinandersetzungen um den Israel-/Palästina-Konflikt ließen sich nicht ausschließlich mit den Mitteln der Antisemitismustheorie oder -kritik einordnen.  

 

Über 50 israelisch-jüdische Wissenschaftler von Wissenschaftseinrichtungen in aller Welt, auch einige, die an deutschen Hochschulen und Forschungsinstituten arbeiten, schrieben ebenfalls an Cramer "in Unterstützung" Hages und "in Protest gegen die Anschuldigungen gegen ihn". Es sei bekannt, dass Hage ein Unterstützer des Boykotts israelischer akademischer Institutionen und Teil der BDS sei. "Obwohl viele von uns nicht einverstanden sind mit den Methoden dieser Bewegung, erkennen wir an, dass sie nicht die Diskriminierung individueller Juden oder Israelis vorgibt, und wir können versichern, dass Professor Hage auch nicht diese Form der Diskriminierung praktiziert."

 

Mehrere israelisch-jüdische Wissenschaftler hätten das "Privileg des Austausches und der Debatte" mit ihm gehabt, "und uns ist immer mit Respekt, Freundlichkeit und einer professionellen Antwort begegnet worden." Weiter schrieben die Unterzeichner an MPG-Präsident Cramer: Inmitten einer Zeit der Polarisierung, des tiefen Misstrauens, nationalistischer Radikalisierung und der Verfolgung kritischer Stimmen "appellieren wir an Sie, sich nicht auf das brutale Mundtotmachen kritischer Stimmen einzulassen und die akademischen Werte unvoreingenommener Evaluation und des fairen Umgangs aufrechtzuerhalten".

 

MPG-Präsident Cramer will die Diskussion
in den Max-Planck-Sektionen abwarten

 

Die Liste an Stellungnahmen zugunsten Hages ließe sich fortsetzen, er selbst hat sie auf seinem X-Account dokumentiert. Nicht weniger lang ist – vor allem in Deutschland – die Liste seiner Kritiker und all derjenigen, die eine weitere Aufklärung von der MPG fordern, etwa seit wann sie von Hages Äußerungen gewusst habe und warum sie nicht früher eingeschritten sei. In jedem Fall aber zeigen die internationalen Wortmeldungen zu seiner Unterstützung, warum die international so stark vernetzte MPG sich so schwertut, einen kommunikativ geradlinigen Umgang mit Fällen wie dem Hages zu finden.

 

Entsprechend hat die MPG auch auf alle Briefe und Erklärungen zur Unterstützung Hages bislang nicht reagiert. Auf Anfrage sagte eine Sprecherin, Präsident Cramer werde erst die Diskussion in den Fächer-Sektionen der Forschungsgesellschaft in der neuen Woche abwarten "und dann entscheiden, wie wir antworten". Unterdessen kündigte Hage vor dem Wochenende an, gerichtlich gegen die MPG vorgehen zu wollen, "hier geht es um viel mehr als mich“. 

 

Dieser Beitrag erschien heute leicht gekürzt zuerst im Newsletter ZEITWissen3.



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Kommentare: 4
  • #1

    Hans Bernert (Montag, 26 Februar 2024 19:33)

    Der Eindruck, daß die Max-Planck-Gesellschaft sich von der Welt am Sonntag (ganz gerne?, jedenfalls etwas übereifrig) einspannen liess, konnte zwar auch im deutschen Kontext entstehen. Man muß den Aussagen Hages nicht mal mit Sympathie gesonnen sein, um zum Schluß zu gelangen, daß es den "Grundwerten" der MPG kaum förderlich sein dürfte, mehr Klarheit dort schaffen zu wollen, wo wenig Anlaß besteht, sie zu vermuten.

  • #2

    Ruth Himmelreich (Dienstag, 27 Februar 2024 09:25)

    Darf man hier vielleicht einen anderen Blogbeitrag zitieren, der nur um ein einziges Wort geändert wurde? Das liest sich dann so:

    "Antisemitische Tendenzen unter Professor*innen sind besonders gefährlich, da diese meist gut zu unterscheiden wissen, was rechtlich noch erlaubt ist und wie man auf dem schmalen Grat zum juristisch Angreifbaren und zur Verfassungsfeindlichkeit balanciert. Auch sind Hochschullehrer*innen meist gut vernetzt und geben sich oftmals gegenseitig Rückendeckung. Zudem scheinen nicht alle Lehrstuhlinhaber*innen zur Selbstkritik fähig."

  • #3

    Theresa (Donnerstag, 14 März 2024 12:08)

    Niemand hat den Mann gezwungen, seine private Meinung zu teilen.
    Antisemitismusdefinitionen und antisemitische Narrative kann man diskutieren, aber auf Grundlage von Mindeststandards.
    Jüdische Autor:innen zu lesen oder von jüdischen Wissenschaftler:innen unterstützt zu werden, ist kein Gegenargument. Betroffenheit führt nicht zwangsläufig zu Sachkompetenz.
    Das Zitat im Kommentar von R.H. hat gerade deutlich an Aktualität gewonnen, wenn man Judith Butlers Aussagen sieht.
    Sehr lesenswert zu dieser Frage finde ich:
    https://taz.de/Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526/
    Und auch aktueller:
    https://taz.de/Postkoloniale-Theorie-und-Antisemitismus/!5993338/

  • #4

    Caroline (Donnerstag, 26 September 2024 09:31)

    Ich kenne Herrn Hage und seine wissenschaftlichen Arbeiten nicht. Aber was ich insbesondere beim Personal an Hochschulen und in der Wissenschaft weltweit, die in den vergangenen Monaten nach dem Überfall der Hamas auf Israel mit Antisemitismus konfrontiert waren und sind, aber auch allgemein bei Menschen beobachte, ist dass sie Empathie und Menschlichkeit für die in Israel ermordeten und geschändeten Menschen vermissen lassen. Auch wenn der Konflikt sehr politisch und wahrscheinlich auch ethnisch und religiös getrieben ist, sind mehr als 1200 Personen auf bestialische Weise umgebracht worden und das verdient von aller Welt erstmal Mitgefühl, Trauer und moralische Unterstützung. Egal wie die Situation im Nahen Osten für beide Seiten ist. Äußerungen wie die von Herrn Hage am Tag des Überfalls sind meiner Ansicht nach pietätlos und völlig unangebracht. Das hat nichts mit seiner Qualität als Wissenschaftler zu tun und dass er sonst ein respektvoller und freundlicher Mensch sein mag. Selbstverständlich muss ein kritischer Diskurs in einer Gesellschaft und Wissenschaft möglich sein. Das ist ein Grundpfeiler der Demokratie. Mindestens so wichtig ist die Achtung vor dem menschlichen Leben. Bei den oben zitierten Äußerungen von Herrn Hage habe ich Zweifel, ob er das eine Leid genauso wie das andere sieht.