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Wenn von 22 Kindern die Hälfte NIE WIEDER mit der Klasse ein Buch lesen möchte

60 Prozent der Achtklässler an Berliner Sekundarschulen können nicht ausreichend lesen, zeigen aktuelle Vergleichsarbeiten. Das ist erschreckend. Aber kein Grund zum Aufgeben. Ein Gastbeitrag der Sekundarschullehrerin Ada M. Hipp*.

Bild: privat.

"NIE WIEDER", kreuzten 11 von den nun 22 Schülerinnen und Schüler meiner 8. Klasse als Antwort an. Was ich als Teil einer Umfrage zu dem zuvor im Unterricht gelesenen Buch "Die Tribute von Panem" hatte wissen wollen: "Wie würdest du es finden, wenn wir ein solches gemeinsames Lesen im nächsten Schuljahr wiederholten?" Nie wieder möchten sie es sich antun, mit der Klasse ein Buch zu lesen. 

 

Jede Woche beschäftigten wir uns in der Klassenleiterstunde gemeinsam mit dem Buch: leises Lesen, abwechselndes (lautes) Vorlesen, lautes Fehlerlesen mit Klopfen, lautes Vorlesen vom Platz aus, zum Ende hin lautes Vorlesen vor der Klasse; mitlesen, wenn die Klassenlehrerin vorlas – wie sich herausstellte, die beliebteste Form.

 

Über Feiertage gab es auch hin und wieder die Aufgabe, zwei Stunden zu Hause zu lesen. Ob am Stück oder aufgeteilt, gab es keine eindeutige Maßgabe. Die Seitenzahl, bis zu der sie gekommen waren, sollten sie anschließend einsenden. Mit unterschiedlichen Ergebnissen: Den Langsameren war die geschaffte Seitenzahl peinlich, verunsichert fragten sie, ob dies so in Ordnung sei. Die Schnelleren verfielen in eine Art Wettbewerb, wer denn in der vorgegebenen Zeit die meisten Seiten geschafft habe. Von vornherein wurde ihnen gesagt, dass es nicht auf eine möglichst hohe Anzahl von Seitenzahlen ankomme, sondern darauf, was sie am Ende noch über das Gelesene wüssten. Das Ergebnis: Bis auf drei Schülerinnen haben alle ihr Lesepensum erfüllt.

 

Das Klischee von den nicht lesewollenden
Jungen und den leseeifrigen Mädchen

 

Auch sonst hat sich das Klischee von den nicht lesen wollenden Jungen und den leseeifrigen Mädchen während des gesamten Schuljahres nicht bestätigt. Gerade die Jungen lasen gern laut vor und achteten beim Fehlerlesen extra aufmerksam auf eventuell falsch gelesene Wörter oder Wortgruppen, auf verschluckte Satzenden oder durch die Lesenden neu hinzugefügte Wörter. Besonders gefiel es ihnen, wenn sich die Klassenlehrerin beim Vorlesen der zehnten Seite verhaspelte. Sie lachten, sie feixten und riefen: "Halt, Stopp! Fehler, Fehler!" Aha, Lesen kann also Spaß machen, auch, wenn es auf Kosten einer armen Lehrkraft geht.

 

Wie also nun umgehen mit dem "Nie wieder"? Akzeptiere ich es und sage ihnen am ersten Schultag: Ihr habt gewonnen, wir lesen dieses Jahr kein Buch gemeinsam? Da ich nicht ihre Deutschlehrerin bin, könnte ich mich zurücklehnen und es sein lassen. Ich könnte die Zeit für Anderes verwenden. Ich könnte mich damit zufriedengeben, dass die Kinder nun besser lesen, denn das tun sie. ALLE Kinder haben ihre Leseleistungen verbessert, auch die, die schon recht gut lesen konnten. 17 Kinder, also mehr als zwei Drittel, empfinden laut der Umfrage selbst, dass sie jetzt besser und fließender lesen.

 

Zum Ende dieses Schuljahres hat KEIN Kind mehr beim Lesen gestottert, gestockt, silbenweise gelesen oder das laute Vorlesen mittendrin aufgegeben. KEIN Kind hat ein anderes ausgelacht, wenn es einmal, vor allem am Anfang, nicht so gut klappte. Ebenfalls 17 Kinder bestätigten, dass ihnen gerade das eigene, laute Vorlesen beim Besserwerden geholfen habe, obwohl eine Reihe von ihnen meinte, dass ihnen genau dieses laute Vorlesen besonders unangenehm und peinlich war. Manche fanden es doof und "mega blöd". Auch die Rechtschreibung der Kinder wurde besser.

 

Keine Lust, zu öde
und zu langweilig

 

Dennoch antworten 15 Kinder auf die Frage, ob sie nun auch einmal für sich selbst ein Buch lesen würden, mit "nein". Sie hätten dazu keine Lust, es sei ihnen zu öde und zu langweilig. Es dauere ewig, bis man mit dem Buch fertig sei. Sie würden sich lieber den passenden Film dazu ansehen, falls es einen gäbe. Vier Kinder glauben, dass sie es allein nicht schaffen würden, zumindest solch ein dickes Buch nicht. Immerhin vier Kinder haben bereits damit begonnen, ein Buch für sich zu lesen. Sie haben es entweder durch Zufall entdeckt oder es wurde auf TikTok gepostet und angepriesen. Zwei haben es geschenkt bekommen. 

 

Das Versprechen, nach erfolgreichem Lesen den Film zum Buch zu schauen, haben wir eingelöst: Am Tag der Zeugnisausgabe sahen wir ihn uns gemeinsam auf dem Schiff "Helene" im Historischen Hafen am Märkischen Ufer an. Die Kinder haben es sehr genossen, dass sich in den einzelnen Filmsequenzen Szenen aus den Buchkapiteln wiederfanden. Sie haben darüber getuschelt, dass der Junge da wohl Peeta sei und das Mädchen dort Katniss; auch darüber, dass sie sich Haymitch ganz anders vorgestellt hätten.

 

Szene für Szene erlebten sie das Gelesene im Film noch einmal nach. Sie stießen einander vorsichtig an, machten sich gegenseitig darauf aufmerksam, dass jetzt gleich dieses und jenes passieren würde. Besonders schön fanden sie es, als wir alle im selben Moment losschrien, weil wir uns bei einer bestimmten Szene erschraken. So haben sie ihre Lehrerinnen noch nie erlebt.

 

Als ihre Lehrerin muss ich nicht
"Wünsch dir was" spielen

 

Und, wie sieht es nun im nächsten Schuljahr aus? Richte ich mich nach der Hälfte der Klasse, die es rundweg ablehnte, gemeinsam wieder ein Buch zu lesen, oder blicke ich auf die andere Hälfte der Klasse, die es zumindest ok fände? Werden wir wieder gemeinsam ein Buch lesen?

 

Ja! Als ihre Lehrerin muss ich nicht "Wünsch dir was" spielen. Als ihre Lehrerin kann ich einfach das gemeinsame Lesen beschließen und die Kinder zu ihrem Glück zwingen. Als ihrer Lehrerin kann (und muss) es mir "egal" sein, ob einige diesbezüglich sauer auf mich sind. Als ihre Lehrerin kann ich sie freundlich dazu bringen, etwas für ihre Bildung zu tun, denn das, das ist meine Aufgabe. 

 

*Der Name wurde geändert.



In eigener Sache: Prekäre Blog-Finanzierung


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Kommentare: 2
  • #1

    Michael Felten (Dienstag, 30 Juli 2024 10:20)

    Diese Geschichte gehört an eine ganz große Glocke gehängt, diese Lehrerin ist echt preiswürdig. Gute Pädagogik in den Mühen der Ebene: pfiffige Ideen, hartnäckig, liebenswürdig im Umgang. Sie bleibt nicht bei den Wünschen der Kinder stehen, sondern versucht unermüdlich, sie in Richtung Gebildetsein zu ziehen. Und von dieser Sorte gibt es zahllose im Land. Unbedingt so weitermachen!

    Auch wenn die Lage nicht gerade ermutigend ist. Die Frühdigitalisierung - gepusht von der IT-Lobby im Verbund mit Technikfreaks - beschert uns einen Wandel, der nicht nach Verbesserung riecht. Vielleicht eher nach neuem 'Mittelalter' - da konnten auch nur wenige lesen. Gerne lesen WOLLEN - wird das zum Kriterium für künftige kulturelle Eliten?

    Die krassen Leistungsabfälle bei Pisa 2022 haben wohl in der familiären Digitalisierung einen gewichtigen, noch zu wenig diskutierten Grund:
    https://www.news4teachers.de/2023/06/iglu-schock-warum-smartphone-und-co-den-kindern-so-sehr-schaden-nicht-nur-weil-sie-selbst-davor-kleben/

  • #2

    Wolfgang Kühnel (Donnerstag, 01 August 2024 13:54)

    Der folgende Link ergänzt den Beitrag von Herrn Felten:
    https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/gew-startet-online-reihe-zur-privatisierung-im-bildungswesen
    Überall verbreiten Lobbyisten den Eindruck, dass das Volk sich nach der Weiterführung des Digitalpakts sehnt, damit WIR nicht den Anschluss im internationalen Digitalisierungs-Wettbewerb verlieren. In Wahrheit dürfte wohl die Hälfte dieser Milliarden schon fest als Betriebseinnahmen verbucht sein. Übrigens gehört auch news4teachers.de zu diesen Lobbyisten: Man veröffentlicht reihenweise sog. "Pressemeldungen", die aber einfach Reklame einer neu entstandenen EdTech-Industrie sind. Und dass es als "gemeinnützig" anerkannte Vereine gibt (z.B. Bündnis für Bildung, Forum Bildung Digitalisierung), die dann im Lobbyregister des Deutschen Bundestages stehen, ist eigentlich ein schlechter Witz. Die Gemeinnützigkeit sollte aberkannt werden. Und die Bildungsjournalisten könnten uns mehr über solche Zusammenhänge aufklären und Hintergründe ausleuchten, anstatt pauschal den Digitalpakt zu loben und in das Horn der Lobbyisten zu tuten.