Warum ein Vater unermüdlich gegen die Kita-Krise kämpft. Er schreibt Briefe und demonstriert zur Not allein: Alex Liefermann will den Kita-Notstand nicht länger hinnehmen. Wenn die Politik doch nur endlich zuhören würde.
Alex Liefermann protestiert vor dem Düsseldorfer Rathaus. Foto: privat.
ALS ER AN JENEM MORGEN im April vor dem Düsseldorfer Rathaus stand, in der Hand das selbstgebastelte Protestschild, auf dem Rücken der Rucksack mit dem Megafon, den Flyern und seiner achtseitigen Rede, um ihn kaum ein Mensch – da wusste Alex Liefermann, dass es ein weiter Weg wird.
Fünf Leute waren seinem Aufruf gefolgt, gegen das zu demonstrieren, was Liefermann je nach Stimmung "KITAstrophe", "KITA-Notstand" oder "KITApokalypse" nennt. 80 Kitas in und um Düsseldorf hatte er angeschrieben, unzählige Posts in den sozialen Medien abgesetzt, mit guten Reichweiten, wie er sagt. Und doch waren mehr Journalisten als Demonstranten erschienen, die fleißig Fotos machten von Liefermann auf dem leeren Rathausplatz. "Ich sah mich gezwungen, die Demonstration abzubrechen", sagt Liefermann.
Diese eine Demo, wohlgemerkt – nicht seinen Protest. Denn Alex Liefermann, 40, Vater von zwei Jungs, hat eine Mission. "Ich will die Leute aufrütteln", sagt er. "Nur gemeinsam können wir erreichen, dass Kitas und Schulen in unserer Gesellschaft einen anderen Stellenwert bekommen."
Doch solange die anderen noch nicht da sind, macht Liefermann eben allein weiter. Seit anderthalb Jahren schreibt er Briefe an Abgeordnete und Minister, verschickt ellenlange Mails an Kita-Träger und Zeitungen, füllt sein LinkedIn-Profil mit Protestberichten und Appellen. "Ich engagiere mich schon sehr", sagt Liefermann und hält kurz inne. Er ist ein Vater, der ständig unter Strom zu stehen scheint.
Über 400.000 Kitaplätze
fehlen bundesweit
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) rechnet mit 50.000 bis 90.000 fehlenden Kita-Fachkräften bis 2030. Der Paritätische Wohlfahrtsverband gibt in seinem aktuellen KITA-Bericht sogar an, dass durchschnittlich pro Kita in Deutschland mehr als zwei Erzieher fehlten – "das entspricht aktuell 125.000 fehlenden Fachkräften im gesamten Bereich der Kindertagesbetreuung." Was laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) dazu führte, dass 2023 bundesweit rund 435.000 Kitaplätze fehlten – und allein in Nordrhein-Westfalen, wo Alex Liefermann lebt, 115.000. Braucht es noch mehr Zahlen?
Nicht für Liefermann. "Und es sind ja nicht nur die abstrakten Zahlen", sagt er. "Die meisten Eltern merken den Mangel doch jeden Tag. Die Kitazeiten werden eingeschränkt, Einrichtungen müssen aus Personalmangel tageweise schließen, Eltern werden angefleht, ihre Kinder zu Hause zu lassen." Den Kitas und Erziehern mache er keinen Vorwurf. "Die gehen alle an ihre Grenzen und darüber hinaus." Was er aber nicht verstehen könne, sei, warum die meisten Familien das mit sich machen lassen. "Warum stehen sie nicht auf und wehren sich?"
Vielleicht, sagt er, seien viele einfach zu müde zwischen Kinderbetreuung, Job und ausgefallener Betreuung. Seine Lebensgefährtin habe ihre Arbeitszeiten an einer Kasse jedenfalls noch einmal um ein paar Stunden reduziert, "damit wir die Betreuung sicherstellen können für unseren Vierjährigen". Das heiße aber auch: jeden Monat 500 bis 800 Euro weniger.
Zum Glück, sagt Liefermann, sei er selbst meist flexibel als freiberuflicher Gästebetreuer und Aufnahmeleiter für TV-Produktionen in Köln. Natürlich ist er auch Elternvertreter in der AWO-Kita seines Sohnes, da erfährt er immer mit als erster von den neuesten Personalengpässen.
Was aber treibt ihn so sehr an? Er könnte die letzten zwei Jahre Kita doch auch aussitzen, wie es viele andere Eltern notgedrungen tun. "Ja, und dann?", lautet Liefermanns Gegenfrage. "In der Schule geht es dann doch genauso weiter!" Auch in der Realschule seines 14-jährigen Sohnes fehlten Lehrer.
Von der Obdachlosigkeit
zum sozialen Engagement
Aber da ist noch etwas Anderes: eine Art Lebensmodus, vielleicht auch ein Überlebensmodus. Als Kind habe er kaum Freunde gehabt und sei selten zur Schule gegangen, erzählt Liefermann. Mit 17 sei er von zu Hause abgehauen, habe in einer Pommesbude gejobbt und dort geschlafen. "Meine Chefin ging mit mir zum Jugendamt, aber niemand wollte mir helfen. Ich fühlte mich hilflos und verlassen." Für eine Weile fand er eine Wohnung und feste Arbeit, dann folgten wieder Phasen der Obdachlosigkeit, in denen er hinter den verklebten Schaufenstern eines leeren Ladenlokals hauste.
Irgendwann entkam Liefermann der Abwärtsspirale und machte eine Ausbildung zum Verkäufer im Einzelhandel. Doch die Jahre der Unsicherheit und des Mangels führten zu einer schweren Kaufsucht. Er häufte Schulden in Höhe von fast 50.000 Euro an, ging in die Privatinsolvenz und lebte sieben Jahre lang am Existenzminimum, bis er durch eisernen Willen wieder schuldenfrei wurde.
Liefermanns Leben ist vom Kampf geprägt, vom Kämpfen für etwas und um etwas. Heute muss er nicht mehr für sich selbst kämpfen – und deshalb tut er es für andere, sagt er: "Ich habe selbst Kinder und bin ein Vorbild für sie." Man müsse eben "dran bleiben", um etwas zu erreichen, erklärt er sein unermüdliches Engagement. Und bei der Politik brauche es einen langen Atem.
Manchmal antworten Politiker auf seine Briefe und laden zum Gespräch. Meist aber bleibt jede Reaktion aus. So auch von Olaf Scholz. "Ich bitte Sie eindringlich, nicht zu warten, bis die Öffentlichkeit unüberhörbar auf bestimmte Themen aufmerksam macht", hatte Liefermann dem Bundeskanzler im August 2023 geschrieben. "Kitas und Schulen = Zukunfts-Fundament. Deshalb hört uns als Eltern, Kindern, Erzieherin und Erzieher zu."
Bis es soweit ist, wird Alex Liefermann umso mehr reden.
Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.
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Rocki (Donnerstag, 22 August 2024 18:01)
Es fehlt wohl an vielem in Deutschland. Kita Plätze sind nur ein Beispiel. Woran liegt das nur? Wir waren früher 40 Kinder im Kindergarten mit 3 Erzieherinnen. In der Schule 35 Schüler mit einer Lehrerin. Haben wir weniger gelernt? Vielleicht, wenn ich mir die teilweise Inkompetenz der Baby Boomer im Umgang mit globalem Wettbewerb, Wirtschaftskrisen oder einer Pandemie vor Augen führe. Aber wird die junge Generation mit 15 KitaKindern und max. 25 Schülern in Klassen es deswegen besser machen können?