Bislang müssen in der Kultusministerkonferenz alle wichtigen bildungspolitischen Fragen einstimmig entschieden werden. Das könnte sich bald ändern: Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Rechtsrucks liegen Reformvorschläge vor.
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ES IST das heißeste Eisen im Bildungsföderalismus. So heiß, dass sich lange keiner traute. Obwohl viele Experten seit Jahren sagen: Damit die Kultusministerkonferenz, dieser als unbeweglich verschriene Club, der für bundesweite Standards und Fortschritt in der Bildung sorgen soll, endlich in Bewegung kommt, muss er sich vom sogenannten Einstimmigkeitsprinzip verabschieden.
Ein Bundesland kann jeden
wichtigen Beschluss stoppen
Es besagt, dass bei allen entscheidenden bildungspolitischen Fragen ein einziges Land mit seinem Veto jeden KMK-Beschluss stoppen kann. Dies hat zur Folge, dass ambitionierte Projekte oft gar nicht erst zur Abstimmung kommen und wenn doch, dann allzu oft in langwierigen Verhandlungsrunden zerredet werden. Das beste Beispiel dafür ist: die schier unendliche Debatte um das Einstimmigkeitsprinzip selbst.
Seine Verteidiger sagen: Das ist eben der Preis. Die Deutschen wollen möglichst viel Einheitlichkeit von Prüfungen und Abschlüssen. Die gibt es nur, wenn alle Länder mitmachen. Da ist etwas dran. Auf der Habenseite ist zum Beispiel, dass die Länder das Abitur Schritt um Schritt angeglichen haben. Auf der Sollseite steht, dass darüber Jahr um Jahr vergangen ist und die Hochschulreife immer noch meilenweit von der notwendigen Vergleichbarkeit entfernt ist.
Da hilft auch der Verweis wenig, dass die meisten Beschlüsse in der KMK laut eigener Statistik schon heute gar nicht einstimmig gefasst werden müssen. Denn das eine Fünftel, das sind eben die wirklich wichtigen Entscheidungen.
Wie man sich gegen
Extremisten wappnen will
Dass das heiße Eisen Einstimmigkeitsprinzip jetzt doch angepackt werden soll, liegt am gesellschaftlichen Rechtsruck und der Beliebtheit von AfD und BSW. Wie gesagt: Ein einziges Land reicht, um die Wahl des oder der KMK-Präsidentin zu torpedieren. Genau wie jede bundesweite Bildungsinitiative, weitere Abireformen oder den Haushalt der KMK selbst, dessen Nichtverabschiedung gar deren Existenz infrage stellen würde. Welch verlockendes Szenario für Extremisten und Populisten, sollten sie in eine Landesregierung streben.
Am Montag dieser Woche treffen sich die Bildungsminister zu einer Sondersitzung. Auf dem Tisch liegen ein 19-seitiges Diskussionspapier, mindestens sechs teils gegensätzliche, teils kombinierbare Reformvorschläge und, weil die so komplex sind, gleich noch eine "Lesehilfe" für die Minister, ausgearbeitet von den Ministerialbeamten.
Deren Job endet hier. Der Umfang und die Komplexität der Beschlussvorlage, die mir vorab vorlag, zeigen: Es braucht jetzt eine politische Entscheidung, schnell und sehr grundsätzlich. Geht es um den Schutz der Institution KMK vor den Extremisten? Oder geht es um mehr, um eine neue Kultur der Zusammenarbeit?
Das Weiterfunktionieren der Konferenz an sich ließe sich wohl schon unter Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips sichern, die Vorlage schlägt hierfür im KMK-Sprech "Resilienz stärkende Verfahren ohne Änderung der (Veto-)Rechte der Länder" vor. Im Kern: Stellt sich ein Land aus sachfremden Gründen quer, könnte es von den anderen bestraft werden, angefangen mit Ordnungsrufen bis hin zum Sitzungsausschluss, sodass am Ende die übrigen 15 allein abstimmen können. Unter formaler Wahrung des Einstimmigkeitsprinzips.
Als Notmaßnahme nicht verkehrt und das Mindeste, was die Kultusminister jetzt sehr schnell beschließen sollten. Womöglich unter Hinzunahme einiger der anderen im Beschlussvorschlag diskutierten Optionen.
Die Maßnahmen
sind nicht genug
Doch eine wirkliche inhaltliche Veränderung des Bildungsföderalismus brächte das noch nicht. Für die bräuchte es mehr. Erstens, klar, die ambitionierte Weiterentwicklung und weitgehende Harmonisierung bundesweiter Standards, Prüfungen und Abschlüsse, die auch dann beschließbar sein müssen, wenn ein oder möglicherweise sogar zwei oder drei Länder sie ablehnen. Denn nur dann wachsen Beschlussgeschwindigkeit und Handlungsfähigkeit der KMK in dem Maße, wie es nötig wäre, um ihre gesellschaftliche Legitimität mittelfristig zu sichern.
Zweitens und unbedingt damit verbunden: Die nicht einstimmig gefassten Beschlüsse müssten auch für diejenigen Länder verpflichtend gelten, die ihnen nicht zugestimmt haben. Sonst wäre der Preis der neuen Geschwindigkeit und Entscheidungsdynamik, dass die Bildungssysteme dieser Länder abgekoppelt würden. Was dafür erforderlich wäre? Ein Staatsvertrag, in dem Länder einen Teil ihrer Bildungssouveränität an die KMK abgeben.
Die KMK-Ministerialbeamten halten das offenbar nicht für realistisch, sprechen von "erheblichen Hürden" und einer fundamentalen Veränderung des Grundcharakters der KMK. Das Ziel, über einen Staatsvertrag zu mehr Vergleichbarkeit in der Bildung zu kommen, wurde zuletzt vor einigen Jahren zugunsten eines weniger politisch, weniger verbindlichen "Länderabkommens" aufgegeben.
Und doch wäre genau das der Grundtenor einer mutigen Debatte, die die Kultusminister als Nächstes führen sollten. Mehrheitsbeschlüsse, die für alle gelten: Das muss auf kurz oder lang das neue Prinzip im Bildungsföderalismus werden.
Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
Sechsmal Reform und einmal Status Quo
Die sogenannte Strukturkommission II hat im Auftrag der Kultusminister zusätzlich zum Status Quo sechs Verfahrensvorschläge zu den KMK-Abstimmungsmodalitäten formuliert. Grundlage war ein von der KMK in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten des Kieler Verwaltungsjuristen Christoph Brüning.
Status Quo: Das Einstimmigkeitsprinzip gilt wie bislang bei Abstimmungen zu Einheitlichkeit und Mobilität im Bildungswesen, bei Auswirkungen auf die Landeshaushalte und bei allen Fragen, die die KMK, ihre Organisation und von ihr errichtete Einrichtungen betreffen. Bei allen anderen Themen reichen ein 13:3-Quorum und bei sogenannten Verfahrensbeschlüssen eine einfache Mehrheit.
Reformvorschlag 1: Keine Veränderung des Einstimmigkeitsprinzips, aber Sanktionsmöglichkeiten im Umgang mit sachfremden Abweichlern. Hier ist das Vorbild die Geschäftsordnung des Bundesrates. Zum Schutz der "Ordnung und Würde" der KMK könnten in einem gestaffelten Verfahren verschiedene Eskalationsstufen den Druck auf Länder erhöhen, die offensichtlich nur blockieren wollen. Aufgezählt werden Sachruf, Ordnungsruf, die Entziehung des Wortes bis hin zum Ausschluss von der Sitzung, so dass die verbliebenen Länder wie verlangt einstimmig beschließen könnten.
Reformvorschlag 2: Änderung am Einstimmigkeitsprinzip über ein Clearing- und Sanktionsverfahren. Konkret: Gibt es eine oder mehrere Gegenstimmen, wird zunächst geschaut, ob sich die betreffenden Länder doch noch zur Umkehr bewegen lassen, erst über eine Anpassung des Beschlussvorschlages. Wenn die nichts bringt, als nächstes über die einstimmig beschlossene Warnung der übrigen Länder, dass die Abweichler die Nichtanerkennung ihrer eigenen Regelungen riskieren. Anschließend reicht eine Mehrheit von mindestens 13 Ländern. Darüber hinaus kann dieselbe Mehrheit in letzter Konsequenz Sanktionen gegenüber Ländern beschließen, die mit ihren eigenen Regeln "gravierend" von der KMK-Beschlusslage abweichen, und zwar in Form besagter Nichtanerkennung dieser Regeln – und möglicherweise ganzer Bildungsabschlüsse.
Reformvorschlag 3: Änderung am Einstimmigkeitsprinzip bei haushaltsrelevanten Vorhaben. Was bedeutet: Will lediglich eine kleinere Gruppe von Ländern gemeinsam ein Bildungsprogramm umsetzen (vergleichbar der aktuellen KMK-Initiative "QuaMath"), dann brauchen sie dafür nicht die Zustimmung aller Länder. Voraussetzung: Durch das Programm werden die Einheitlichkeit und Mobilität im Bildungswesen nicht berührt.
Reformvorschlag 4: Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips bei allen Fragen. Die Strukturkommission bezeichnet die als die "große Lösung": Wenn keine Einstimmigkeit erzielt wird dort, wo sie bislang verlangt wird, reicht in der nächsten KMK-Sitzung ein 13-3-Quorum. Die Beschlüsse entfalten nur für die zustimmenden Länder Wirkung – möglicherweise auf Kosten der Anerkennung. von Abschlüssen derjenigen Länder, die nicht zugestimmt haben.
Reformvorschlag 5: Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips bei allen Fragen wie eben beschrieben – mit Ausnahme der KMK und ihrem Haushalt selbst, wo weiter alle Länder gemeinsam abstimmen müssten.
Reformvorschlag 6: Abweichung von der Einstimmigkeit in Bezug auf die KMK. Hier könnte, wenn es bei Beschlüssen Abweichler gibt, ebenfalls ein Clearing-Verfahren durchgeführt werden wie oben beschrieben.
Eine Vielfalt von Reformvorschlägen, die teilweise miteinander kombinierbar sind.
Es bleibt aber in jedem Fall die Schwäche, dass ohne Abschließen eines neuen Staatsvertrages Abweichler-Ländern nicht verpflichtet wären, Mehrheitsbeschlüsse umzusetzen – womit jede Abweichung vom Einstimmigkeitsprinzip die Vergleichbarkeit im Bildungswesen und damit neue Reputationskrisen für den Bildungsföderalismus heraufbeschwören könnte.
Vorsitzende der Strukturkommission sind der Hamburger Bildungsstaatsrat Rainer Schulz und der Amtschef im bayerischen Wissenschaftsministerium, Rolf-Dieter Jungk.
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R. Boltz (Montag, 02 September 2024 14:00)
Das hier dargestellte Anliegen ist verständlich und sicher sinnvoll. Was mich aber sehr stört, daß der hier vermerkte Rechtsruck mit AFD und (?!) BSW verbunden wird. Wie wäre es denn, mal die Entwicklung des BSW abzuwarten und
keine Vorabverurteilungen vorzunehmen. Dies wäre für mich ein Grund, diesem Blog skeptisch gegenüber zu werden.
Django (Montag, 02 September 2024 16:08)
@ #1: Ich habe die Tage das Adjektiv "linkskonservativ" als Einstufung des BSW gelesen. Das trifft es m.E. ganz gut. Inhaltlich müsste das BSW eigentlich eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der KMK unterstützen, denn im Programm steht "Wir fordern einheitliche Lehrpläne und Abschlüsse in allen 16 Bundesländern". Das geht mit einer Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip sicherlich leichter als im bisherigen Rahmen.
Die Frag ist nur, ob das BSW bereit ist, in eine Koalition einzutreten.