· 

Freie Kitaplätze, aber dafür weniger Geld für Bildung?

Es ist eine seltene Gelegenheit: Sinkende Geburten bieten die Chance, das Bildungssystem zukunftsfähig aufzustellen. Aber welche Prioritäten werden gesetzt?

Dieses Bild mit Vorschulkindern ist KI-generiert. 

MIT SO EINER NACHRICHT hätte noch vor zwei Jahren keiner gerechnet. 28.000 freie Kitaplätze gebe es in der Hauptstadt, berichtete die Berliner Bildungssenatorin vorvergangene Woche. Allerdings ungleich verteilt: Während in dem einen Kiez weiter Mangel herrscht, machen anderswo, etwa in Kreuzberg, schon Warnungen vor einem "Kita-Sterben" die Runde.

 

Und doch: Nach Jahren, in denen die Zeitungen voll waren mit Schlagzeilen über Kita-Chaos und Fachkräftemangel (zuletzt bezifferte der Paritätischen Gesamtverband die Erzieherlücke auf bundesweit 125.000), dreht sich gerade etwas, vor allem in den westlichen Bundesländern. Eine demographische Entwicklung deutet sich an, deren Rasanz die Bildungsplaner einmal mehr vor Herausforderungen stellt.

 

Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Erstens: der Rückgang bei den Geburtenzahlen, der fast schon einem freien Fall entspricht. 2021 kamen in Deutschland 795.000 Kinder zur Welt. 2023 693.000. Ein Siebtel weniger. Der zwischen 2011 und 2016 beobachtete Anstieg der Geburtenrate von 1,3 auf 1,6, die statistische Zahl der Kinder pro Frau: innerhalb von zwei Jahren komplett weggeschmolzen auf 1,35 im vergangenen Jahr.

 

Zweitens: Die Nettozuwanderung nach Deutschland hat sich zwischen 2022 und 2023 mehr als halbiert auf immer noch vergleichsweise hohe 0,7 Millionen. Doch in diesem Jahr dürfte, Stichwort Stimmungsmache gegen Migration, die Zahl nochmal rasant runtergehen. Weniger Einwanderer bedeutet weniger Kinder, die den Geburtenrückgang in Deutschland kompensieren könnten.

 

Die Vorwarnzeit für die frühkindliche Bildung bei derart extremen demographischen Verschiebungen ist naturgemäß kurz, wenn 92 Prozent der 3- bis 6-Jährigen eine Kita besuchen. Die Schulen und die Schulpolitik haben (etwas) mehr Zeit, sich vorzubereiten. 

 

Aber tun sie es auch? Sind sich die Bildungsminister darüber im Klaren, wie massiv sich Geburten- und Einwandererschwund auf die Klassenstärken auswirken werden? Als die Bertelsmann-Stiftung im Januar prognostizierte, dass sich der Lehrkräftemangel in den Grundschulen bald in einen deutlichen Überschuss umkehren werde, rieben sich manche noch die Augen. Die KMK sieht von 2026 an eine "geringe Entspannung". 

 

Der unvermeidbare Kampf
um die demographische Rendite

 

Vor 15, 20 Jahren machte in der Bildungspolitik das Schlagwort von der "demographischen Rendite" Karriere. Damals, bevor der Anstieg von Geburtenrate und Zuwanderung fast alle Experten überraschte, lautete die Hoffnung: Wenn die Finanzminister den Schulen nur das Geld ließen, das sie jetzt haben, könnten sie es für lange nötige Qualitätsverbesserungen einsetzen. Es kam anders. Statt des erwarteten Schülerschwunds ging die Kurve steil nach oben.

 

Jetzt wiederholt sich die Geschichte, allerdings zu haushaltspolitisch denkbar ungünstiger Zeit. Weniger Kinder in Kitas und dann in Schulen bedeutet eine ungeheure Verlockung und ein scheinbar unschlagbares Argument für Haushaltspolitiker, das vermeintlich überschüssige Geld einzusacken. Das ist der Kampf, der jetzt bevorsteht. 

 

Denn weniger Kitakinder böten die Gelegenheit, die Betreuungsverhältnisse zu verbessern, was in einigen Fällen darauf hinausliefe, überhaupt wieder eine verlässliche Betreuung anbieten zu können. Gut, dass der Bund in letzter Sekunde doch noch durchgesetzt hat, dass die Länder im Gegenzug zu zwei Bundesmilliarden pro Jahr an ihre Fachkraft-Kind-Relation müssen. Jetzt heißt es: bloß keine Spardebatte aufkommen lassen, die Schulabsolventen von einer Erzieherausbildung abschrecken könnte.

 

Und die Schulen? Ohne die Drohkulisse übervoller Klassen für Lehrerstellen und die nötigen Investitionen in den Schulbau oder die Digitalisierung streiten zu müssen, dafür braucht die bundesweite Bildungspolitik eine überzeugende Strategie, das schlüssige Narrativ eines bildungspolitischen Aufbruchs. Scharmützel, wie sich Bund und Länder derzeit etwa um die ohnehin schon geschrumpfte Fortsetzung des Digitalpakts liefern, sind das genaue Gegenteil davon. 

 

Und dass die Ministerpräsidenten am Freitag per Beschluss zwei Jahre mehr Zeit vom Bund forderten, um die Fördergelder aus dem "Ganztagsfinanzhilfegesetz" in den Bau von Küchen, Mensen oder Gruppenräume zu investieren, mag den von den Regierungschefs angeführten Fachkräftemangel, in diesem Fall im Bausektor, zur Ursache haben. Oder aber auch das nachlassende Gefühl der Dringlichkeit. 

 

Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel. 



In eigener Sache: Journalismus kostet

Vielen Dank für Ihre Unterstützung meiner Arbeit! Wie steht es um den Blog? Ein aktueller Überblick und eine Bitte.

 

Mehr lesen...


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    R. Beltzig (Montag, 28 Oktober 2024 08:44)

    Wieder mal ein schöner Beitrag von Herrn Wiarda zu dem
    wichtigen Thema der vorschulischen und schulischen Bildung. Hätte man damals in der Corona-Zeit besser auf seine Warnungen gehört, wäre in diesem Bereich manches besser gelaufen.

  • #2

    Wolfgang Kühnel (Montag, 28 Oktober 2024 22:53)

    Ich weiß noch, was Frau Schawan im Jahre 2011 zum Thema Demografie verkündete: Innerhalb von 10 Jahren werde die Zahl der Schüler um 20 % zurückgehen, da müsse man doch Schulen schließen! Diese Internet-Seite ist jetzt nicht mehr zugänglich.
    Offenbar hat niemand nachgehakt und gefragt, was denn daran so schrecklich sei. Wenn im Durchschnitt alle Schulklassen um 20 % verkleinert werden oder wenn 5-zügige Schulen nur noch 4-zügig sind, ist das alleine doch keine Katastrophe. Es käme darauf an, wie es danach weitergeht.
    So ähnlich ist es jetzt, wenn ein Rückgang um 1/7 diskutiert wird. Kleinere Kita-Gruppen, kleinere Schulklassen und vielleicht 6-zügige statt 7-zügige Schulen sind doch keine Katastrophe. Deutschland hat derzeit eine Rekord-Bevölkerungszahl von über 85 Millionen und ein Riesenproblem bei der Versorgung mit Wohnungen. Wenn die unter den Stand von 1990 fällt (79 Millionen), hat man immer noch Zeit, über Gegenmaßnahmen nachzudenken. Zum Glück werden wohl immer noch etliche arme Ausländer mit Kindern bereit sein, dann nach Deutschland einzuwandern, wenn man sie schön bittet. Eher zu befürchten ist doch, dass der nächste Krieg bald beginnt mit erneuten Flüchtlingswellen. Hektische Nervosität ("im freien Fall") ist beim Geburtenrückgang jedenfalls nicht angesagt. Wenn etwas Druck aus dem Kessel genommen wird, ist das doch wohltuend.
    Nebenbei: Das Siebtel oben im Artikel ist eher ein Achtel: von 800.000 auf 700.000 jedenfalls wären es genau ein Achtel weniger.