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Wenn man plötzlich keine Brennpunktschule mehr ist

Wie meine Neuköllner Sekundarschule ihren offiziellen Sorgenkind-Status einbüßte und was mich daran dann doch sehr wunderte. Ein Gastbeitrag von Ada M. Hipp*.

NEULICH, IN UNSERER ERSTEN GESAMTKONFERENZ nach den Sommerferien, wurde uns beschieden, dass wir auch dieses Schuljahr keine Brennpunktschule mehr sein würden. Bemerkt habe ich es schon seit Längerem, auf meinem Konto fehlte die Brennpunktzulage.

 

Ab dem 1. März 2019 bekamen alle Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher, die zu diesem Zeitpunkt an einer Brennpunktschule in Berlin tätig waren, rückwirkend für das Jahr 2018 eine Zulage in Höhe von monatlich 300 Euro, die es zu versteuern galt. Ziel dieser Zahlung war und ist es, dass sich gut ausgebildetes Personal für die Arbeit an einer Schule mit unterschiedlichen Problemen entscheidet, ein Lockmittel sozusagen.

 

Als ich im Jahre 2004 an diese Schule kam, hatte ich im Vergleich zu meiner alten Stelle einen erheblichen Mehraufwand an Arbeit zu leisten. Dies hatte vor allem mit dem Verhalten der dort lernenden Schülerinnen und Schüler zu tun. So viele pädagogische und erzieherische Gespräche, Sitzungen, Klassenkonferenzen oder Beratungen mit Schülern, Eltern und dem Kollegium bereits in meinem ersten Jahr hatte ich in den gesamten 13 Jahren zuvor nicht. Schon damals dachte ich, dass diese Mehrarbeit in irgendeiner Weise honoriert werden müsste, entweder durch Abminderungsstunden innerhalb des zu unterrichtenden Stundendeputats oder, wenn auf Grund des Personalmangels nicht anders möglich, finanziell.

 

Als es im Jahre 2019 nun zum Beschluss einer Zulage kam, war ich insofern sehr froh darüber, doch die Begründung, warum wir diese durchaus willkommene, wenn auch bescheidene, Finanzspritze erhielten, erstaunte mich doch.

 

Mehr Geld für
mehr Arbeit?

 

Ob eine Schule diese Zulage erhält, richtet sich nämlich nicht nach der herkömmlichen Annahme der geringeren Niveaus der Schulabschlüsse oder eines an der Schule erhöhten Gewaltpotenzials. Sie richtet sich allein nach der Höhe der Berlin-Pass-Quote im Rahmen des BuT, dem Bildungs- und Teilhabepakets, der Anzahl der Schülerinnen und Schüler einer Schule also, die lernmittelbefreit sind und dies alle drei Monate beim Jobcenter auf dem Pass bestätigen lassen (müssen). 

 

Letztlich richtet sich die Zulage also danach, ob Eltern entweder keine oder nur geringfügig bezahlte Arbeit haben, Wohngeld beantragen müssen, einen Kinderzuschlag und/oder Bürgergeld erhalten. Dies impliziert im Umkehrschluss, dass Kinder dieser Eltern grundsätzlich Lern- und Verhaltensschwierigkeiten hätten, allein dadurch begründet, dass sie durch ihre Eltern auf einen Berlin-Pass angewiesen sind. Die Eltern seien somit schuld an der Misere.

 

Dies impliziert auch, dass es nur an solchen Schulen zu vermehrt geringeren Abschlussquoten käme, nur an solchen Schulen das Gewaltpotential hoch sei, nur an solchen Schulen Schülerinnen und Schüler große Lern- und Verhaltensauffälligkeiten zeigten.

 

Natürlich ist das bei vielen unserer Schüler tatsächlich der Fall. Weil es überall, weil es allgemein der Fall ist, dass diese Herausforderungen zunehmen. Bestätigt wird dies durch regelmäßig durchgeführte Studien, seien es PISA, IGLU, die Lernausgangslagen in Klassenstufe 7 oder die jährlich stattfindenden VERA3- und VERA8-Vergleichsarbeiten.

 

Das materielle Elend der Schüler 
ist mein materieller Zugewinn

 

Die konkreten Auswahlkriterien von Berliner Brennpunktschulen laufen allerdings darauf hinaus, dass mein Einkommen umso höher ist, je mehr meiner Schüler lernmittelbefreit sind. Das materielle Elend der Lernenden ist demnach mein materieller Zugewinn?!

 

Schon im vergangenen Schuljahr 2023/24 hatten wir erstmals die Mitteilung erhalten: Ihre Schule ist keine Brennpunktschule mehr. Wie das? Sind wir umgezogen? Hat sich unser Schülerklientel von einem Tag auf den anderen geändert? 

 

Nein! Auch ich selbst unterrichte seit nunmehr 20 Jahren an derselben Schule. Seit 20 Jahren bin ich in Vollzeit an einer Schule mit einem Migrationsanteil von inzwischen 100 Prozent. Im Jahre 2004 lag der Migrationsanteil bei 80 Prozent. Bin ich deshalb krank oder stehe kurz vor dem Burnout? Keineswegs. 

 

An einer Schule mit Schülerinnen und Schülern mit einem hohen Migrationsanteil zu unterrichten, bedeutet nicht zwangsläufig erhöhter Stressfaktor oder vermehrtes Gefahrenpotenzial, wie es gemeinhin gern aus Medien zu erfahren ist. Augen auf bei der Berufswahl, wird einem dann schnell mal entgegengehalten; ein Satz, der mich im Übrigen extrem triggert, um es neudeutsch auszudrücken. Wir sind es nicht, die vorwiegend für die Erziehung verantwortlich sind, obschon wir neben dem Bildungsauftrag auch den der Erziehung haben. Elternhaus und Schule sollten gemeinsam Sorge dafür tragen.

 

Eine Brennpunktschule
weniger – Problem gelöst?

 

Bei uns gibt es nicht ständig Mord und Totschlag auf dem Schulhof, das Leben miteinander ist nicht geprägt von Prügeleien, Geschrei und Messerattacken, und Schulabschlüsse sind bei uns mehr als nur ein vager Traum der Lehrkräfte.

 

Wie aber kam es nun, dass wir (vorerst) keine Brennpunktschule mehr sind? Ganz einfach: 2023 waren nur noch 79 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler lernmittelbefreit. Aber um als Brennpunktschule zu gelten, müssen es mindestens 80 sein. Dieses Jahr liegen wir wieder bei 82 Prozent. Warum wir entsprechend dieser schlichten Logik trotzdem nicht wieder zum Brennpunkt erklärt wurden, ist mir schleierhaft. Vielleicht sitzt jetzt irgendwo jemand in der Schulverwaltung und sagt: Na also, geht doch. Eine Brennpunkschule weniger, Problem gelöst.

 

Wir sind allerdings auch Startchancen-Schule, eine von bald 4000 bundesweit. Müssen wir die Förderung jetzt auch wieder abgeben? Zum Glück nein, denn für die Aufnahme in dieses Programm gelten wiederum andere Voraussetzungen. Gut für uns. Nicht gut für eine andere Schule, weil dort eventuell ein, zwei Schülerinnen mehr einen Schulabschluss schaffen, die Probleme sich aber ansonsten gleichen. 

 

Eigentlich ist die Sache mit den Brennpunkt- und den Startchancen-Schulen doch so: Wenn allgemein die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler sinken, braucht man auch allgemein ein Startchancen-Programm. Nicht mal ein bisschen mehr Bildung hier und ein bisschen mehr Bildung da. Bildung für ALLE! Egal, welcher Familienhintergrund; egal, welcher materielle Hintergrund; egal, welcher religiöser Hintergrund; egal, welcher Bildungshintergrund – einfach für alle.

 

*Ada M.Hipp ist Sekundarschullehrerin. Ihr Name wurde geändert.



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Kommentare: 1
  • #1

    Django (Dienstag, 19 November 2024 15:56)

    Vordergründig wurde die Berlin-Pass-Quote als Kriterium für die Einstufung als Brennpunktschule gewählt, weil die Zahlen bereits vorliegen bzw. einfach zu erheben sind. Dass die Person, die die Entscheidung getroffen hat, damit auch eigene Vorurteile füttert, mag allerdings sein.