Der Kanzler stellt seine Vertrauensfrage, und dann? Michael Hüther ist Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft und einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands. Er fordert von der nächsten Regierung 600 Milliarden Euro Investitionen in Infrastruktur, Wirtschaft und Bildung. Dazu will er einen Infrastruktur- und Transformationsfonds in der Verfassung verankern.
Fotos: Kay Herschelmann.
Herr Hüther, Deutschland steckt in der Transformationskrise. Wann sind wir falsch abgebogen?
Den einen Zeitpunkt kann ich Ihnen nicht nennen. Fest steht: Wir haben nicht rechtzeitig erkannt, dass wir es mit einer besonders komplexen Situation zu tun haben, in der die große Herausforderung darin besteht, alle Aufgaben gleichzeitig lösen zu müssen. Die Dekarbonisierung, den Weg in die Klimaneutralität. Den Wiederaufbau einer seit 20 Jahren unterfinanzierten Infrastruktur. Die neue geopolitische Sicherheitslage. Die Alterung der Gesellschaft, die uns Wachstumspotenzial kostet. Und wir haben keine Zeitreserven mehr, denn selbst nachdem wir die Dringlichkeit zur Transformation erkannt hatten, haben wir sie politisch nicht diszipliniert umgesetzt.
Wen meinen Sie mit "wir"? Die deutsche Politik? Die Gesellschaft insgesamt?
Ich meine schon uns alle. Aber natürlich muss ein solcher Transformationsprozess, der abgeleitet ist aus dem, was die Klimaforscher uns sagen, eine politische Führung haben. Und die hat es faktisch nicht gegeben. Die Politik hat ihre Führungsverantwortung nicht wahrgenommen. Das Bundes-Klimaschutzgesetz wurde erst 2019 verabschiedet, seine Novelle 2021. Und das Gesetz war nicht so gestaltet, um die notwendigen Umsetzungsschritte konsequent ableiten zu können. Drumherum wurde in der Öffentlichkeit aufgeregt diskutiert, demonstriert und sich festgeklebt, aber alles nicht in einer Art und Weise, die die gesellschaftliche Bereitschaft zum Handeln gestärkt hätte.
"Wir brauchen einen klimapolitischen Konsens,
dass der Umbau unserer Wirtschaft
auf Erkenntnissen der Klimaforschung
beruht und als Ziel außer Frage steht"
Die Ampel-Koalition erbte die Krise von der Großen Koalition, handelte aber weiter nicht entschlossen genug. Was macht Sie optimistisch, dass die nächste Bundesregierung konsequenter sein wird?
Als Rheinländer bin ich immer irgendwie optimistisch und als Marktökonom allemal. Trotzdem warne ich davor, der Illusion zu verfallen, mit einer neuen Regierung würde automatisch alles wieder gut – oder so wie vor der Krise. Als erstes brauchen wir einen klimapolitischen Konsens, dass der Umbau unserer Wirtschaft auf Erkenntnissen der Klimaforschung beruht und als Ziel außer Frage steht. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren mit dem Streit über grundsätzliche Instrumente wie den CO2-Preis auf Basis des Zertifikatehandels. Zugleich brauchen wir eine aktive Industriepolitik, weil der CO2-Preis nicht alles regeln kann. Und wir brauchen Technologieoffenheit, vor allem in der angewandten Forschung.
So wie sie die Befürworter der Verbrennermotoren fordern?
Technologieoffenheit in dem Sinne, dass sie keine Entwicklung verhindert, sondern möglich macht. Dazu gehören zusätzliche Investitionen in die Batterieforschung, in den Ausbau der Speicherinfrastruktur und in Technologien, die den Wechsel aus der Nutzung fossiler Brennstoffe in der Industrie ermöglichen. Wir sollten nicht glauben, dass irgendetwas besser wird, indem wir ständig alles aufs Neue hinterfragen. Ich hoffe, dass es in den demokratischen Parteien einen solchen Minimalkonsens letztlich geben wird. Denn klar ist: Nichtstun wird für keine Koalition eine Alternative sein können.
Michael Hüther, 62, ist seit 2004 Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, außerdem ist er Honorarprofessor der EBS Universität für
Wirtschaft und Recht in Oestrich-Winkel. Der Volkswirt ist viel gefragter Kommentator der aktuellen Wirtschaftslage, so diskutiert er jede Woche mit dem Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup in dem Handelsblatt-Podcast "Economic Challenges".
Tatsächlich wurde sogar viel getan in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Nur wurde dabei fast immer das Sicherheitsbedürfnis der Gegenwart priorisiert und fast nie das Arbeiten an den Zukunftschancen der nächsten Generationen. Überspitzt formuliert: Alt triumphierte über Jung, wenn politische Entscheidungen anstanden.
Dem kann ich nicht widersprechen. Ich will nur die Rahmung hinzufügen, und die lautete: An die künftigen Generationen wird hinreichend gedacht, solange wir die Schuldenbremse einhalten, die 2009 in die Verfassung kam. Ich selbst habe bei der Einführung so gedacht, doch heute muss ich eingestehen: Die Erwartungen an die Schuldenbremse, mit der Disziplinierung der Finanzpolitik würde sich zugleich eine Investitionsperspektive eröffnen, haben sich nicht erfüllt. Wir haben die staatliche Schuldenquote zwischen 2009 und 2019 um 20 Prozentpunkte reduziert, weil mehr Menschen in Arbeit kamen. Es wurden aber keine Anreize gesetzt für Investitionen, die über die Gegenwart hinausreichen. Und dann hat uns die Pandemie völlig aus der Bahn geworfen.
Geld genug wäre trotz Schuldenbremse da gewesen. Doch die Große Koalition hat es für die Einführung der Rente mit 63 ausgegeben, die inzwischen mit über 40 Milliarden Euro pro Jahr zubuche schlägt – ohne dabei die Altersarmut zu verringern.
Die Rente mit 63 war falsch. Doch jetzt ist die entscheidende Frage eine andere: Hilft die Schuldenbremse bei der Priorisierung, die wir vornehmen müssen? Die Antwort ist angesichts der historisch einmaligen Herausforderung ganz klar: nein. Weswegen ich immer mehr zu der Erkenntnis komme, dass wir grundsätzlich eine verfassungsrechtliche Vorgabe brauchen, die sich an der Art der Ausgaben orientiert, im Sinne einer Investitionsklausel, und nicht allein an Schuldenstand und Defizit.
Eine Abschaffung oder Aussetzung der Schuldenbremse kommt also nicht in Frage?
Wir müssen etwas an ihre Stelle setzen, das unsere Erfahrungen der vergangenen zehn, 15 Jahren berücksichtigt. Anders bekommen wird den riesigen Investitionsbedarf, den wir als Gesellschaft haben, nicht befriedigt.
Ihr Institut hat berechnet, dass in den kommenden zehn Jahren knapp 600 Milliarden Euro nötig wären für die Ertüchtigung unserer Infrastruktur, für den klimaschonenden Umbau der Wirtschaft oder auch die Sanierung unserer Bildungseinrichtungen.
Und vergessen Sie nicht den deutlichen Aufwuchs für das Verteidigungsbudget. Meines Erachtens reden wir eher von 300 als von 100 Milliarden Euro Sondervermögen zur Nachfinanzierung der Unterlassungen von drei Jahrzehnten. Daher lautet unser Vorschlag, einen gesamtstaatlichen Infrastruktur- und Transformationsfonds einzurichten, ihn in der Verfassung zu verankern und seine Verwendung beständig zu evaluieren. Die Politik hat die Idee mit Interesse aufgenommen.
Nur dass jetzt die Zeit davonläuft. Im nächsten Bundestag könnten AfD und BSW eine Sperrminorität haben.
Dann wird man die nötigen Ausgaben-Spielräume nur hebeln können, indem man den Infrastrukturgesellschaften wie der Bahn AG oder der Autobahn GmbH die Mittel direkt zuweist. Da gäbe es noch Möglichkeiten. Aber der Königsweg wäre das nicht.
Welche Beträge müssen zusätzlich in Bildungseinrichtungen fließen, Herr Hüther?
Wir gehen in unserer Aufstellung von 6,7 Milliarden Euro für den Ausbau der Ganztagsschulen aus und von 34,7 Milliarden für die Sanierung der Hochschulen.
Das ist erstaunlich wenig. Die KfW-Bankengruppe taxiert den Sanierungsstau in den Schulen auf fast 50 Milliarden Euro, für die Hochschulen lautete die Schätzung des Wissenschaftsrats bis zu 60 Milliarden.
Wir haben bei allen Posten mit dem Minimum oberhalb der bereits etatisierten Mittel gerechnet, weil wir nicht den Eindruck erwecken wollten, wir würden mit Fantasiezahlen arbeiten. Bei den Hochschulen haben wir die Daten von HIS-HE genommen, bei den Schulen sind wir davon ausgegangen, dass für die normalen Sanierungen die Kommunen und Länder zuständig sind, nicht der Bund.
Das Deutsche Studierendenwerk (DSW) fordert vier Milliarden für ein Bund-Länder-Programm für Sanierung und klimagerechten Umbau der Mensen. Haben Sie das drin in Ihren Berechnungen?
Am Ende sind die 600 Milliarden Euro in unserer Schätzung nur ein Ausgangspunkt, eine Untergrenze, die wir konsistent belegen können. Dass da manches fehlt, versteht sich von selbst. Und dass sich die Situation von Land zu Land stark unterscheidet, ebenfalls. Nehmen Sie den Hochschulbau: Die ostdeutschen Länder haben den Vorteil, dass viele ihrer Gebäude aus den 1990er und 2000er Jahren stammen, während in den westdeutschen Bundesländern in den zwei Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung kaum gebaut wurde.
"Geschäftsführer der Wohnungswirtschaft sagen,
sie müssten Häuser, die vor fünf, sechs Jahren
dran waren, jetzt schon wieder sanieren, um den
geltenden Regeln zu folgen. Das ist absurd."
Laut DSW müssten rund 40 Prozent der rund 200.000 Wohnheimplätze der Studierendenwerke aus Klimaschutzgründen eine neue Heizung erhalten. Zeigt sich hier nicht im Kleinen, welche massiven und mitunter nicht-intendierten Kostenfolgen EU-Richtlinien zum Klimaschutz wie die Gebäuderichtlinie für die Bedarfs- oder Sozialwirtschaft haben?
Die Grundidee, dass wir die Gebäude sanieren, ist richtig. Die Frage ist, ob wir dabei alle drei Jahre neue Anforderungen stellen sollten. Wenn ich mit Geschäftsführern in der Wohnungswirtschaft rede, sagen die, sie müssten Häuser, die vor fünf, sechs Jahren dran waren, jetzt schon wieder sanieren, um den geltenden Regeln zu folgen. Das ist natürlich absurd. Das kann der Staat nicht von anderen abverlangen und auch selbst kann er es nicht.
Mitten in der deutschen Transformationskrise fehlt vielen die Zielperspektive. Nehmen Sie uns bitte mit auf einen Ausflug in die Bundesrepublik des Jahres 2035, die den Neustart geschafft hat. Was sehen Sie da?
Ich sehe ein Land, das seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung gesteigert hat. Das den Exzellenzwettbewerb der Hochschulen weiterentwickelt hat und wissenschaftliche Erkenntnisse viel schneller in industriebasierte Dienstleistungen umsetzen kann. Denn genau das, diese Verbindung von Exzellenz in der Grundlagenforschung zu Exzellenz in der Anwendung, wird unseren künftigen Erfolg als Clusterökonomie ausmachen.
"Wir waren mit unserer Industrie lange Zeit
Ausstatter der Welt. Und wir können es nach
dem nächsten Sprung wieder sein"
Basierend auf welchen Technologien?
Wenn ich das wüsste, wäre ich unbezahlbar und könnte mit meinem Gehalt auch die Studierendenwerke sanieren. Im Ernst: Keine bestehende Technologie bricht einfach ab, keine fällt einfach vom Himmel. Das zeigt uns die Wirtschaftsgeschichte. Eine hochmoderne Kernindustrie wird es weiterhin geben, sie muss und wird ihre Transformation bewältigen, in Deutschland und international. Wir waren mit unserer Industrie lange Zeit Ausstatter der Welt. Und wir können es nach dem nächsten Sprung wieder sein.
Wenn man Sie so reden hört, wirken Sie dem Team Habeck näher als dem Team Lindner.
Das sind für mich keine relevanten Bezugsgrößen.
Dieses Interview erschien zuerst im DSW Journal, Ausgabe 4/2024.
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Manu (Montag, 16 Dezember 2024 11:54)
"Wenn man Sie so reden hört, wirken Sie dem Team Habeck näher als dem Team Lindner."
"Das sind für mich keine relevanten Bezugsgrößen."
Herrlich die Frage. :-)
Jana Stibbe, HIS-HE (Dienstag, 17 Dezember 2024 11:52)
Die Idee eines staatlichen Infrastruktur- und Transformationsfonds ist interessant.
Da HIS-HE von Herrn Hüther erwähnt wurde, möchte ich jedoch gerne noch etwas klar stellen. Die erwähnten 34,7 Mrd. € sind schon lange überholt (2016). Dort wird nur der Stau von 2008 - 2016 aus Mangel an Daten abgebildet (auch davor gab es schon einen Stau) und eine Abschätzung von 2016 bis 2025 ergänzt. Inzwischen gibt es eine neue Berechnung (2023) für die KMK von HIS-HE mit einer anderen Methode (Hochrechnung der Flächen/Gebäude mit abgelaufenem Lebenszyklus und Errechnung der Sanierungskosten dieser Flächen, Wiederherstellkosten wie Neubau). Dabei wurden 74 Mrd. Euro für den Sanierungsstau ermittelt. https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2023/2023_06_23-Klimagerechte-Sanierung-Hochschulen.pdf (S. 4).