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"Die Möglichkeiten sind jetzt fast grenzenlos"

Die Corona-Pandemie zeigte auf schmerzhafte Weise Deutschlands Rückstand bei der Nutzung von Forschungsdaten. Ein neues Gesetz in Mecklenburg-Vorpommern mache das Bundesland jetzt zum bundesweiten Vorreiter, sagt der Mediziner Karlhans Endlich. Ein Interview über eine Reform, die nichts gekostet hat, aber viel bewirkt.

Karlhans Endlich ist Physiologe und Anatom und Wissenschaftlicher Vorstand der Universitätsmedizin Greifswald.  Foto: Götz Schleser.

Herr Endlich, die Corona-Pandemie war für viele in der medizinischen Forschung und darüber hinaus ein Aha-Moment. Für Sie auch?

 

In der Corona-Pandemie ist offensichtlich geworden, woran wir in Deutschland grundsätzlich und schon lange kranken: Die Daten der Patienten stehen für ein Gesundheitsmonitoring oder für die Forschung kaum zur Verfügung, teilweise hatten wir schon im eigenen Klinikum Probleme damit. An einen landes- oder gar bundesweiten Datenaustausch war erst recht nicht zu denken. In unserem Corona-Krisenstab herrschte darum jeden Tag die gleiche Unsicherheit: Was erwartet uns, wenn die nächste Virusvariante kommt? Wird sie eine leichtere wie Omikron oder eine schwere wie Delta? Wie viele Beatmungsfälle werden wir haben? Für die Beantwortung mussten wir jedes Mal auf die britischen Analysen schauen, weil die Kollegen dort die Daten aller Krankenhäuser nutzen konnten. Das war schon sehr, sehr frustrierend.

 

Wo genau lag denn das Problem?

 

Wir hatten keine zentrale Datenaustauschstruktur in Deutschland, keine zentrale Plattform. Mit dem DIVI-Intensivregister wurde in Windeseile und erstmals eine Übersicht der vorhandenen und belegten Plätze auf den Intensivstationen geschaffen, das war für sich genommen schon eine Revolution. Aber sonst? Fast nichts. Es gab keine schnellen und verlässlichen Daten zu den Krankenhauseinweisungen, kein regelmäßiges repräsentatives Sampling der Bevölkerung, auch bei der Genomsequenzierung des Coronavirus hinkte Deutschland hinterher.

 

Daten wurden nicht erhoben und noch seltener verknüpft: Ein Problem, das wir auch aus anderen Forschungsfeldern, etwa in den Sozialwissenschaften, kennen. Warum tut sich Deutschland so schwer?

 

Gute Frage. Eine Zeitlang sagten alle, das große Hindernis sei die Europäische Datenschutz-Grundverordnung, die DSGVO. Aber die anderen europäischen Länder haben die doch auch, und trotzdem ist etwa in den skandinavischen Ländern vieles möglich, was bei uns nicht möglich ist. Offenbar herrscht im föderalen Deutschland ein größeres Misstrauen dem Staat gegenüber und eine Abneigung, ihm einen zentralen Zugriff auf alle Daten zu geben. Nur dass es darum ja gar nicht geht. Es geht um die datenschutzkonforme Ermöglichung von Forschung.

 

"Die Auswirkungen eines Gesetzes, das tatsächlich eine Revolution bedeutet, erreichen einen in Windeseile. In Sachen Gesundheitsdatennutzungsgesetz des Bundes hat uns aber nur die Diskussion erreicht."

 

Das von der Wissenschaft deshalb geforderte und im Koalitionsvertrag versprochene Forschungsdatengesetz hat die Ampel nicht geliefert, aber immerhin das "Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten". Hilft Ihnen das?

 

Zum Gesundheitsdatennutzungsgesetz bin ich nicht wirklich aussagefähig, weil es für unsere praktische Arbeit bislang praktisch keine Relevanz hatte. Was vielleicht aber für sich genommen schon die Antwort auf Ihre Frage ist. Die Auswirkungen eines Gesetzes, das tatsächlich eine Revolution bedeutet, erreichen einen in Windeseile. In Sachen Gesundheitsdatennutzungsgesetz hat uns aber nur die Diskussion erreicht. Ein bisschen anders ist das mit der Medizininformatik-Initiative, kurz MII.

 

Was ist das?

 

Die MII schafft ein Forschungsdatenportal für Gesundheit in Deutschland und dazu über alle deutschen Universitätsklinika verteilt sogenannte Datenintegrationszentren. Die liefern dem Portal Daten zu. 

 

Klingt vielversprechend!

 

Schon, nur waren die Hürden für die Datenzulieferung bislang extrem hoch. Jede lokale Ethikkommission stellte ihre eigenen Regeln auf. Bei uns wurde zunächst gefordert, dass jeder Patient und jede Patientin vor der Frage nach seinem oder ihrem Einverständnis erstmal in einem mindestens achtminütigen Gespräch aufgeklärt werden musste, und zwar in einem Extra-Raum, nicht dort, wo sie ins Krankenhaus aufgenommen wurden. Ein Kollege von mir hat nachgewiesen, dass die Hälfte der Patienten schon wegen des Raumwechsels absprang. Damit war wenigstens der Raumwechsel vom Tisch. Doch auch ohne Raumwechsel: Wir sind ein kleines Uniklinikum, aber allein für die Aufklärung unserer 34.000 stationären Patienten bräuchten wir 5.000 Stunden im Jahr. Rechnen Sie mal auf Deutschland hoch, wieviel Personal das binden würde, wenn man die Daten flächendeckend verfügbar machen wollte. Zum Glück ist das bei uns in Mecklenburg-Vorpommern jetzt vorbei.

 

"Die Landesregierung hat uns wirklich zugehört.
Das Ergebnis war ein Gesetz mit e
iner
bemerkenswert einfachen Regelung."

 

Sie sprechen vom "Gesundheitsforschungsstärkungsgesetz", das der Schweriner Landtag vergangenes Jahr beschlossen hat und von dem Wissenschaftsministerin Bettina Martin behauptet, es sei deutschlandweit einzigartig.

 

Das behauptet sie nicht nur, das ist so. Die Corona-Pandemie hat da einigen in der Politik die Augen geöffnet. Wir Mediziner haben in den vielen Beratungsstunden, die wir mit der Politik zusammensaßen, immer wieder unser Leid geklagt, wie schwierig das mit den Daten bei uns ist in der medizinischen Forschung, im öffentlichen Gesundheitsdienst, und die Landesregierung hat wirklich zugehört. Das Ergebnis war ein Gesetz mit einer bemerkenswert einfachen Regelung.

 

Die wie lautet?

 

Wir haben jetzt eine Widerspruchsregelung. Der Normalfall ist also, dass wir die für die Behandlung bereits erfassten Patientendaten für ein Gesundheitsmonitoring und für die Forschung nutzen dürfen. Natürlich auf der Grundlage verschiedener Maßnahmen, die für Datensicherheit sorgen. Die Daten werden von einer unabhängigen Treuhandstelle pseudonymisiert, das heißt: Nur dort kann man Pseudonyme und Klarnamen zuordnen. Und bevor ein Forschungsprojekt beginnt, muss unsere Ethikkommission im Klinikum bestätigen, dass die Nutzung der Daten im öffentlichen Interesse liegt. Das klappt reibungslos. Sie müssen sich mal vorstellen: Vorher durfte nicht einmal ein Doktorand ins Archiv gehen und in den Krankenakten nach passenden Fällen für eine Forschungsarbeit suchen, ohne dass das Wissenschaftsministerium ein übergreifendes gesellschaftliches Interesse feststellen musste.

 

Bitte konkret: Was können Sie jetzt für Forschungsprojekte machen, die vor der Gesetzesnovelle undenkbar gewesen wären?

 

Jetzt können wir die vielen Routinedaten auswerten, die wir als Krankenhaus bereits haben, die aber bisher für unsere Forschung praktisch nicht zugänglich waren. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten sind fast grenzenlos, vor allem vor dem Hintergrund der Künstlichen Intelligenz, die sich so rasch entwickelt und im Gesetz gleich mitbedacht wurde. Wenn Sie bisher die Daten von ein paar hundert Patienten in einem Forschungsprojekt hatten, brauchten Sie die KI gar nicht erst anzulernen. Das lohnte nicht. Wenn wir künftig Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende von Datenpunkten haben, werden Mustererkennungen und Auswertungen ganz anderer Tiefe und Qualität möglich. Bei unserem Pilotprojekt in der Augenklinik sind wir aber mit einer so simplen wie grundlegenden Frage gestartet: Welche Erkrankungen am Auge werden bei uns mit welcher Häufigkeit behandelt? Ob Sie es glauben oder nicht: Wir wussten es nicht. Es gab zwar eine Publikation von 2010, aber die bezog sich nur auf die stationären Fälle, obwohl die meisten Patienten ambulant sind. Jetzt wissen wir nicht nur, welche Erkrankungen wie oft bei uns vorkommen, sondern auch, wie sich die Krankheitsbilder zwischen ambulanten und stationären Patienten unterscheiden. Das ermöglicht uns eine viel strategischere Verteilung unserer Ressourcen.

 

Wie weit können Sie in die Vergangenheit zurückgehen mit ihren Studien?

 

Die Landesdatenschützer halten einen Zeitraum von fünf Jahren retrospektiv für vertretbar. Bevor wir auf diese Daten zugreifen konnten, mussten wir zuerst in Form von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit publik machen, wo die Widerspruchsstelle ist, wenn man seine Daten nicht in pseudonymisierter Form nutzen lassen will, das hat ein bisschen gedauert. Als Patient können sie natürlich auch später noch zu jedem Zeitpunkt Widerspruch einlegen, dann werden alle Ihre Datensätze für die Nutzung gesperrt. Übrigens können Sie sich auf der Website unseres Datenintegrationszentrums eine Liste aller Forschungsprojekte anschauen, die auf der Grundlage von Patientendaten laufen. Damit sich jede und jeder informieren kann: Was genau forschen die eigentlich mit meinen Daten? Und will ich das?

 

"Diese Reform hat keinen Euro gekostet und setzt doch enorm viel Dynamik frei. Das ist etwas, was uns Politik gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten schenken kann."

 

Noch ist diese Liste recht übersichtlich.

 

Das Gesetz wurde erst vor einem guten halben Jahr verabschiedet und wir benötigten dieses halbe Jahr, um den Prozess von der Antragstellung bis zur Datenherausgabe zu etablieren. Ich bin sicher, dass da schnell viele Projekte hinzukommen werden, unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gerade dabei, die neuen Möglichkeiten zu entdecken und kreativ zu werden. Wir entwickeln Fragestellungen, auf die wir vorher aufgrund der begrenzten Möglichkeiten nie gekommen wären.

  

Was sagen Ihre Medizinerkollegen aus den anderen Bundesländern?

 

Neulich kam eine fast ungläubige Anfrage aus Hessen: Und das könnt Ihr jetzt wirklich alles machen? Großes Interesse zeigt auch das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, dort soll demnächst das Landeskrankenhausgesetz geändert werden, und die Kollegen sagen: So einen Paragrafen wie Ihr hätten wir auch gern. Und dann gibt es da ein länderübergreifendes Forschungsdatenprojekt zur Therapie von Augenerkrankungen namens "EyeMatics", da sind, höre ich, die anderen Standorte gerade völlig perplex, welche Datenmengen unsere Augenheilkundler mit einem Mal einspeisen. Das ist doch mal eine Erfolgsstrategie für die Wissenschaftspolitik in Zeiten knapper Kassen.

 

Wie meinen Sie das?

 

Mein Eindruck ist, die Politik vollzieht gerade einen Erkenntnisprozess nach, der in der Bevölkerung mittlerweile gewachsen ist. Die Menschen sind bereit, für den medizinischen Fortschritt ihre Daten zu geben, natürlich unter der Voraussetzung, dass ihre Daten sicher sind. Normalerweise geht es immer darum, dass die Wissenschaftspolitik zusätzliches Geld für die Forschung besorgt. Doch diese Reform hat keinen Euro gekostet und setzt doch enorm viel Dynamik frei. Darum sage ich: Das ist etwas, was uns Politik gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten schenken kann – die Befreiung von Regularien, die unsere Forschung unnötig einschränken. 



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Kommentare: 2
  • #1

    Falk Radisch (Donnerstag, 27 Februar 2025 21:17)

    Es ist ein Trauerspiel. Für den Bereich der Hochschulforschung - auch in MV blickt man mit Neid auf die Medizin. Da sind wir in einem ebenfalls hoch gesellschaftsrelevanten Forschungsbereich - noch meilenweit weg von irgendwas. Das mag aber auch Gründe haben. Mehrere. Leider.

  • #2

    Ralf Bockhorst (Freitag, 28 Februar 2025 14:15)

    Hoffentlich schafft man in MV noch rechtzeitig Tatsachen, bevor dann bei
    den nächsten Landtagswahlen ggf. die
    wissenschaftsfeindliche Alternative gegen D'land andere Bedingungen herstellt. Aber vielleicht siegt ja der noch der gesunde Menschenverstand und bewahrt uns vor dieser Partei.