Internationale Studienanfänger bringen dem deutschen Staat langfristig achtmal so viele Einnahmen, wie ihn vorher ihr Studium kostet, haben Forscher des IW Köln ausgerechnet. Ein Interview mit dem Bildungsökonomen Axel Plünnecke über die Bedeutung von Einwanderung in Zeiten des Fachkräftemangels – und die Rollen der Hochschulen dabei.

Bild: Annie Spratt / Unsplash.
Herr Plünnecke, in einer Studie für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) haben Sie ausgerechnet, dass allein die internationalen Studienanfänger, die sich 2022 an den deutschen Hochschulen eingeschrieben haben, dem deutschen Staat langfristig 15,5 Milliarden Euro mehr einbringen, als er für sie ausgegeben hat. Beeindruckende Zahlen. Wie kommen Sie darauf?
Wir haben exemplarisch den Anfängerjahrgang 2022 genommen, weil das zu Beginn unserer Studie der aktuellste Jahrgang war, zu dem es Zahlen zur Abschlussabsicht der Studierenden gab. Dann haben wir uns angeschaut: Was kostet die öffentliche Hand die weitgehend studienbeitragsfreie Ausbildung der Studierenden, was tragen die Studierenden davon schon an Steuern während des Studiums, was leisten sie nach ihrem Abschluss an Steuern und Einzahlungen in die Sozialversicherungen, und was bekommen sie nach Renteneintritt an Leistungen aus den Sozialversicherungen? Der Überschuss ist über den Lebenslauf hinweg für die öffentlichen Hand gewaltig, und er fällt für jeden einzelnen Anfängerjahrgang wieder von neuem an.
Man könnte also sagen: Über eine Generation von 30, 35 Jahren hinweg tragen die früheren internationalen Studierenden allein eine halbe Billion Euro netto zur Finanzierung von Staat und Sozialversicherungen bei?
Von solch einer Größenordnung reden wir. Und dabei haben wir die sonstigen volkswirtschaftlichen Effekte noch gar nicht berücksichtigt. Etwa dass die internationalen Studierenden überdurchschnittlich häufig MINT-Studiengänge belegen, damit die Innovationskraft in Deutschland stärken und mithelfen, dass die vor uns liegende Transformation über Innovationen gelingt. Vor uns liegt eine große demografische Belastung, die die jährliche Wachstumsrate in zehn Jahren um 0,5 Prozentpunkte reduzieren dürfte. Durch die Zuwanderung über die Hochschulen kann ein Fünftel des Rückgangs stabilisiert werden – ein gewaltiger Effekt auf Wachstum und Wohlstand.
Immer vorausgesetzt, dass genügend internationale Studienanfänger nach ihrem Abschluss tatsächlich in Deutschland bleiben. Sonst zahlt der Staat drauf, oder?

Axel Plünnecke ist Volkswirt und leitet den Cluster "Bildung, Innovation, Migration" am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Außerdem hat er eine Professur an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement in Saarbrücken. Die mit seinem Kollegen Wido Geis-Thöne verfasste Analyse "Internationale Studierende stärken öffentliche Finanzen und Wachstum" betrachtet die fiskalischen und gesamtwirtschaftlichen Effekte von internationalen Studienanfängern, angefangen mit dem Studium über das Erwerbsleben bis hin zur Ruhestandsphase.
Foto: IW.
Die Berechnung mit den 15,5 Milliarden Netto-Gewinn für den Staat geht davon aus, dass 40 Prozent der Studienanfänger mindestens zehn Jahre nach Studienende in Deutschland bleiben und 20 Prozent für immer. Diese mittlere Variante halten wir für am plausibelsten. Die OECD hat ermittelt, dass vom Studienanfängerjahrgang 2010 zehn Jahre später noch 45 Prozent in Deutschland waren. Zusammen mit Kanada hatte die Bundesrepublik die höchste Bleibequote weltweit. Aber selbst, wenn deutlich weniger blieben, wäre der Überschuss noch groß. In einer pessimistischen Variante mit 30 Prozent Bleibequote nach zehn Jahren und nur 7,5 Prozent darüber hinaus kommen wir auf ein Plus von 7,4 Milliarden. Umgekehrt gilt: Sollten wir in der Lage sein, die Zehn-Jahres-Quote auf 50 Prozent zu steigern und den langfristigen Verbleib auf 37,5 Prozent, würde der Überschuss in heutigen Preisen bei 26 Milliarden liegen.
Ihre Zahlen klingen alle sehr exakt. Doch wie exakt – und verlässlich – sind die Annahmen dahinter?
Wir schauen nur auf die Studierenden, die einen Abschluss in Deutschland machen wollen, schließen also Austauschstudierende, zum Beispiel über Erasmus+, aus den Berechnungen aus. Hier sind andere – auch wichtige Ziele – relevant. Wir berücksichtigen, dass ein Teil der Studierenden ihr Studium abbricht. Und wir haben Daten des Mikrozensus ausgewertet, die uns Auskunft über Erwerbstätigkeit und Arbeitsmarkterfolg geben. Dazu haben wir Daten zu den Leistungen der Sozialversicherungen für Gesundheit oder Pflege nach Alter der Versicherten verwendet. Bei Größen, die wir auf Basis verschiedener Quellen nur schätzen konnten, haben wir stets die vorsichtigste Variante gewählt, um die Gesamteffekte konservativ zu berechnen. Wir haben auch für unsere Varianten zu den Bleibequoten rückwirkend berechnet, wie viele der internationalen Studienanfänger, die Anfang der 90er Jahre und in den 2000er Jahre nach Deutschland einreisten, heute in Deutschland sein müssten, und diese Daten mit unseren Mikrozensus-Ergebnissen verglichen. Daraus ergab sich eine Bleibequote, die zwischen unserem unteren und mittleren Szenario liegt. Obwohl damals noch viel striktere Einwanderungsgesetze galten. Insofern halte ich unsere mittlere Berechnungsvariante für plausibel, die Ergebnisse für vorsichtig berechnet und damit für verlässlich.
Ist es nicht zu verengt, die internationalen Studienanfänger vor allem als Wirtschaftsfaktor zu begreifen?
Tatsächlich haben wir das in Deutschland über lange Zeit fast gar nicht getan, aber der rapide demografische Wandel hat in Politik und Wirtschaft die Perspektive verändert. Kurzfristig fallen vor allem an den Gymnasien in Bayern und Nordrhein-Westfalen ganze Abiturjahrgänge aus, weil die Schulzeit wieder auf 13 Jahre verlängert wird. Mittelfristig, das heißt, schon in den nächsten zehn, 15 Jahren, verlassen die geburtenstarken Jahrgänge das Erwerbsleben und können aus dem Inland nicht ersetzt werden. Das belastet Wirtschaftswachstum und Sozialsysteme. Wir müssen übrigens auch nicht fürchten, dass wir anderen Ländern Arbeitskräfte wegnehmen, die diese selbst dringend brauchen, weil der große Teil unserer internationalen Studienanfänger aus demografiestarken Ländern wie Indien kommt.
"Länder wie die USA sind noch viel stärker als wir
in eine nationalistische und fremdenfeindliche Richtung gekippt. So paradox das klingen mag: Unsere relative Attraktivität bei internationalen Studienanfängern und Fachkräften dürfte gerade eher
steigen."
Die Stimmung im Land dreht sich gerade gegen Zuwanderung. Das bekommen die internationalen Studienanfänger von morgen doch auch mit – und bleiben weg?
Mich sorgt ganz generell, wie die Ressentiments gegenüber Einwanderern zunehmen. Aber eines dürfen wir nicht unterschätzen: Länder wie die USA sind noch viel stärker als wir in eine nationalistische und fremdenfeindliche Richtung gekippt. So paradox das klingen mag: Unsere relative Attraktivität bei internationalen Studienanfängern und Fachkräften dürfte gerade eher steigen. Trotzdem, und das sage ich jetzt als leidenschaftlicher Demokrat und Wähler und nicht nur als Volkswirt: Wir müssen alle dafür kämpfen, dass Deutschland weltoffen und proeuropäisch bleibt. Gerade die Hochschulstandorte könnten bei der nötigen Gegenbewegung eine wichtige Rolle spielen und in ihr Umland hineinstrahlen.
Wie meinen Sie das?
Wenn wir uns anschauen, wo die AfD bei der Bundestagswahl vergleichsweise niedrige Ergebnisse erzielt hat, dann waren das die Hochschulstandorte, die demografisch und wirtschaftlich wachsen: Köln zum Beispiel, München, Münster oder Stuttgart. Städte, in denen die Bevölkerung Migration überwiegend positiv wahrnimmt. Die Einwanderer, das sind meine Ärzte, meine Anwälte, meine Kollegen, es sind Ingenieure und Hochschulprofessoren. Zugleich erleben wir, dass in Regionen, die schrumpfen, die wirtschaftliche Probleme haben, wo es wenig Einwanderung gibt, die AfD viel stärker abschneidet. Einwanderung wird dort vor allem als Fluchtmigration wahrgenommen. Gerade diese Regionen brauchen künftig mehr qualifizierte Einwanderer, um auf Wachstumskurs zu kommen.
Was hat das mit den Hochschulen zu tun?
Einwanderung läuft sehr stark über persönliche Netzwerke. Wenn internationale Studienanfänger bei uns gute Erfahrungen machen, wenn sie in ihren Herkunftsländern von den Beschäftigungsmöglichkeiten erzählen, die sie nach ihrem Abschluss haben, dann könnte das nachfolgende Jahrgänge anziehen. Dank des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes haben wir gute Bedingungen für Studierende. Darüber hinaus können über die Chancenkarte weitere junge Menschen, ob Hochschulabsolventen oder Handwerker, zuwandern, die von früheren internationalen Studierenden bei der Jobsuche vor Ort unterstützt werden können. Auf diese Weise profitieren gerade auch ostdeutsche Metropolen wie Dresden, Leipzig oder Chemnitz, weil hier über die wachsende Zahl internationaler Studierender Netzwerke entstehen, die in Regionen hineinwachsen, die bislang wenig Einwanderung kannten.
Selbst traditionell liberale Länder wie die Niederlande schotten sich jetzt gegen internationale Studierende ab. Rechnen deren Volkswirte anders?
Die Motive, warum Länder in der Vergangenheit auf die Internationalisierung der Hochschulen gesetzt haben, waren sehr unterschiedlich. In den USA oder Australien stellen die teilweise sehr hohen Studiengebühren den entscheidenden Faktor da, Bildung wird als Exportgut gesehen. Die internationalen Studierenden sollen ins Land reisen und wie Touristen ihre Dienstleistung erhalten, sie sollen konsumieren und bezahlen – ob sie bleiben oder gehen, steht nicht im Fokus. Die Niederlande sind in der Hinsicht nie so extrem gewesen, aber als traditionelles Einwanderungsland hat unser Nachbar andere Zuwanderungskanäle als wir, und die gesellschaftliche Alterung verläuft dort weniger dramatisch. Entsprechend geringer ist die Fachkräftedebatte auf die Hochschulen ausgerichtet. Man fokussiert stärker auf die Herausforderungen wie den überlasteten Wohnungsmarkt – und schätzt den wirtschaftlichen Nutzen der internationalen Studierenden geringer ein.
"Schauen Sie in die Einführungsvorlesungen der großen technischen Hochschulen im Land. Da würden schon heute gut 40 Prozent der Plätze leer bleiben, wenn wir nicht so viele internationale Studierende gewinnen könnten."
Gibt es in diesen Ländern ähnliche Studien wie die Ihre?
Nicht wirklich. Die Studien in den englischsprachigen Ländern sind sehr stark von dem Exportgedanken geprägt und messen entsprechend vor allem Nachfrageeffekte der Studierenden und deren Wirkungen auf verschiedene Branchen. Und in Ländern wie Japan oder Italien, die vor ähnlichen demografischen Problemen stehen wie wir, ist die Offenheit gegenüber Einwanderung deutlich geringer ausgeprägt als bei uns. Wobei es gerade in Japan das zunehmende Bewusstsein gibt, dass es ohne mehr qualifizierte Zuwanderung nicht mehr funktionieren wird.
Hand aufs Herz: Dass der DAAD Sie mit dieser Studie beauftragt hat, die dann inmitten der Koalitionsverhandlungen veröffentlicht wird, hat doch auch eine strategische Komponente. Nach dem Motto: Lasst jetzt auf keinen Fall nach bei der Finanzierung des internationalen Wissenschaftsaustauschs. Fühlen Sie sich ein klein wenig instrumentalisiert?
Überhaupt nicht! Das Thema liegt uns schon länger am Herzen. Richtig ist aber: Sie müssen der Politik heute mit anderen Argumenten kommen als vor 20 oder 30 Jahren, als es selbst unter Fachkräften noch strukturell bedingte hohe Arbeitslosigkeit gab. Da reichte für den Ausbau internationaler Kooperationen der Hinweis auf Entwicklungshilfe, auf die Förderung von Demokratie und Völkerverständigung. All das spielt immer noch eine Rolle und ist weiter wichtig, aber die Frage nach dem eigenen volkswirtschaftlichen Nutzen wird angesichts des künftigen Mangels an Arbeitskräften viel drängender gestellt. Schauen Sie in die Einführungsvorlesungen der großen technischen Hochschulen im Land. Da würden schon heute gut 40 Prozent der Plätze leer bleiben, wenn wir nicht so viele internationale Studierende gewinnen könnten. Und die geplanten Sondervermögen für Infrastruktur und Verteidigung erhöhen den Bedarf jetzt nochmal. Wenn wir der absehbaren Nachfrage nach Ingenieuren, Bauexperten und IT-Fachkräften nicht begegnen können, steigt die Inflation – und die Pakete würden zum Teil verpuffen.
Arbeitgebernahe Forschungsinstitute haben in der Vergangenheit gern einmal für Studiengebühren plädiert. Das werden Sie dann wohl nicht tun?
Studiengebühren für internationale Studierende sind kontraproduktiv. Es sei denn, dass man sie so handhabt wie Bayern, dass die Hochschulen über ihre Einführung selbst entscheiden dürfen. Die TU München kann bei einer riesigen Zahl an Bewerbungen pro Jahr Beiträge einführen und bekommt trotzdem noch die besten internationalen Studierenden. Die entscheidende Botschaft an die Wissenschaftspolitik aber lautet: Nicht die Einnahmen über die Studiengebühren machen volkswirtschaftlich den Unterschied, sondern die möglichst große Zahl internationaler Studierender, die nach dem Abschluss möglichst lange bei uns bleibt. Und da können und sollten Staat und Zivilgesellschaft sich ruhig noch stärker anstrengen in Sachen Willkommenskultur. Es lohnt sich.
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