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Prognose: Massiver Lehrkräftemangel bald auch in Kunst und Musik

Gerade ergab eine PISA-Sonderauswertung, dass Deutschlands 15-Jährige auch beim kreativen Denken nur Mittelmaß sind. Jetzt zeigt eine neue Berechnung: Ausgerechnet in den Fächern, die vermeintlich besonders die Kreativität fördern, droht demnächst ein massiver Unterrichtsausfall.

IN ZWEI DER DREI klassischen Kompetenzbereiche haben Deutschlands Neuntklässler bei PISA 2022 mit historisch schlechtesten Punktzahlen abgeschnitten, schlechter noch als bei PISA 2000, und im dritten nur knapp über den damaligen Werten. Was bedeutet, dass die getesteten 15-Jährigen im Schnitt maximal so lesen, rechnen und naturwissenschaftliche Probleme bearbeiten konnten wie ihre Altersgenossen vor zwei Jahrzehnten. Im internationalen Vergleich war das gerade mal Durchschnitt.

 

Sind die Schüler hierzulande dafür womöglich beim kreativen Denken besser? Nun ja. Die jetzt veröffentlichten Ergebnisse einer erstmals durchgeführten PISA-Zusatzerhebung zeigen, dass die Neuntklässler der Bundesrepublik auch hier international nicht über das Mittelmaß hinauskommen. Gut 22 Prozent der deutschen Schüler sind laut OECD nicht oder nur bedingt in der Lage, vielfältige, kreative Ideen zu produzieren, zu evaluieren und zu verbessern. Umgekehrt wurden 27 Prozent als besonders leistungsstark eingestuft. Jeweils ziemlich genau die Werte, die dem PISA-Schnitt entsprachen.

 

Während BMBF-Chefin Bettina Stark-Watzinger (FDP) das starke Viertel hervorhob und von einem "starken und wichtigen Ergebnis" sprach, wies KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot (SPD) darauf hin, dass die deutschen Schüler sehr unterschiedlich abschnitten, wie beim traditionellen PISA-Test "wieder abhängig davon, wie ihr jeweiliger sozioökonomische Hintergrund ist".

 

Die bildungspolitische Debatte konzentriert sich
auf die Stärkung der Basiskompetenzen

 

Indes stehen die Chancen für eine Stärkung des kreativen Denkens derzeit womöglich noch schlechter als die Aussichten, dass viele 15-Jährige bald wieder besser lesen oder rechnen können. Denn die bildungspolitische Debatte konzentriert sich derzeit vorrangig auf die Stärkung der sogenannten Basiskompetenzen, gerade erst haben viele Bundesländer an den Grundschulen die Stundenzahl für Mathematik und Deutsch erhöht. Was umgekehrt bedeutet, dass je nach Bundesland mitunter Fächer wie Kunst, Musik, Werken, aber auch Englisch gekürzt werden.

 

Eine im Auftrag der Telekom-Stiftung vom Essener Bildungsforscher Klaus Klemm erstellte Prognose zur Lehrkräfteversorgung in Kunst und Musik zeigt nun, dass sich die Situation künstlerischer Fächer weiter zuspitzen könnte. Am Beispiel der weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen rechnet Klemm vor, dass dort bis 2035/36 rund 51,3 Prozent der Kunst- und 51,9 Prozent der Musiklehrer zumeist altersbedingt die Schulen verlassen werden. Während sich die Zahl der Schüler und damit der Bedarf an zu erteilenden Unterrichtsstunden in beiden Fächern um rund ein Sechstel erhöhen wird.

 

Brisant: Bliebe die Zahl der Lehramtsabsolventen in den beiden Fächern auf dem Niveau von 2021 und 2022, wird die entstehende Versorgungslücke in Musik nicht einmal zu einem Drittel (32,9 Prozent) und in Kunst zu 40,4 Prozent geschlossen werden. 

 

"Der Musik- und Kunstunterricht umfasst etwa sieben Prozent aller Unterrichtsstunden", sagt Klemm. "Zusammen mit den MINT-Fächern, bei denen der Nachwuchs junger Lehrkräfte ebenso wenig gedeckt werden kann, sind etwa ein Drittel aller Unterrichtsstunden weiterführender Schulen von einem massiven fachspezifischen Lehrkräftemangel betroffen."

 

In Deutschland insgesamt ist die Situation laut Studie nicht viel besser: Bis 2035 würden etwa 36 Prozent der Lehrkräfte altersbedingt aus dem Schuldienst ausscheiden, in Ostdeutschland weitaus mehr als im Westen: in Brandenburg 48 Prozent, in Sachsen- Anhalt sogar 57 Prozent, in Bremen dagegen 30 und in Bayern 38 Prozent.

 

"Ein erschreckender
Missstand"

 

Klemms Prognosen decken sich von der Tendenz her mit denen der KMK, die allein für die allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I und II bis 2035 deutschlandweit einen Mangel von etwa 45.000 Lehrkräften erwartet. Die KMK zählt Musik und Kunst, betont Klemm,  in den beiden Sekundarstufen nahezu durchgängig zu den Mangelfächern.

 

Es müssten dringend mehr Studienanfänger für diese Fächer  gewonnen werden, fordert der Bildungsforscher, auch wenn eine positive Entwicklung erst nach 2030 in den Schulen ankommen würde. Um die Abbrecherquote zu senken, müssten Qualität der Lehre und die Studienbetreuung verbessert werden. In jedem Fall werde auch in Kunst und Musik die Versorgung jedoch nur mithilfe von Quer- und Seiteneinsteigern zu gewährleisten sein, für die jetzt qualifizierte Vorbereitungs- und Begleitprogramme entwickelt werden müssten. 

 

Die Telekom-Stiftung spricht von einem "erschreckenden Missstand, den die bildungspolitisch Verantwortlichen nicht tatenlos hinnehmen dürfen." Die musisch-künstlerischen Fächer ermöglichten es Kindern und Jugendlichen, sich die Welt mit allen Sinnen zu erschließen, "ob mit Augen und Ohren, den Händen oder gar der Nase. Auch ist die kreative – innovativ-gestaltende – Auseinandersetzung wesentlicher Teil von Kunst und Musik."

 

Immerhin: Die Leiterin des deutschen Teils der PISA-Studie, Doris Lewalter, betont, dass die Förderung der Kernkompetenzen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften nicht in Konkurrenz stünden zur Förderung kreativen Denkens, im Gegenteil: Zwischen beiden  das Forschungsteam den stärksten Zusammenhang gefunden. "Wenn

Schülerinnen und Schüler lernen, mathematisches und naturwissenschaftliches Wissen anzuwenden und Texte zu verstehen, dann prägen sie offenbar zugleich ein kreatives Denken aus", sagt Lewalter, die das Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) an der Technischen Universität München (TUM) leitet. "Dabei gehen wir davon aus, dass die Kompetenzen in Wechselwirkung stehen."

 

Und doch: Die Streichung von Unterrichtsstunden abseits von Deutsch und Mathematik in der Grundschule und parallel der massive Kunst- und Musiklehrermangel in den weiterführenden Schulen: Die Aussichten, dass Deutschlands Neuntklässler zumindest beim kreativen Denken zur PISA-Spitzengruppe aufschließen, verbessert sich dadurch nicht.



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Kommentare: 2
  • #1

    David J. Green (Freitag, 28 Juni 2024 09:59)

    Da der Artikel viel über die Brisanz, aber wenig über die Ursachen des bevorstehenden Lehrkräfteversorgungsproblems in Kunst und Musik sagt, erlaube ich mir eine große Portion Spekulation.
    Kunst und Musik sind für die Kreativitätsförderung besonders wichtige Fächer, aber mit nur wenigen Unterrichtsstunden. Gerade daher frage ich mich
    1) Ob der begehrte Doppelfach-Status, die diese beiden Fächer genießen, für die schulische Einsatzplanung (einschl. Vertretung im Krankheitsfall) nicht eher hinderlich ist: nach dieser Logik sollten eher als Doppelfächer zählen a) Deutsch und Mathe (Stundenumfang), und b) Physik und Chemie (desolate Versorgungslage, nicht reduzierbarer Schwierigkeitsgrad einer harten Wissenschaft).
    2) Ob der zusätzlicher Aufwand, den Studierende dadurch haben, dass Kunst und Musik oft an eigenen Hochschulen, bzw. sogar in anderen Städten unterrichtet werden, nicht eher abschrecken auf viele Studieninteressierten wirkt?
    Nebenbei gemerkt: Meines Wissens sind die Beschäftigungsbedingungen der Lehrkräfte an Musik- und Kunsthochschulen noch prekärer als an Universitäten. Eine Integration der Lehramtsfächer Musik und Kunst in den regulären lehrkräftebildenden Universitäten könnte auch hier ein Schritt in der richtigen Richtung sein.

  • #2

    Wolfgang Kühnel (Samstag, 10 August 2024 11:50)

    Ein Grund könnte auch die allseits gewünschte Polyvalenz der Lehramtsstudiengänge sein. Das bedeutet: Angehende Musik- und Kunstlehrer werden so ausgebildet, dass sie auch als Musiker bzw. Künstler tätig werden könnten. Das wollen viele natürlich auch und versuchen es. Der Schuldienst ist für die nur Plan B.
    Umgekehrt aber scheint das nicht der Fall zu sein: Instrumentalisten und Dirigenten, Sänger und Musikwissenschaftler erwerben durch ihr Studium nicht die Polyvalenz, auch als Musiklehrer tätig sein zu dürfen. Sie müssten sich als Quereinsteiger hinten anstellen, was dann erst recht den Charakter des Scheitern hat.
    Eine andere Spekulation: Die Musiklehrer, die großenteils an klassischer Musik ausgebildet wurden, könnten genervt sein von dem Anspruch, in (Brennpunkt-)Schulen dann vorwiegend Pop- und Rockmusik unterrichten zu sollen, weil die Schüler nichts anderes annehmen.