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"Über manche Aussagen wundere ich mich schon"

Bis 2021 sollen die Abiturnoten bundesweit "annähernd" vergleichbar sein, haben die Kultusminister überraschend versprochen. Aber wie soll das gehen? Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) erklärt die Pläne und warnt gleichzeitig vor überzogenen Ansprüchen an die Bildungspolitik.

Ties Rabe. Foto: Michael Zapf.
Ties Rabe. Foto: Michael Zapf.

Herr Rabe, Ende 2017 hat das Bundesverfassungsgericht die mangelnde bundesweite Vergleichbarkeit der Abiturnoten kritisiert und unter anderem deshalb das bisherige Zulassungsverfahren im Studienfach Medizin kassiert. Und nur ein paar Monate später verkünden die Schulminister zur Überraschung ihrer Kollegen im Wissenschaftsressort, bis 2021 hätten sie dieses Jahrzehnte alte Problem gelöst. Meinen Sie das ernst? 

 

Natürlich. Wir haben in den letzten drei Jahren erstaunliche Erfolge erzielt. Noch nie waren die Abiturnoten so vergleichbar wie jetzt. Das darf uns schon mutig machen. Allerdings wundere ich mich auch über die zunehmend überzogenen Ansprüche an die Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen. Der Numerus Clausus existiert seit 50 Jahren, und zu keinem Zeitpunkt in diesem halben Jahrhundert waren die Abiturnoten auch nur annähernd so vergleichbar, wie sie es heute bereits sind. Es hat jahrzehntelang nicht einmal gestört, dass sich das Abitur selbst innerhalb eines Bundeslandes von Schule zu Schule massiv unterschied. Ich habe in Schleswig-Holstein ein Gymnasium besucht, und da war es ein offenes Geheimnis, dass die Nachbarschule beim Abitur ganz andere Bewertungsmaßstäbe anlegte. Trotzdem hat der Numerus Clausus all die Jahre funktioniert, und weder die Politik noch die Justiz hatten damit offenbar allzu große Probleme. 

 

Ganz so stimmt das nicht. Es gab in den 70er Jahren ein Ausgleichsverfahren beim NC über Bonus- und Maluspunkte je nach Bundesland.

 

Aber nur kurz - und nur in der Medizin. Insgesamt hat man die Unterschiedlichkeit beim Abitur lange mit großem Gleichmut toleriert.

 

Zweifelsohne sind die gesellschaftlichen Erwartungen an die Vergleichbarkeit der Noten gestiegen. Selbst wenn es das Urteil der Verfassungsrichter nicht gäbe, müssten Sie sich dem doch stellen.  

 

Das ist richtig, und das will ich auch tun. Ich habe allerdings zunehmend den Eindruck, dass an die Schule Gleichheits-Maßstäbe angelegt werden, die man von keinem anderen Lebensbereich erwartet. Schauen Sie sich an, mit welcher dramatischen Unterschiedlichkeit Abschlüsse an den Universitäten vergeben werden. Gibt es etwa bundesweite Normen für die Zensuren von Masterarbeiten oder Promotionen? Wir haben mittlerweile rund 18.000 Bachelor-Studiengänge, und keiner gleicht dem anderen. Ich frage mich, was wohl los wäre, wenn wir 18.000 verschiedene Schulwege hätten. Wir sollten deshalb Maßstäbe und Ansprüche entwickeln, die zum deutschen Bildungswesen passen und vernünftig und realistisch sind. Da müssen wir besser werden, keine Frage. Aber wir sollten auch nicht so tun, als ob die rund 210 Millionen Klausuren, die an unseren rund 35.000 Schulen jedes Jahr geschrieben werden, absolut identisch organisiert werden könnten.


Mit sieben Jahren Erfahrung dienstältester Kultusminister

Mitte März, Bayerns langjähriger CSU-Kultusminister Ludwig Spaenle war gerade abgelöst worden, da kam es zu einem aufschlussreichen Schlagabtausch auf Twitter. "Sieben Jahre Schulsenator", schrieb Ties Rabe, 57, "und seit heute bin ich dienstältester Schulminister Deutschlands." Rabes CDU-Kollege aus Sachsen-Anhalt Marco Tullner, erst zwei Jahre im Amt, reagierte mit folgendem Tweet:  "Wenn es ein Grund zum Gratulieren sein sollte, dann: Herzlichen Glückwunsch."

 

Ganz sicherlich ist es, wie Rabe selbst betonte, "kein Grund zu triumphieren". Es tue Schulen nicht gut, "wenn alle zwei Jahre der Minister wechselt und das Ministerium alles neu erfindet." Worauf der Senator anspielte: In wenigen Ressort ist die personelle Fluktuation so hoch wie bei der Bildung. Viele Politiker meiden das Thema als Karrierekiller. Weswegen so viele Bildungsreformen wie G8 oder auch die 2010 geplante Verlängerung der Primarschule in Hamburg scheitern, erklärt mein Kollege Thomas Kerstan in der aktuellen ZEIT auf eindrucksvolle Weise. 

 

Am Abend der Volksabstimmung, die eine Mehrheit gegen die Primarschulreform brachte, kündigte Hamburgs damaliger Erster Bürgermeister Ole von Beust (CDU) seinen Rücktritt an, noch im selben Jahr zerbrach die Koalition der CDU mit den Grünen,  und die nachfolgenden Wahlen brachten eine neue SPD-Regierung ins Amt – und Bildungssenator Ties Rabe. Der ist eigentlich Gymnasiallehrer für Religion, Deutsch und Geschichte und arbeitete vor seiner Zeit als Senator an einem Gymnasium in Hamburg-Bergedorf.  

 

Seit er im Amt ist, haben sich Hamburgs im bundesweiten Leistungsvergleich deutlich nach vorn geschoben. Experten begründen diese 

 

Entwicklung mit Reformen, die bereits vor Rabe angestoßen wurden, aber der Senator tue sein Übriges, schrieben Jeanette Otto und Martin Spiewak wiederum in der ZEIT: "Verlässliche Ansagen, Entwicklungen genügend Zeit zu lassen – dafür steht Schulsenator Ties Rabe."

 

2012 war er Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), seit 2015 ist er Koordinator der SPD-regierten Bundesländer für deren Bildungs- und Wissenschaftspolitik. 

 

Die bundesweite Vergleichbarkeit des Abiturs  ist seit Jahren ein heiß diskutiertes Thema. Zuletzt hatte etwa eine Untersuchung der Universität Bremen gezeigt,  dass Bachelor-Vollfachstudenten mit Herkunftsort Bremen im Studium deutlich hinterherhinken. Sie haben nach acht Semestern weniger Leistungspunkte erworben, sie wechseln häufiger den Studiengang, und ihre Abbrecherquote liegt schon nach vier Jahren um vier Prozentpunkte höher als bei Studierenden mit Nicht-Bremer Abitur. 

 

Der überraschende Ehrgeiz der Bildungsminister, bis 2021 die "annähernde" Vergleichbarkeit der Abiturnoten zu erreichen, ist nun dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Dezember 2017 geschuldet. Der NC im Studienfach NC sei in Teilen verfassungswidrig, befanden die Richter. In ihrer gegenwärtigen Form verstoße die Studienplatzvergabe gegen das Grundrecht der Bewerber auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot, entschied das Gericht – und  sprach dem Abitur zudem seine bundesweite Vergleichbarkeit ab. Seitdem verhandeln Schul- und Wissenschaftspolitiker in der KMK über die Zukunft des Medizin-NCs und die künftige Rolle des Abiturs darin. Ties Rabe sagt: "Entscheidend ist für mich, dass der Hochschulzugang auch in Zukunft zu einem entscheidenden Anteil über den Schulabschluss geregelt wird." 



Wie kommen Sie und Ihre Amtskollegen denn nun zu der Aussage, bis 2021 seien die Abiturnoten über die Ländergrenzen hinweg vergleichbar?

 

Wenn wir einen vernünftigen Maßstab anlegen, sollten wir nicht von einer absolut exakten, sondern von einer relativen Vergleichbarkeit reden. Sonst dürften wir in die Abiturnote nicht einmal die Noten aus den vorangegangenen Oberstufenkursen einbinden, denn diese Noten – insbesondere die Noten für die laufende Kursarbeit mit der "mündlichen" Unterrichtsbeteiligung – lassen sich niemals exakt vergleichbar gestalten. Mein Eindruck ist, dass auch die Richter soweit nicht gehen wollen. Was sie hingegen von uns erwarten, ist eine relative und zugleich bessere Vergleichbarkeit. Und hier sind wir in den vergangenen Jahren deutlich vorangekommen. Aber wir dürfen nicht stehen bleiben. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass wir jetzt energisch weiterarbeiten – dann werden wir unser Ziel bis 2021 schaffen. 

 

Sie und Ihre Ministerkollegen sprechen in dem Zusammenhang von einer "doppelten Normierung": Der bereits eingeführte länderübergreifende Pool von Abiturausgaben, aus dem sich alle Länder bedienen können, führe zu einer Normierung der Abiturprüfung insgesamt. Und die Normierung der Abiturprüfung führe zu einer Vereinheitlichung der Oberstufenkurse. Bildungsforscher halten das für eine gewagte Logik. "Dass automatisch ein normierender Effekt bei dem geringen Gewicht des Aufgabenpools in so kurzer Zeit eintritt, ist äußerst zweifelhaft", sagt zum Beispiel der frühere Wissenschaftsratsvorsitzende Manfred Prenzel.

 

Über manche Aussagen wundere ich mich schon. Automatisch passiert in der Tat nichts. Aber es gibt durch den Aufgabenpool kräftigen Rückenwind für eine Angleichung der Oberstufenkurse, und den können und müssen wir nutzen. Vor kurzem behaupteten Skeptiker noch, die Länder würden die Normierung der Abituraufgaben unterlaufen, indem sie erst ihre Aufgaben in den Pool hineinlegen und sich dann ganz gezielt dieselben Aufgaben wieder herausfischen. Das ist nicht passiert. Im Gegenteil: In einigen Kernfächern verwendeten fast drei Viertel aller Länder dieselben Aufgabenteile. Hier zeigt sich: Der gemeinsame Aufgabenpool hat schon nach einem einzigen Jahr eine Dynamik entfaltet, die vorher von vielen bezweifelt wurde.

 

Aber es gibt Länder, die haben überhaupt kaum eine Aufgabe aus dem Pool verwendet.

 

Schon in der ersten Runde haben Experten aus allen 16 Bundesländern bei der Ausarbeitung und Erörterung aller Poolaufgaben mitgewirkt, ein Experte pro Land und Fach, also in Deutsch, Mathematik und Englisch. Wann hat es das schon einmal gegeben? Und im Zuge dieser Zusammenarbeit haben die Bundesländer ihre eigenen Aufgaben angepasst. Wenn Sie dann noch bedenken, dass in fast allen Ländern diesmal die Abiturprüfungen in den betreffenden Fächern am selben Tag und zur selben Stunde stattgefunden haben, dann muss ich sagen: Wir haben in kurzer Zeit viel mehr Fortschritte erzielt, als wir selbst es noch vor zwei Jahren für möglich gehalten hätten. Vor zehn Jahren war das Abitur in Hamburg-Bergstedt noch nicht einmal vergleichbar mit dem Abitur in Hamburg-Bergedorf. Und genau darum bin ich optimistisch, dass die Entwicklung weitergehen wird.

 

Die von Ihnen angeführten Fortschritte in Ehren: Mehr Schlagzeilen gab es in diesem Jahr zu den Pannen rund um die länderübergreifenden Abituraufgaben. In Sachsen-Anhalt rieten Lehrer den Abiturienten zur Klage, weil die Matheaufgaben Inhalte abgefragt hätten, die gar nicht im Unterricht vorgesehen gewesen seien. In Baden-Württemberg unterzeichneten fast 30.000 Menschen eine Protest-Petition gegen Aufgaben in Englisch, die ebenfalls aus dem Pool stammten. Und in Niedersachsen knackten Unbekannte einen Schultresor mit Aufgaben – woraufhin viele Schulen in Deutschland auf den letzten Drücker die Abiklausuren ändern mussten. Klingt nicht unbedingt wie die Erfolgsgeschichte, die Sie gerade loben.

 

Ich räume ein: Gegen Diebstahl und Kriminalität ist kein Kraut gewachsen. Und natürlich wünsche ich mir ein Abitur ohne Pannen. Doch bei genauerer Betrachtung zweigen diese Zwischenfälle eben auch, dass die Abituraufgaben genau das bewirken, was Kritiker bezweifeln: Sie kommen tatsächlich unverfälscht zum Einsatz und normieren einen neuen einheitlichen Prüfungsstandard, sonst würde es kaum Beschwerden über die Veränderung geben. Und sie erhöhen den Druck, auch den Unterricht in allen Bundesländern passgenauer und stärker auf die Aufgaben auszurichten. Denn genau das fordern ja die Schüler in ihrer Kritik.

 

Apropos Normierung der Oberstufenkurse: Deren Zahl und Inhalte variieren immer noch extrem stark.

 

Ja, das ist nicht gut. Doch auch hier gibt es Fortschritte. Vor zwei Jahren haben wir uns in der Kultusministerkonferenz die Vielfalt der Oberstufenkursregelungen angeschaut und deutlich verringert. Und die Poolaufgaben haben ebenfalls eine Wirkung: Bei uns in Hamburg etwa haben die Poolaufgaben in Mathematik zu einer Anpassung des Lehrplans geführt, damit die Schülerinnen und Schüler auch das lernen, was später im Zuge des Abituraufgabenpools von ihnen verlangt wird. Dieser Effekt ist in Mathematik besonders hoch, in einem geisteswissenschaftlichen Fach wie Deutsch dagegen sicherlich geringer. Darum muss bei der Angleichung der Oberstufenregelungen noch mehr passieren. Das müssen wir in den nächsten ein, zwei Jahren angehen, und vor allem die Gewichtung, die Menge und die Auswahl der Kurse in der Oberstufe zwischen den Ländern harmonisieren. 

 

Seien Sie ehrlich: Ihr demonstrativer Optimismus soll doch vor allem die Wissenschaftsminister davon abhalten, bei der Neuregelung der Hochschulzulassung in Medizin die Abiturnote als entscheidendes Kriterium ganz fallen zu lassen. Darum versprechen Sie eine Harmonisierung, von der Sie selbst noch nicht wissen, ob Sie sie schaffen.

 

Ich bin Politiker geworden, weil ich etwas erreichen und verbessern will. Dazu gehört eine ordentliche Portion Optimismus. Wenn ich mich den ganzen Tag damit beschäftigen würde, was alles schiefgehen kann, würde meine Arbeitszeit nicht ausreichen. Dennoch haben Sie ja Recht: Die Furcht, dass jetzt in einer Art Übereifer alle Schulabschlüsse entwertet werden könnten, ist da und sie ist berechtigt. Diese Furcht sollten nicht nur die Kultusminister haben, sondern auch Lehrkräfte, Eltern und die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Denn es ist ein Irrtum zu denken, dass ein einziger Standardtest, der nur einen minimalen und oft zufälligen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der notwendigen Wissens- und Kompetenzbereiche junger Menschen abfragt und noch dazu an einem bestimmten Tag in einer bestimmen Tagesform geschrieben wird, besser und gerechter über künftige Karrieren, über das Wohl und Wehe junger Menschen entscheiden könnte als das Ergebnis einer mehrjährigen Schullaufbahn, wie es im Abiturzeugnis zusammengefasst ist.

 

Sie beziehen sich auf zwischenzeitliche Überlegungen unter den Wissenschaftsministern, den Medizinertest bei der Hochschulzulassung mindestens so stark zu werten wie die Abiturnote. 

 

Denken Sie das einmal weiter. Es wäre doch fatal, wenn sich irgendwann bei den jungen Menschen herumspräche: Schule ist egal. Es lohnt sich nicht mehr, sich zu engagieren und sich Mühe zu geben, weil die schulischen Leistungen ohnehin nichts wert sind. Wir sollten Bildung nicht ersetzen durch das Prinzip "Learning for the one and only multiple-choice-test".

 

Die Wissenschaftsminister scheinen den Ankündigungen ihrer Schulkollegen in Sachen Vergleichbarkeit trotzdem nicht so ganz zu trauen und wollen zumindest in der Übergangszeit einen Ausgleichsmechanismus einführen. Für Sie in Ordnung?

 

Sie sprechen zum Beispiel von sogenannten Prozentrangverfahren, dass womöglich die besten fünf Prozent der Abiturienten aus allen Bundesländern zum Zuge kommen könnten und dadurch Notenunterschiede beim Abitur zwischen den Ländern keine Rolle mehr spielen würden. Ich möchte mich im Vorgriff auf die weiteren politischen Gespräche zu dem Thema nicht auf einen Mechanismus festlegen. Entscheidend ist für mich, dass sich alle Verantwortlichen darauf verständigen, dass der Hochschulzugang auch in Zukunft zu einem entscheidenden Anteil über den Schulabschluss geregelt wird. Und damit das geht, werden wir als Kultusminister bis 2021 weiter Tempo machen.

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