Betroffen sollten uns die #MeTwo-Berichte machen. Überraschen können sie uns eigentlich nicht.
DAS ÜBERRASCHENDSTE AN #MeTwo ist, dass viele sich ehrlich überrascht geben von dem, was sie da lesen.
Tausende Menschen haben sich unter dem Twitter-Hashtag zu Wort gemeldet, sie berichten von ihren persönlichen Rassismus-Erfahrungen. Von Petitionen an Vermieter ist die Rede, um die Ausländer-Familie im Haus loszuwerden. Von einer Zahnärztin, die eine Mitarbeiterin mit Kopftuch nicht ihren Patienten "zumuten" möchte. Von einer Lehrerin, die ihren Drittklässlern mitteilte: „Anita hat auch Ausländerkinder zu ihrem Geburtstag eingeladen! Das kann man ja mal machen.“
Was ihn beim Lesen der Tweets am meisten betroffen mache, kommentierte – ebenfalls auf Twitter – mein ZEIT-Kollege Anant Agarwala: "Wie viele Lehrer offenbar den falschen Beruf ergriffen haben, empathielose Menschen, die Kindern die Lebensfreude nehmen."
Betroffen sollte uns das machen. Überraschen kann uns das eigentlich nicht: Die Schulen sind, im Guten wie im Schlechten, ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und jahrelanger politischer Rhetorik. Als Deutschlands Schüler 2004 beim internationalen Pisa-Vergleich zum zweiten Mal enttäuschten, verkündete Niedersachsens damaliger CDU-Kultusminister Bernd Busemann: "Die Ausländer- und Aussiedlerkinder ziehen den ganzen Schnitt runter." Das sei kein Vorwurf an die Kinder, "das ist einfach die Analyse." Ein paar Jahre später schrieb BILD, viele deutsche Bundesländer lägen in der internationalen Pisa-Spitze, "wenn Migrationskinder rausgerechnet werden".
Diskriminierung ist nicht, die besonderen Lernbedürfnisse von Kindern zu benennen, deren Eltern nicht deutsche Muttersprachler sind. Diskriminierung ist, so zu tun, als gebe es "die Migranten" und ansonsten eine Norm, die in ihrem ganzen Glanz zu Tage tritt, sobald man die "Problemausländer" separiert. Statistisch. Oder auch ganz handfest: Überproportional viele Migrantenkinder landen auf Sonderschulen.
Und genau hier ist der Vorwurf, den sich auch viele Lehrer machen lassen müssen. Dass auch sie allzu oft noch in Kategorien von "Wir" und "Die" denken. "Denen" muss geholfen werden, es ist ihnen aber im Schulalltag oft kaum zu helfen, weil sie so viele Defizite mitbringen. Und weil man im Übrigen auch an die Bedürfnisse der Mehrheit denken muss.
"Die" müssen übrigens gar nicht aus Migrantenfamilien stammen. "Die" können auch bildungsferne Eltern haben oder eine Behinderung haben.
Eine solche Denke führt selten zu Diskriminierung der primitiv-brutalen Art, dafür umso häufiger zu vermeintlich gut gemeinten Tipps ("Lass das lieber mit dem Gymnasium") und zu beiläufig-gönnerhaften Bemerkungen, die die Lehrer im nächsten Moment vergessen, die Kinder und Jugendlichen jedoch über Jahre begleiten.
Eigentlich wissen wir das alles. Aber wir tun zu wenig dagegen. Und so schwingt in dem enormen Widerhall, den #MeTwo in Politik und in Medien erfährt, ein Stück schlechtes Gewissen mit, formuliert zum Beispiel von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) im Tagesspiegel: "Die deutsche Mehrheitsgesellschaft darf unser Rassismus-Problem nicht länger ignorieren oder verharmlosen." Nein, darf sie nicht. Wobei auch in Weils Aufruf immer noch dieses "Wir" versus "Die" steckt.
Eine neue, eine übergreifende gesellschaftliche Identität kann nur aus unseren Schulen erwachsen. Mit Lehrern, die die Verschiedenheit ihrer Schüler, ihrer Herkunft und ihrer Begabungen als die wirkliche Norm begreifen und nach Kräften auf sie eingehen. Viele Schulen, viele Lehrer tun das längst. Trotz politischer Widerstände, trotz Personalmangel und Anti-Inklusionsdebatten. Das ist die größte Hoffnung angesichts von #MeTwo.
Dieser Artikel erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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