KMK-Präsident Lorz hatte im Namen aller Länder die jährlichen Kosten für den Ausbau mit zehn Milliarden Euro beziffert. Das seien "zum Teil noch Mondzahlen", sagt Hamburgs Bildungssenator Rabe. Hat Lorz voreilig gehandelt?
Kinder im Grundschulalter (Symbolbild). Foto: Westfale / pixabay - cco.
WENN ÜBER DIE KULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) berichtet wird, dann sind die Rollen meist klar verteilt: Die KMK muss schneller werden, heißt es dann, sie muss dringend mehr verlässliche Beschlüsse produzieren, sie soll sich endlich mal wirklich für mehr Qualität im Bildungswesen starkmachen. Die anderen appellieren, die KMK muss reagieren.
Neulich war das mal anders. "Bildungsminister fordern mehr Geld für Ganztagsbetreuung", berichtete der Nachrichtensender n-tv schon im Vorfeld der jüngsten KMK-Sitzung. Und im Anschluss titelte Spiegel Online: "Ganztagsausbau der Grundschulen kostet zehn Milliarden Euro". Zehn Milliarden pro Jahr: Dieser Betrag tauchte in zahlreichen Medienberichten auf: schön griffig, konkret – und alarmierend hoch. In die Welt gesetzt hatte ihn Alexander Lorz, CDU-Kultusminister in Hessen und zurzeit Präsident der Kultusministerkonferenz.
Der Bund, der die KMK normalerweise mit seinen Forderungen nach einem Nationalen Bildungsrat vor sich hertreibt, zur Abwechslung mal als Getriebener. Und die so oft gescholtene KMK als entschiedene Mahnerin der Bildungspolitik: ein bemerkenswertes Bild, das kurzzeitig sogar die Kritiker des Abitur-Aufgabenpool der KMK ("komplett gescheitert") überstrahlte.
Zuletzt räumte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) auch angesichts der KMK-Zahlen laut Handelsblatt ein, die Umsetzung von guter Ganztagsbetreuung überall in Deutschland werde "ein echter Kraftakt. Doch das sind wir den Familien in einem modernen Land schuldig."
Jetzt stellt sich allerdings heraus: Ganz so entschieden war die KMK wohl doch nicht, als Lorz den Zehn-Milliarden-Bedarf öffentlichkeitswirksam per Pressekonferenz präsentierte. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) jedenfalls spricht auf Nachfrage von einem "deutlichen Dissens", als die Ministerrunde Anfang Juni bei ihrem Treffen in Wiesbaden die Höhe des Finanzbedarfs diskutierte.
Er verstehe nicht, warum die Zahlen überhaupt
an die Öffentlichkeit gekommen seien, sagt Rabe
"Das sind zum Teil noch Mondzahlen, auf denen diese zehn Milliarden beruhen", sagt Rabe, der die SPD-regierten Kultusministerien koordiniert. Der von Lorz genannte Betrag sei seiner Meinung nach stark überzeichnet. "Deshalb verstehe ich nicht, warum sie überhaupt an die Öffentlichkeit gekommen sind."
Hessens Kultusministerium und das Berliner KMK-Sekretariat teilen dagegen in einer gemeinsamen Stellungnahme mit: "Die Länder werteten die Berechnung als geeignete Diskussionsgrundlage für weitere Gespräche."
Was war da los? Tatsächlich hatten sich die Kultusminister schon vor einigen Monaten verständigt, eine Bestandsaufnahme zu machen: Wie viel Geld wird fällig, wenn wie im GroKo-Koalitionsvertrag angekündigt tatsächlich von 2025 an ein Rechtsanspruch auf Ganztag für alle Grundschulkinder in Deutschland besteht? Die Kultusminister wollten eine konkrete Zahl, mit der sie anschließend in die Verhandlungen mit dem Bund einsteigen können. Die Bundesregierung hat zwei Milliarden Euro für die nötigen Investitionen zur Umsetzung des Rechtsanspruchs in Aussicht gestellt.
Deshalb hatten in den Wochen vor dem KMK-Treffen alle Bundesländer ihre eigenen Berechnungen dazu angestellt und ans KMK-Sekretariat in Berlin zurückgemeldet, auf der Grundlage der folgenden Annahmen: 90 Prozent der für 2025 prognostizierten Zahl an Grundschülern nehmen den Ganztag in Anspruch, und zwar acht, neun oder zehn Stunden am Tag. Die Kitas haben vier Wochen im Jahr geschlossen, einberechnet werden auch die Kosten für ein Mittagessen und die bis 2025 absehbaren Gehaltssteigerungen für das Personal.
563 Euro oder doch 6730?
Klare Ansagen. Umso erstaunlicher, wie stark die Rückmeldungen schwankten. So veranschlagte Baden-Württemberg bei neun Stunden satte 6730 Euro pro Kind, das Saarland dagegen, allerdings für gut fünf Wochen Schließzeit, nur 2853 Euro. Die anderen Länder lagen mit ihren Schätzungen irgendwo zwischen diesen Werten. Ein besonders spannender Fall ist Niedersachsen: Als derzeitige Kosten pro Kind nennt das Land gerade mal 563 Euro, für die KMK-Modellrechnung kommt es dagegen auf 3500 Euro.
"Das kann doch eigentlich nicht sein, die Zahlen sind noch nicht belastbar", sagt Ties Rabe. Offenbar hätten die Länder doch sehr unterschiedliche Ansichten von dem, was Ganztag konkret bedeute. So weist in den Rückmeldungen unter anderem Rheinland-Pfalz darauf hin, dass es eine Versorgungsquote von 90 Prozent "für RP (und voraussichtlich für andere Länder ebenfalls) als wenig realistisch" betrachte. "Dies könnte die auf der Modellrechnung basierende Verhandlungsgrundlage der Länder mit dem Bund schwächen, da die Bedarfsquote ein wesentlicher Kostenfaktor ist", warnen die Beamten von Bildungsministerin Stefanie Hubig.
Unter anderem wegen solcher Warnungen und "angesichts der Zahlenprobleme", sagt Rabe, habe man sich in der KMK eigentlich darauf verständigt gehabt, in der Öffentlichkeit gar keine Zahl zu nennen. "Es ist zumindest ungewöhnlich, dass hier eine Zahl von zehn Milliarden Euro irgendwie abgeleitet und dann als KMK-Berechnung dargestellt wurde. In der KMK selbst ist diese Zahl nicht erörtert worden."
Die KMK und das hessische Kultusministerium weisen hingegen darauf hin, dass die Zahlen aus den Rückmeldungen der Länder aufgrund der vereinbarten "grundlegenden Parameter" abgeleitet worden seien. Darüber hinaus hätten die Länder zum Teil eigene "Aspekte" dazugerechnet, "wie die Notwendigkeit zusätzlicher Baumaßnahmen, die Erhöhung von Ausbildungskapazitäten für Lehr- und (sozial)pädagogische Fachkräfte sowie steigende Löhne". Apropos steigende Löhne: Einige Länder haben zum Beispiel mit zehn Prozent Kostensteigerung bis 2025 gerechnet, andere mit 21 Prozent.
Es kommt darauf an, welche
"Versorgungsquote" man ansetzt
Wie realistisch die von Lorz genannten zehn Milliarden tatsächlich sind, kann insofern offenbar nicht einmal die KMK genau beantworten. Daher wohl auch die Formulierung von der "geeigneten Grundlage für weitere Gespräche".
Eine Überschlags-Rechnung als Realitäts-Check liefert indes durchaus erhellende Ergebnisse. Geht man einmal von den Kosten pro Platz aus, die Niedersachsen angegeben hat (3500 Euro für neun Stunden) und multipliziert diesen Wert mit etwa drei Millionen, der für 2025 erwarteten Zahl an Grundschülern, ergibt das gut 10,5 Milliarden Euro. Wenn 90 Prozent der Schüler ihren Rechtsanspruch wahrnehmen, lägen die Kosten bei 9,47 Milliarden Euro – und damit nah am von Lorz genannten Wert.
Jetzt das große Aber: Selbst Großstädte wie Berlin erreichen derzeit nur 87 Prozent, und ein westlicher Flächenstaat wie Rheinland-Pfalz 47 Prozent. Sind also 90 Prozent tatsächlich zu hoch gegriffen? Würden am Ende vielleicht doch nur maximal 75 oder 80 Prozent deutschlandweit einen Ganztagsplatz einfordern?
Keiner weiß es. Was man weiß: Bei 75 Prozent lägen die auf Deutschland hochgerechneten NRW-Kosten noch bei knapp 7,9 Milliarden Euro. Und die Lücke zwischen dem, was die Bundesländer laut KMK bereits jetzt ausgeben (2,3 Milliarden) und dem Zielbetrag würde von 7,7 auf 5,6 Milliarden schrumpfen. Bundesfamilienministerin Giffey wiederum rechnet mit einer Quote von nur 70 Prozent – was die Kosten im oben genannten Beispiel nochmal niedriger machen würde, sie lägen dann bei knapp 7,4 Milliarden. Gleichzeitig würde die Lücke auf 5,1 Milliarden schrumpfen – ein Drittel weniger als in Lorz' Szenario.
Stellt man all diese Werte gegenüber, erklären sich die Warnungen von Rheinland-Pfalz vor einer "Schwächung der Verhandlungsgrundlage" der Länder bei Nutzung der Modellrechnung.
Hat Lorz die Zehn-Milliarden-Schätzung
voreilig in die Öffentlichkeit befördert?
Hat Lorz die Zahlen also doch voreilig bekanntgegeben? Und welche Effekte will eigentlich ein Land wie Baden-Württemberg erzielen? Würde man die 6730 Euro, die das Kultusministerium von Susanne Eisenmann (CDU) angibt, der bundesweiten Berechnung zugrunde legen, käme man bei der 90-Prozent-Quote auf über 18 (!) Milliarden Euro im Jahr.
Man muss ja nicht gleich so weit gehen wie Ties Rabe, der meint, womöglich wollten einige seiner Kollegen mit derart hohen Zahlen die Verhandlungen mit dem Bund eher zum Scheitern bringen als zum Erfolg. Fest steht jedoch: Wenn der Bund zwei Milliarden Euro als einmaligen Investitionszuschuss angeboten hat und die Länder mit Kosten von zehn Milliarden Euro pro Jahr kontern, könnte es sein, dass die Kultusminister überreizen – und der Bund sein Geld anders einsetzt.
Wird so am Ende aus der Treiberin KMK doch wieder die Getriebene? Weil ihre Zahlen zwar effekthascherisch sind, aber nicht belastbar? Wie dünn das Eis war, auf dem er sich bewegte, scheint dem KMK-Präsidenten immerhin bewusst gewesen zu sein. So kommentierte Lorz den Zehn-Milliarden-Paukenschlag in der Pressekonferenz mit einer auf den ersten Blick erstaunlich defensiven Kommentierung: "Wir stellen noch keine konkreten Forderungen. Aber wir müssen reden."
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