Der Bildungsrat ist tot, es lebe der Bildungsrat? Zwei ehemalige Bildungsstaatsekretäre sagen im Interview, was vom gestrigen Beschluss der KMK zu halten ist.
Michael Voges (links) war bis Ende 2016 Staatsrat in der Bildungsbehörde in Hamburg. Burkhard Jungkamp (rechts) war bis Ende 2014 Staatssekretär im Brandenburger Bildungsministerium. Beide haben sich in den vergangenen zwei Jahren mehrfach öffentlich für grundlegende Reformen in der Bildungspolitik eingesetzt. Fotos: privat.
Herr Jungkamp, Herr Voges, eigentlich wollten Sie sich in diesem Interview Ihrem Ärger über das jüngste Bildungsrats-Debakel Luft machen – und über den Ausstieg der süddeutschen Länder aus den Verhandlungen. Doch gestern haben sich die Kultusminister überraschend schnell auf die Einrichtung eines neuen Gremiums geeinigt. Arbeitstitel: "Bildungsrat/wissenschaftlicher Beirat der KMK". Ist damit alles wieder in Butter?
Michael Voges: Das kann man so nicht sagen. Die KMK stand unter einem erheblichen Einigungsdruck, die Streitigkeiten der vergangenen Wochen haben ihre Akzeptanz in der Öffentlichkeit beschädigt. Was gestern als Beschluss herausgekommen ist, sieht auf den ersten Blick wie ein typischer KMK-Kompromiss aus. Die Südländer mussten wieder runter von den Bäumen, auf die sie geklettert waren, und die sehr mauen Pisa-Ergebnisse haben ihr Übriges dazu getan, dass die Kultusministerkonferenz sich dringend und unmittelbar als handlungsfähig darstellen musste.
Burkhard Jungkamp: Was jetzt auf dem Tisch liegt, könnte man als Bildungsrat light bezeichnen. Es ist zu bezweifeln, dass er dieselbe Durchschlagskraft entwickeln kann, wie ein Nationaler Bildungsrat sie gehabt hätte mit Mitgliedern, die vom Bundespräsidenten ernannt werden, mit Repräsentanten aus Zivilgesellschaft und aus der Wissenschaft.
Voges: Der Beschluss von gestern deutet jedenfalls darauf hin, dass die Kultusminister lediglich einen wissenschaftlichen Beirat wollen, dessen Unabhängigkeit und wissenschaftliche Expertise wir angesichts der gegenwärtigen Faktenlage nicht abschließend beurteilen können. Da sind noch eine Menge Fragen. Was daran liegt, dass die Kultusminister offenbar selbst noch nicht ausbuchstabiert haben, was sie da wollen. Es ist, wie Sie sagen: Der Grundsatz-Beschluss, dass man ein neues Gremium gründen will, musste halt schnell gehen.
Jungkamp: Ich sehe in der gestrigen Entscheidung schon das Eingeständnis der Kultusminister, dass sie eine zusätzliche wissenschaftliche Beratung brauchen, aber es droht die Gefahr, dass die im geschlossenen Raum, in Abschottung von der Öffentlichkeit stattfinden soll. Das wäre genau der falsche Weg.
Sie klingen beide sehr skeptisch. Fürchten Sie, das neue Gremium läuft auf reine Symbolpolitik hinaus?
Voges: Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht seriös beurteilen. Wenn sich die von den Kultusministern beauftragte Arbeitsgruppe von Ministerialbeamten jetzt daran macht, die noch sehr leere Hülle, die ihre Chefs ihnen gegeben haben, mit Inhalt zu füllen, liegt darin natürlich auch eine gewisse Chance. Aber dafür müsste eben genau das herauskommen, was Burkhard Jungkamp eben andeutete: Ein Gremium, das frei von politischen Vorgaben, ohne komplizierte Abstimmungsprozeduren und Stimmenquoren seine wissenschaftliche Expertise in der Öffentlichkeit vortragen können muss. Nur darin liegt seine mögliche Wirkungsmächtigkeit.
"Dass man den Bund nur noch gelegentlich
einbeziehen will, führt zu weiteren Fragezeichen"
Jungkamp: Teil dieser Wirkungsmächtigkeit wäre auch, dass der Bund bei dem Gremium dauerhaft beteiligt ist, wie es beim Nationalen Bildungsrat vorgesehen war. Dass man ihn nach den Plänen der Kultusminister nun nur noch gelegentlich miteinbeziehen will, führt zu weiteren Fragezeichen.
Voges: Ein neuer KMK-Bildungsstaatsvertrag, zu dem es hoffentlich kommt, würde die horizontale Kooperation zwischen den Ländern voranbringen. Doch der Bildungsrat sollte eine vertikale Kooperation im Bildungssystem schaffen unter Beteiligung von Kommunen und dem Bund, die jeweils ihre eigenen politischen Aufgaben in der Bildungskette haben. Dass man jetzt ein Bundesministerium aussperrt, das zu Recht die Bezeichnung Bildung im Namen trägt, ist unverständlich. Der Bund leistet zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland einen wichtigen Beitrag, und die Länder haben ihn dazu auch in der Bildung in den vergangenen Jahren immer stärker in Anspruch genommen – ebenfalls zu Recht, wie ich finde.
Sie haben im Frühjahr in der FAZ gewarnt, Bund und Länder sollten beim Nationalen Bildungsrat die Analogie zum Wissenschaftsrat nicht übertreiben. Man könnte auch sagen: Ihr Wunsch ist erhört worden.
Jungkamp: Unsere Botschaft lautete: Wir brauchen ein unabhängiges Gremium, das Empfehlungen auch ohne das Organisieren von politischen Mehrheitsverhältnissen aussprechen kann. Ohne dass die Länder ein Vetorecht haben, mit dem sie öffentliche Äußerungen der Wissenschaftler unterbinden können. An der Stelle haben wir vor einer Eins-zu-Eins-Übertragung des Wissenschaftsrates gewarnt.
Voges: In den zwischen Bund und Ländern vereinbarten Eckpunkten zum Bildungsrat stand nämlich, dass abweichende alternative Meinungen der Wissenschaftler explizit untersagt werden sollten. Nur die gemeinsam beschlossenen Empfehlungen sollten überhaupt das Licht der Öffentlichkeit erblicken.
"Nicht so starre Rituale wie
beim Wissenschaftsrat"
Jungkamp: Und da könnte in der Tat, wie Sie sagen, jetzt eine Chance liegen, wenn man für das neue Gremium nicht so starre Rituale wie beim Wissenschaftsrat konzipiert. Sonst bekommen wir am Ende eine zweite KMK mit Beschlüssen, die man dann auch direkt dort hätte fällen können. Sie müssen sich nur mal vorstellen, wie das beim Nationalen Bildungsrat geplant war: Mit 32 Wissenschaftlern, Bildungspraktikern und sogenannten Personen des öffentlichen Lebens in der einen Kammer und in der anderen Vertreter aller 16 Länder, der Kommunen und des Bundes. Verbunden mit allen möglichen Quoren und dem Zwang zum Konsens zwischen beiden Kammern ist klar, dass da nur der kleinste gemeinsame Nenner rausgekommen wäre.
Voges: Vielleicht gelingt das in diesem zweiten Anlauf besser, aber die KMK muss erstmal eine Menge Details klären. Ob es eine feste Geschäftsstelle geben soll zum Beispiel, was ich für dringend erforderlich hielte. Und wird es überhaupt ein dauerhaftes Gremium, das sich selbst verwaltet, oder wirklich nur ein wissenschaftlicher Beirat, wie wir ihn eigentlich bei der Steuerungsgruppe von Bund und Ländern nach Grundgesetz-Artikel 91 längst haben?
Jungkamp: Es muss schon einen Mehrwert geben, denn wissenschaftliche Beratung und Begleitung an sich hat die Bildungspolitik seit vielen Jahren, seit es PISA gibt mindestens. Vielleicht sollte man aber die Gelegenheit nutzen, nicht nur die immer gleichen Wissenschaftler zu berufen.
Ist nicht genau das die Kernangst der Länder schon vor dem Nationalen Bildungsrat gewesen? Dass die Wissenschaftler dann tun, was sie wollen? Dass sie die Politik vorführen? Und ist jetzt nicht das Ziel, genau das zu verhindern?
Jungkamp: Das war der Vorwurf gegen den alten Bildungsrat in den 70er Jahren: Die Wissenschaftler hätten Empfehlungen für den Papierkorb produziert, weil sie so wirklichkeitsfern gewesen seien. Ich glaube aber, vieles ist heute anders. Die Wissenschaftler sind anders, weil sie bei ihrer Beratung viel stärker mitdenken, was politisch realisierbar ist. Und kein Politiker kann sich heute mehr leisten, öffentlich gemachte Empfehlungen der Wissenschaft einfach so zu ignorieren. Darum ist es heute auch nicht mehr nötig, ja es wäre kontraproduktiv, die Wissenschaft von Anfang an so einzumauern.
In ihrer Januarsitzung 2018 haben sich die Kultusminister wirklich auf einen Reformaufbruch verständigt, seitdem verhandeln die Länder über einen neuen Staatsvertrag, womöglich wird es auch nur eine Ländervereinbarung. Mit Glück soll jetzt im März der fertige Entwurf vorliegen. Warum dauert das eigentlich so lange?
Jungkamp: Ganz sicher deshalb, weil die Länder sich überhaupt erstmal auf Themen für den Staatsvertrag verständigen und parallel den Mut aufbringen mussten, dann auch wirklich länderübergreifende Regelungen zu treffen. Ich glaube, es geht gar nicht anders, als dass das eine sehr intensive mühevolle Debatte ist. Insofern habe ich durchaus Verständnis. Allerdings: Frau Eisenmann hat ja, als sie die Unnnötigkeit des Nationalen Bildungsrates begründete, gesagt, die Länder hätten selbst die Kraft, für mehr Vergleichbarkeit im Bildungssystem zu sorgen. Die Zähigkeit der Verhandlungen um den Staatsvertrag zeigt, dass das womöglich doch einer größeren Kraft bedarf, als die KMK zurzeit zur Verfügung hat.
"Überdimensioniertes Schulgesetz ohne
klare Regelungen an den entscheidenden Stellen?"
Voges: Man kann Verständnis haben für die Langsamkeit, aber wenn ich mir den ersten Entwurf des Staatsvertrages mit seinen 43 Artikeln anschaue, dann wirkt das auf mich wie ein überdimensioniertes Schulgesetz, dem an allen entscheidenden Stellen wirklich klare Regelungen fehlen. Mir würden zehn Artikel reichen, die ohne lange Beschreibungen der bestehenden Beschlusslage und ohne programmatische Absichtserklärungen auskämen. Verbindliche Regelungen, die das erforderliche Maß an Einheitlichkeit garantieren, die das deutsche Bildungssystem braucht, würden ausreichen.
Jungkamp: Die Minister müssen nur die Richtung vorgeben, bis hinein in die Details, und dann arbeiten ihre Ministerien das aus.
Glauben Sie den Kultusministern, dass sie wirklich den Neuanfang wollen?
Jungkamp: Das bisherige Verfahren, wie man zu einem Staatsvertrag kommen will, öffnet jedenfalls Tür und Tor dazu, dass am Ende ein unwirksames Kompendium entsteht.
Voges: Ich bin ja sehr gespannt, wie der bayerische Ministerpräsident Söder sich verhalten wird. Bei seiner Absage an den Bildungsrat hat er gesagt, das bayerische Abitur bleibe bayerisch. Wenn er die Haltung auch beim Staatsvertrag durchzieht, kann das nichts werden, denn für mehr Vergleichbarkeit wird es sicherlich nicht reichen, dass einfach alle das bayerische Abitur übernehmen. Damit der Staatsvertrag ein Erfolg wird, braucht es Bereitschaft zum Kompromiss auch und gerade von dem Ministerpräsidenten, der den Nationalen Bildungsrat abgeschossen hat.
Sie haben Anfang 2018 mit einem Offenen Brief an die Kultusministerkonferenz auf grundlegende Bildungsreformen und einen neuen Bildungsstaatsvertrag gedrängt. Eines wundert dabei aber doch. Sie haben beide selbst viele Jahre lang als Staatssekretäre die föderale Bildungspolitik mitgestaltet. Warum haben Sie nicht damals gehandelt? Warum sind Sie jetzt erst von der Seitenlinie so fordernd?
Jungkamp: Die Frage ist berechtigt. Wir beide nehmen aber schon für uns in Anspruch, auch zu unserer aktiven Zeit in Ministerrunden auf mehr Vergleichbarkeit gedrängt zu haben. Die Einführung eines gemeinsamen Aufgabenpools beim Abitur war sicherlich der sichtbarste Ausdruck dessen. Außerdem sollte man auch ehemaligen Bildungsstaatsekretären das Recht zum lebenslangen Lernen zugestehen.
Voges: Eine wichtige Rolle spielt auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Ländern Ende 2017 bescheinigt hat, dass es so nicht weitergeht mit dem Abitur. Herr Jungkamp und ich sind beide überzeugte Bildungsföderalisten, doch wir beobachten, dass es in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden ist, in der KMK gemeinsame Entscheidungen zu treffen und mehr Verantwortung für das ganze Land zu übernehmen. Diesem Partikularismus müssen wir vorbauen, wenn wir wollen, dass die Akzeptanz für den Bildungsföderalismus nicht immer weiter in den Keller geht. Eine große Mehrheit der Bevölkerung spricht sich in Umfragen für eine zentrale Kompetenz des Bundes in der Bildung aus. Wir glauben nicht, dass die helfen würde. Aber genau deshalb müssen die Länder jetzt liefern.
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Th. Klein (Freitag, 06 Dezember 2019 11:56)
"Mit 32 Wissenschaftlern, Bildungspraktikern und sogenannten Personen des öffentlichen Lebens in der einen Kammer und in der anderen Vertreter aller 16 Länder, der Kommunen und des Bundes. Verbunden mit allen möglichen Quoren und dem Zwang zum Konsens zwischen beiden Kammern ist klar, dass da nur der kleinste gemeinsame Nenner rausgekommen wäre."
Das würde dann ja auch für den Wissenschaftsrat gelten - so lese ich die Empfehlungen und Stellungnahmen aber nicht. Freilich gibt es viel Konsens, es gibt aber auch mutige Aussagen, die Bund und Länder manchmal tatsächlich mitgehen.
Udo Michallik (Freitag, 06 Dezember 2019 21:53)
Eigentlich wollte ich mich jetzt arg zurückhalten. Soweit wie die beiden von mir hoch geschätzten Kollegen von den Diskussionen der beiden letzten Tage weg sind, so dicht dabei bin ich. Und der Partikularismus, und das wäre mir wichtig anzumerken, ist nicht einseitig. Viel dramatischer als der Rückzug Bayerns und Baden Württembergs aus dem Nationalen Bildungsrat ist beispielsweise der Rückzug von Niedersachsen aus den einzigen Ländervergleichsarbeiten VERA. An dieser über nun fast zwei Jahrzehnten währenden Ländergemeinsamkeit der Qualitätsentwicklungen wird die Axt angelegt. Diesen Konsens zum Bildungsmonitoring und zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung wieder herzustellen ist Intention und Motivation für einen Ländervertrag. Unter anderem.
Für Pessimismus gibt es nach diesen zwei Tagen keinen Anlass. Im Unterschied zu vergangenen Jahren gibt es heute eine Reihe von Bildungsministerinnen und Bildungsministern, die weitaus politischer ihre Verantwortung wahrnehmen, das Primat der Politik für sich beanspruchen und daher mit ihren Überzeugungen Veränderungen herbeiführen wollen. Und das ist die Aufgabe dieser Ministerrunde. Nicht ein bis ins letzte Detail ausgearbeitetes Konzept vorzulegen, sondern die Basis dafür zu legen, was jetzt Verwaltungen zu leisten haben. Auch das ist ein wesentlicher Paradigmenwechsel (manche sollten einige Aufsätze von Max Weber lesen, um Politik besser zu verstehen) in der KMK.
Das sind entscheidende Unterschiede und die Gewähr dafür, dass am Ende dieses Prozesses die Ländergemeinschaft gestärkt hervorgeht und die Bildungspolitik in Deutschland einen spürbaren Schub erhält.