Was zählt mehr? Die Pressefreiheit oder die Persönlichkeitsrechte einer mutmaßlichen Plagiatorin? Der Rechtsstreit um eine ehemalige Flensburger Vizepräsidentin läuft seit Jahren – jetzt haben Richter zugunsten des berichtenden Journalisten entschieden.
Luftaufnahme der Universität Flensburg. Foto: SLOFan / CC BY-SA 4.0.
JOCHEN ZENTHÖFER ist ein sachlicher Typ, investigativer Journalist halt, promovierter Jurist noch dazu, doch für einen Moment gönnt er sich das Triumphgefühl. "Ich habe zu 100 Prozent gewonnen", sagt er, "ein Sieg ganz auf unserer Argumentationslinie."
Das Gefühl in diesem Augenblick ist privat, doch der Erfolg, den Zenthöfer feiert, ist von erheblicher öffentlicher Bedeutung. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat kurz vor Weihnachten mit seinem Urteil einen vorläufigen Schlusspunkt unter einen jahrelangen presserechtlichen Streit gesetzt. Eigentlich ist es mehr ein Ausrufezeichen: Ja, Zenthöfer darf. Er darf über die Plagiatsvorwürfe gegen eine ehemalige Vizepräsidentin der Universität Flensburg berichten, und zwar namentlich.
Charlotte Gaitanides, ebenfalls Juristin und ehemalige Privatdozentin, hatte 2017 erst eine einstweilige Verfügung gegen einen von Zenthöfer geplanten Artikel mit Namensnennung erwirkt. Ende 2018 dann hatte das Landgericht Frankfurt am Main bekräftigt: Hält der Journalist sich nicht an das Verbot, drohen ihm ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro oder eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten.
Eine empfindliche Einschränkung der Pressefreiheit und auch der Wissenschaftsfreiheit, wie Zenthöfer von Anfang an fand – weshalb er sich entschloss, die Sache gerichtlich durchzufechten. Mit Erfolg: Das Oberlandesgericht verwarf das Urteil der Vorinstanz. Allerdings steht der Klägerin noch die Revision offen.
Der Rechtsstreit "Gaitanides./.Zenthöfer"
hat schon jetzt Lehrbuch-Qualitäten
Der Rechtsstreit "Gaitanides./.Zenthöfer" hat schon jetzt Lehrbuch-Qualitäten. Was wiegt bei der Berichterstattung über mutmaßliches wissenschaftliches Fehlverhalten schwerer: das Persönlichkeitsrecht einer möglichen Plagiatorin – oder das Recht der Öffentlichkeit, speziell: der Wissenschaft, über die Vorwürfe so informiert zu werden, dass sie sich über die umstrittene wissenschaftliche Arbeit selbst ein Bild machen kann – was wiederum die namentliche Identifizierung der Autorin erfordert?
Hierzu hat das Oberlandesgericht nun deutlich Stellung bezogen. Der zentrale Satz: "Nach Auffassung des Senats hat die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse an der Veröffentlichung des Namens der Autorin dieser wissenschaftlichen Schriften, weil gerade hierin ein besonderer zusätzlicher Informationswert liegt, der ohne die namentliche Nennung nicht berücksichtigt würde."
Ohne die Namensnennung würde eine wissenschaftliche Auseinandersetzung "mit Übernahme aus fremden Texten, die als solche nicht gekennzeichnet sind" zu einer "Perpetuierung dieser Plagiate" (führen), was gegen wissenschaftliche Interessen verstößt.“ Ein wissenschaftliches Buch ohne den Namen des Verfassers sei wenig aussagekräftig, befanden die Richter: "Werk und Autor gehören zusammen. Es besteht auch Verwechslungsgefahr, da allein der Titel eines Werkes nicht aussagekräftig ist."
Einfach haben sich die Richter ihre Entscheidung nicht gemacht, und das hat mit den Besonderheiten des Falles Gaitanides zu tun. Sie hatte ihre Promotion und Habilitation an der Goethe-Universität in Frankfurt absolviert. 2016, da war sie schon nicht mehr Vizepräsidentin in Flensburg, warf ihr die Internet-Plattform "VroniPlagWiki" vor, bei beiden wissenschaftlichen Arbeiten plagiiert zu haben. Was als Verdacht eines sogenannten "Doppelplagiats" für Aufsehen in der Szene sorgte. Zenthöfer sagt: "Es wäre erst das zweite "Doppelplagiat" in der jahrhundertelangen deutschen Hochschulgeschichte."
Es wäre das erst zweite Doppelplagiat
der Hochschulgeschichte, sagt Zenthöfer
Der Journalist berichtete mehrfach über den Fall. Darüber, dass die Juristin wenig später auf ihren akademischen Titel einer Privatdozentin verzichtete. Dass sie Ende August 2017 auf eigenes Verlangen aus dem Beamtenverhältnis entlassen wurde. Dass sie sich in Hinblick auf ihre Dissertation und Habilitation bis heute in Auseinandersetzungen mit der Goethe-Universität befindet. Und Zenthöfer nannte ihren Namen.
Das verbat sich die Gaitanides. Übrigens nicht nur gegenüber Zenthöfer, sondern auch gegenüber anderen Journalisten und Zeitungen. Dem Flensburger Tagblatt zum Beispiel. Gegen deren Verlag wollte die ehemalige Privatdozentin ein gerichtliches Verbot erwirken, über ihren Plagiatsfall mit Namen zu berichten.
Was das Gericht, ebenfalls das Landgericht Frankfurt am Main, zunächst ablehnte. Die Klägerin legte Berufung ein, das Oberlandesgericht sprach dann in der mündlichen Verhandlung laut Protokoll "von einem echten Grenzfall" zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den tangierten Persönlichkeitsrechten. Woraufhin der Verlag des Flensburger Tagblatts sich auf einen Vergleich einließ und Gaitanides’ Namen von seinen Online-Seiten entfernte.
Als Jochen Zenthöfer im November 2017 im Magazin Cicero in einer Aufzählung von Plagiatsfällen und Plagiatsverdachten auch die ehemalige Flensburger Vizepräsidentin nannte, wurde diese erneut aktiv. Sie bat die Redaktion, ihren Namen online zu entfernen, was Cicero auch tat. Zenthöfer beschloss in der Folge, einen Artikel über den Fall und die Bemühungen der Beschuldigten zu schreiben, die Berichterstattung zu unterbinden. Und er teilte Gaitanides seine Absicht, sie darin namentlich zu nennen, auch über seinen Anwalt mit.
Woraus die aktuelle gerichtliche Auseinandersetzung entstand. Denn die Juristin erwirkte prompt eine einstweilige Verfügung gegen die geplante Namensnennung durch den Juristen – und Jochen Zenthöfer beschloss, die Sache auszufechten. Unterstützt, wie er sagt, nicht nur von seinen Rechtsanwälten, sondern "von einer ganzen Reihe von Unterstützern aus den Bereichen Medien und Recht, darunter versierten Jura-Professoren."
Der Erfolg kam in
der zweiten Instanz
Im November 2018 hatte er dabei noch eine Pleite erlebt. Das Landgericht Frankfurt entschied damals, der Eingriff in Gaitanides’ Persönlichkeitsrecht wiege zu schwer. Zwar seien die Veröffentlichung einer Dissertation und Habilitation dem Berufsleben und damit der sogenannten Sozialsphäre und nicht ihrer Privatsphäre zuzuordnen, doch komme eine Namensnennung nur in Frage, wenn sie eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sei oder eine hervorgehobene Position innehabe.
Und hier meinte das Gericht damals: Hatte die Betroffene mal. Aber nicht mehr. Sie habe alle ihre universitären und wissenschaftlichen Funktionen aufgegeben, auch habe sie sich aus ihrer Hochschulsphäre zurückgezogen. Insofern sei keine mögliche Vorbildfunktion mehr beeinträchtigt, und: Nach Verlust der Lehrbefugnis bestehe keine Gefahr mehr, "dass dem Lehrpersonal selbst wissenschaftliche Verfehlungen vorzuwerfen sind, die es bei anderen gerade überprüfen und ggf. auch ahnden soll".
Im Übrigen könne Zenthöfer ja auch so über den Fall berichten, ohne Namensnennung halt, das reiche, um das öffentliche Interesse zu bedienen.
Und genau hier widerspricht jetzt das Oberlandesgericht: Nein, das reicht eben nicht. Und die Richter ergänzen: Ein Recht auf "Vergessenwerden" könne Gaitanides nicht geltend machen, "da ihre Habilitationsschrift noch im wissenschaftlichen Diskurs steht und wieder große Aktualität hat." Gaitanides hatte über das "Recht der Europäischen Zentralbank" geschrieben, der Untertitel ihrer Habilitationsschrift lautet: "Unabhängigkeit und Kooperation in der Europäischen Währungsunion".
Selbst das Bundesverfassungsgericht zitierte
aus der möglichen Plagiatsschrift
Bei derartig aktuellen Themen liege es angesichts der aktuellen EZB-Zinspolitik nahe, schreiben die Richter, dass Wissenschaftler, aber auch Journalisten das Buch in die Hand nähmen und daraus zitierten. "Selbst das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Bankenunionsurteil vom 30. Juli 2019 die Habilitationsschrift der Klägerin zitiert."
Einen Umstand, auf die Zenthöfer das Oberlandesgericht in seiner Klageerwiderung erst aufmerksam gemacht hatte – ebenso darauf, dass die Habilitation der Klägerin noch in über 50 Bibliotheken verfügbar sei, auch im Ausland. Ihre Bücher und Aufsätze seien noch im Buchhandel erhältlich, berichtete Zenthöfer dem Gericht, und auf zahlreichen Webseiten präsent.
Interessant ist auch, dass die Richter meinen, für die Berichterstattung über Plagiatsverdachte in wissenschaftlichen Veröffentlichungen könnten nicht dieselben Maßstäbe gelten wie bei der Verdachtsberichterstattung über Straftaten – wo die Namensnennung in deutschen Medien regelmäßig unterbleibt. Der Verfasser einer wissenschaftlichen Schrift begebe sich mit seinem Namen in den wissenschaftlichen Diskurs, außerdem habe der Gedanke der Resozialisierung hier eine geringere Bedeutung, weil ein Plagiatsvorwurf keine Straftat betreffe "und bei einem allein berufsbezogenen Fehlverhalten in der Regel nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine Rückkehr zu wissenschaftlich redlichem Verhalten eine Wiedereingliederung in die sozialen Strukturen der Gesellschaft erfordert."
Schließlich lassen die Richter durchblicken, dass sie davon ausgehen, dass die Plagiatsvorwürfe ihre Berechtigung hätten. Die Fakten hätten sich zwischenzeitlich "verdichtet", heißt es in dem Urteil, deshalb lägen die für eine Verdachtsberichterstattung erforderlichen Belegtatsachen in ausreichendem Umfang vor.
Tatsächlich hat die Goethe-Universität der Klägerin die Habilitation per Bescheid aberkannt, auch ihren Widerspruch hat sie zurückgewiesen. Ein Verwaltungsgericht entschied zwar, dass gleichzeitige Entziehung des Privatdozentinnen-Titels rechtswidrig gewesen sei, weil Gaitanides zuvor schon freiwillig auf ihn verzichtet hatte, doch wichtiger sei, dass das Verwaltungsgericht den Bescheid der Universität zur Habil-Aberkennung rechtmäßig war. Deshalb dürfe Zenthöfer "als Sachverwalter eines fairen und wissenschaftlichen Tugenden verpflichteten Diskurses und Wissenschaftsbetriebes den Namen der Klägerin im Zusammenhang mit den gegen sie erhobenen Plagiatsvorwürfen nennen".
Anders, sagen die Richter, sähe die Sache nur aus, wenn eine Namensnennung durch Zenthöfer zu schweren gesundheitlichen Folgen bei der Klägerin geführt habe oder künftig führen könne. "Denn dann könnten ihre Interessen im Rahmen der Güterabwägung überwiegen." Doch einen Beleg dafür habe Gaitanides nicht erbracht.
Und, kommt jetzt bald der nächste Artikel von Zenthöfer über den Verdachtsfall? Der Journalist gibt sich zurückhaltend. Aus "Respekt vor dem Gericht" warte er bis zur Rechtskraft ab. "Sollte die Gegenseite den Sachverhalt vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe klären lassen wollen, bin ich dafür vorbereitet." Es sei schade, dass man die Pressefreiheit in einem aufwändigen, langen und teuren Verfahren verteidigen müsse – "aber es handelt sich um eine Grundsatzfrage, von deren Beantwortung viele Journalisten und Wissenschaftler betroffen sind und betroffen sein werden."
Nachtrag am 10. März 2021
Der Bundesgerichtshof hat die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberlandesgerichts zurückgewiesen. Damit ist der Fall endgültig geklärt: Es gibt für die Verfasser von
Plagiaten kein Recht auf Vergessenwerden.
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oliver (Freitag, 17 Januar 2020 18:43)
Werther Herr Wiarda
Vergleichen Sie das bitte mit der Behandlung von anderen Jouernalisten im Deutschland, die von Missständen in der Forschungslandschaft berichten. Nur ein Beispiel: Der Website "For Better Science" von Leonid Schneider https://forbetterscience.com/ Schauen Sie mal dort unter "Jungebluth" nach.
Mfg, Oliver