Erstmals steigen die Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen schneller als die Zahl der Tests. Was das bedeutet – und was sich über die tatsächliche Dynamik hinter den Statistiken sagen lässt. Eine Analyse.
Quellen: RKI. Gemeldete Neuinfektionen SurvStat@RKI 2.0 (Datenbankabfrage) und Laborbasierte Surveillance von SARS-CoV-2, Wochenbericht vom 30. März 2021. Zahlen aus den Grafiken extrahiert.
ERSTMALS SEIT BEGINN der dritten Welle sind die gemeldeten Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen schneller gewachsen als die Zahl der Tests. Gleichzeitig stiegen die Positivraten bei den 0- bis 14-Jährigen kräftig an – wenn auch nicht ganz so stark wie in der Bevölkerung insgesamt. Vorher waren sie über mehrere Wochen gegen den Trend zurückgegangen.
Damit lässt sich belegen, dass die Ansteckungsdynamik bei Kindern und Jugendlichen in der vergangenen Woche tatsächlich groß war – und sich nicht wie in den Vorwochen zu einem guten Teil auf die gestiegenen Tests zurückführen lässt.
Sowohl bei den 0- bis 4-Jährigen als auch bei den 5- bis 14-Jährigen verzeichnete das Robert-Koch-Institut (RKI) in der vergangenen Woche Allzeithochs bei den nachgewiesenen Neuinfektionen. Dabei ist der Vergleich zu den (niedrigeren) Peaks der zweiten Welle Ende Dezember allerdings bei den Kitakindern irreführend – weil damals bei leicht höherer Positivrate nur gut die Hälfte an Tests durchgeführt wurde.
Bei den Schulkindern hingegen lässt sich aufgrund der Testzahlen und Positivraten darauf schließen, dass das Infektionsgeschehen in der vergangenen Woche tatsächlich hoch wie nie war. Bei den 5- bis 14-Jährigen lag auch das Plus bei der Inzidenz im 7-Tages-Vergleich mit 38 Prozent an der Spitze aller Altersgruppen. Und da die Testhäufigkeiten bei den Schulkindern nicht mehr stärker kletterten als bei den 15- bis 59-Jährigen, dürfte diese Steigerung auch – im Unterschied zu den Vorwochen! – relativ gesehen nicht überzeichnet gewesen sein.
Was passiert, wenn die Zahl der Tests
jetzt wieder zurückgefahren wird
Aktuell dürfte das reale Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen durch das enorme Testwachstum der vergangenen Wochen besser als das der meisten anderen Altersgruppen erfasst werden. Vermutlich inzwischen mit einer deutlich geringeren Dunkelziffer.
Umso mehr ist davor zu warnen, während der Osterferien absehbar die Testhäufigkeiten wieder zurückzufahren. In der Zeit der Kita- und Schulschließungen nach Weihnachten war genau dies geschehen – mit mehreren verzerrenden Effekten: Die gemeldeten Neuinfektionen fielen drastisch ab, wodurch der Einfluss der Schulschließungen zunächst überschätzt wurde und die Entwicklung des Infektionsgeschehens unter Kindern und Jugendlichen bis Mitte Februar nicht mehr seriös einzuschätzen war. Außerdem führte der starke Anstieg der Testhäufigkeiten seit Mitte Februar dazu, dass der fälschliche Eindruck einer Corona-"Sonderkonjunktur" unter 0- bis 14-Jährigen entstand.
Die Wahrheit ist: Wie stark die Dynamik sich bei Kindern und Jugendlichen von anderen Altersgruppen unterschied, ließ sich über viele Wochen nicht sagen. Was zu einer ärgerlichen und einseitigen politischen Debatte über erneute Kita- und Schulschließungen führte. Wenn in dieser und in der nächsten Kalenderwoche die Testhäufigkeiten sinken sollten und – als Konsequenz – auch die gemeldeten Neuinfektionen, sollte dies umgekehrt nicht ähnlich unreflektiert als abnehmendes Infektionsgeschehen bei 0- bis 14-Jährigen interpretiert werden.
Kitakinder infizieren sich unterdurchschnittlich oft,
5- bis 9-Jährige liegen deutlich über dem Schnitt
Was man sagen kann: Kitakinder scheinen sich aktuell seltener anzustecken als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ihre 7-Tages-Inzidenz lag laut RKI vergangene Woche bei 125 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern – im Vergleich zu 138 in der Gesamtgesellschaft. Tatsächlich könnte der Abstand sogar noch etwas größer sein, weil, siehe oben, die Dunkelziffer bei Kitakindern durch die hohen Testzahlen vergleichsweise klein sein könnte.
5- bis 9-jährige Kinder (Inzidenz 177) dagegen steckten sich vergangene Woche den RKI-Meldezahlen zufolge häufiger an als die meisten anderen Altersgruppe mit Ausnahme der 20- bis 29-Jährigen (179 bis 183) und der 40- bis 44-Jährigen (183). 10- bis 14-Jährige, und das ist angesichts der explodierten Testrate bemerkenswert, hatten dagegen mit 152 immer noch eine der niedrigsten Inzidenzen bei den Unter-50-Jährigen.
Womit ich meine Einschätzung, was den Beitrag der Schulen zur dritten Welle angeht, allerdings nur in Bezug auf die vergangene Woche und nur ein Stückweit, korrigieren muss: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es derzeit auch die Schulen sind. Allerdings: Sehr wahrscheinlich ist das angesichts zumeist geteilter Klassen, großen Abständen, Maskenpflicht (viel strengeren Hygienemaßnahmen als in Büros oder Fabriken) und ganzen Jahrgängen im Distanzunterricht nicht. Viele mehr gilt es zu erkunden, wie und warum sich offenbar auch Kinder zuletzt vermehrt in ihrem privaten Umfeld ansteckten.
Das Versagen des RKI bei der Bereitstellung
einer guten Datenqualität
Das Ärgerliche aufgrund der schlechten Qualität der Corona-Zahlen: Wir wissen wir nicht. Weil regelmäßige repräsentative Bevölkerungssamples immer noch fehlen und mit keinen spürbaren Ambitionen vom RKI verfolgt werden. Weshalb nur die durch Testhäufigkeiten und Vorauswahl der Getesteten arg verzerrten Meldeinzidenzen bleiben. Das ist angesichts der Dauer der Pandemie immer weniger akzeptabel – und umso unverständlicher, je grundlegender Bildungs- und Teilhaberechte bei Kindern und Jugendlichen auf der Grundlage der miesen Zahlenqualität eingeschränkt werden sollen. Die öffentlichen Debatten hierzu waren in den vergangenen Wochen oft erschreckend uninformiert.
Aktuell wäre es zum Beispiel wichtig zu wissen, ob die Corona-Dynamik bei den 5- bis 14-Jährigen der Zunahme in anderen Altersgruppen tatsächlich vorausging oder ihr, was früheren Verläufen entsprechen würde, gefolgt ist.
Doch das RKI verspricht seit Monaten lediglich die Ergebnisse für eine einmalige Bevölkerungsstichprobe – aus dem Zeitraum zwischen Oktober und Dezember 2020. Die immerhin sollte jetzt bald vorliegen – dürfte aber angesichts der Virusmutationen vor allem historischen Wert haben.
Von Kita- und Schulschließungen
profitieren vor allem die Erwachsenen
Beruhigend ist und bleibt, dass es unter Kindern und Jugendlichen im gesamten Verlauf der Pandemie zu extrem wenig sehr schweren Verläufen gekommen ist. In Zahlen: Das RKI verzeichnet seit Anfang 2020 insgesamt bis zu 13 verstorbene 0- bis 19-Jährige, die eine nachgewiesene Corona-Infektion hatten – bei insgesamt 385.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen. Womit die Todesrate bei 0,003 Prozent liegt. 238 Kita- und Schulkinder mussten stationär ins Krankenhaus aufgenommen werden. Und auch aktuell verzeichnen Kinder- und Jugendärzte keine signifikant steigende Zahl schwerer Covid-19-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – dafür aber umso mehr psychische Auffälligkeiten und Störungen, die als Folgen des Lockdowns einzustufen sind.
Zum Vergleich: 55 Kinder unter 15 kamen 2019 bei Verkehrsunfällen ums Leben, etwa 30 Prozent davon dürften laut Statistischem Bundesamt auf den Schulweg zurückzuführen sein. 28.000 Kinder und Jugendliche wurden verletzt.
Wer Kita- und Schulschließungen mit dem hohen Corona-Risiko für die Kinder und Jugendlichen selbst zu begründen versucht, argumentiert insofern schief. Das viel größere – und offensichtliche! – Risiko für 0- bis 19-Jährige besteht in den sozialen und psychologischen Folgen der Schließungen – während von der Eindämmung des Infektionsgeschehens vor allem die Erwachsenen profitieren.
Die in der Vergangenheit stets eher bereit waren, Schulen und Kitas zu schließen als Büros, Fabriken, Kirchen oder, siehe aktuell, den Einzelhandel. Oder gar Ausgangssperren zuzulassen. Doch wem gibt das in der aktuellen Debatte wirklich noch zu denken?
Alles wieder wie im November? Ja – und nein.
Wie dramatisch ist die Corona-Lage schon wieder im Vergleich zur zweiten Welle? Ein Vergleich zur Situation Mitte November, als die bundesweite Corona-Inzidenz ebenfalls zwischen 130 und 140 lag, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich.
Erstens: Die Zahl der Intensivpatienten ist derzeit mit 3.680 um fast 400 höher als am 13. November (3.299). Was daran liegt, dass die Werte nach der zweiten Welle nie auf das Niveau des vergangenen Sommers zurückgefallen waren. Tatsächlich ist jedoch das Tempo, mit der sich die Intensivbetten füllen, derzeit noch deutlich geringer als im Herbst. In den vergangenen zwei Wochen wurden 821 Betten (+29 Prozent) zusätzlich besetzt. Zwischen Ende Oktober und Mitte November waren es hingegen 1460 (+79 Prozent) zusätzliche Intensivbetten .
Das dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass – zweitens –die Demographie der Erkrankten diesmal noch deutlich anders ist als
im Herbst. Mitte November, in der Kalenderwoche 44, zählte das RKI 15.540 neuinfizierte Über-70-Jährige, das waren 34 Prozent mehr als zwei Wochen zuvor.
Vergangene Woche dagegen wurden bei gleicher Bevölkerungsinzidenz nur 8.985 über 70-Jährige Corona-positiv getestet, signifikant weniger – die Bremsspuren des Impfens. Allerdings könnte es damit vorbei sein: Denn im Vergleich zu vor zwei Wochen beträgt das Plus aktuell sogar 39 Prozent.
Den 7-Tages-Schnitt bei den Verstorbenen berechnete der WELT-Journalist Olaf Gersemann aktuell 161 pro Tag – was ziemlich genau dem Wert von Mitte November entspricht. Damals jedoch mit stark steigender Tendenz – gegenwärtig stagnieren die Todeszahlen noch.
Was sich, siehe die Dynamik bei den Über-70-Jährigen, absehbar bald wieder ändern dürfte.
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Django (Mittwoch, 31 März 2021 16:17)
Wir haben uns zu Hause inzwischen angewöhnt, die Auslastung der Intensivbetten mit Covid-Patienten als mindestens genau so wichtig wie die 7-Tages-Inzidenz anzusehen. Denn dieser Wert ist unabhängig von der Menge an Tests.