Deutschlands Viertklässler können schlechter lesen, schreiben und rechnen als vor fünf Jahren. Der Negativtrend betrifft alle Länder, die soziale Schere geht weiter auf. Immerhin: Ein Bundesland zeigt, wo die Lösung liegen könnte.
EIGENTLICH HATTE Petra Stanat schon alles Wichtige gesagt zum IQB-Bildungstrend 2021. Im Juli war das, als das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dessen Direktorin Stanat ist, die bundesweiten Ergebnisse der Grundschul-Kompetenztests präsentierte. Es gebe einen "Negativtrend" durchgängig über alle getesteten Bereiche hinweg, also beim Lesen, Zuhören, Orthographie und Mathematik, und er sei deutlich: "Die Viertklässler lagen 2021 um ein Viertel- bis Drittelschuljahr hinter ihren Vorgängern im Jahr 2016 zurück, beim Zuhören war der Rückstand mit einem halben Jahr am größten."
Zum dritten Mal überprüfte das IQB das Erreichen der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) für die Grundschulen in den Fächern Deutsch und Mathematik. Knapp 27.000 Viertklässler nahmen teil.
Die Tests fanden vor den Sommerferien 2021 statt, und der Einbruch war enorm, vor allem im Vergleich zur vorletzten Testrunde 2011. Der Anteil der Kinder, die nicht einmal die sogenannten Mindeststandards schaffen, die also höchstens in Ansätzen lesen, schreiben und rechnen können, hat sich gegenüber 2011 teilweise verdoppelt – und liegt je nach Bereich bei fast einem Drittel. Nicht nur werden immer mehr Kinder abgehängt, gleichzeitig sank das durchschnittlich erreichte Niveau der Kompetenzen zwischen 2016 und 2021 massiv. Im Lesen um 22 auf 471 Punkte, beim Zuhören um 28 auf 456, bei der Rechtschreibung um 27 auf 473 und in Mathe um 21auf 462 Punkte. 30 Kompetenzpunkte entsprechen in etwa dem Fortschritt eines halben Schuljahrs.
Nach den Bundesergebnissen folgt
jetzt der Blick auf die einzelnen Länder
Etwas Entscheidendes aber fehlte doch bei der Vorstellung der Ergebnisse im Juli. Der Bildungstrend ist angelegt als Bundesländervergleich, die Ergebnisse der Länder werden einzeln gelistet. Doch wurde wegen der Corona-Pandemie ausnahmsweise die Veröffentlichung allein der Bundesergebnisse in den Sommer vorgezogen. Die Bildungsforscher hätten nicht bis Oktober warten wollen "wegen der Dringlichkeit der Frage, welcher Lernstand nach den pandemiebedingten Einschränkungen erreicht wurde", erklärte Stanat – und sie hätten deshalb den Ländern vorgeschlagen, "mit einem ersten Bericht und ersten groben Auswertungen so früh wie möglich herauszukommen".
Jetzt folgt also der Blick auf die einzelnen Länder. Trotzdem kann sein, dass in der Berichterstattung heute erneut die eigentlich schon bekannten bundesweiten Zahlen dominieren werden. Weil sie so alarmierend sind. Was wiederum der Ländervergleich noch einmal besonders drastisch highlighted.
Konkret: Es gibt nur ein einziges Bundesland in nur einem einzigen der vier Teilbereiche, in dem die Viertklässler leicht besser abschnitten als 2016. Bremen. In Mathematik. Um ganze fünf Punkte, von 418 auf 423, was statistisch nicht relevant ist. Zumal Bremen damit trotzdem deutschlandweit auf dem letzten Platz bleibt. Alle anderen 59 Ergebnisse der 15 Bundesländer (Mecklenburg-Vorpommern wurde, siehe unten, nicht gewertet) waren schlechter als 2016, die meisten signifikant schlechter. Das kann man nur als krass bezeichnen.
Wenn alle nach unten gehen, führt dies dazu, dass diejenigen, die vergleichsweise wenig abschmieren, nach oben schnellen. So geschehen mit Hamburg. Bringt man die Länder in eine Rangliste, was das IQB offiziell mit seinen Ergebnissen gar nicht tut, liegt die Hansestadt beim Lesen jetzt auf Platz 3. Vor fünf Jahren noch auf Platz 12. Der Aufstieg gelingt dank eines Rückgangs von "nur" acht Kompetenzpunkten. Ein ähnliches Bild in Rechtschreibung (von Platz 13 rauf auf Platz 8) und Mathematik (14 auf 8). Beim Zuhören hatte sich Hamburg schon letztes Mal auf Platz 5 nach vorn geschoben, da blieb es diesmal.
Verwegene Überschrift der
Hamburger Bildungsbehörde
Doch auch wenn Hamburg den Kompetenzstand seiner Viertklässler weitgehend hat halten können: Es ist schon verwegen, dass Bildungssenator Ties Rabe (SPD) die heutige Pressemitteilung seiner Behörde mit der Überschrift "Hamburg im Bundesvergleich erheblich verbessert" versehen ließ. Denn auch Hamburg hat in keinem einzigen Kompetenzbereich Punkte zugelegt. Das IQB schreibt: Lediglich in Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz hätten sich die Kompetenzen der Viertklässler in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Mathematik signifikant verändert – was heißt, sie sind (mit Ausnahme des einen Bremen-Zuwaches, siehe oben) nur vergleichsweise leicht gesunken.
Spannend übrigens auch, das nur nebenbei gesagt, dass Kultusminister gleich jeder Couleur die Bildungs-Bundesligatabellen normalerweise als unterkomplex ablehnen – es sei denn, ihr Land sieht gut dabei aus. Dann werden sie, wie im Hamburger Fall, ausgiebig zitiert.
Ansonsten bietet die Rangliste wenig Überraschendes. Bayern und Sachsen machen in den meisten Fällen die ersten beiden Plätze untereinander aus. Während Baden-Württemberg, vor einem Jahrzehnt noch durchgängig zur Spitzengruppe gehörig, beim Zuhören auf Platz 11 durchgereicht wurde und beim Lesen auf Platz 9. In Rechtschreibung (Platz 3) und Mathe (Platz 6) sind die Ergebnisse noch passabler. Baden-Württembergs frühere Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) war schon vor einigen Jahren dazu übergegangen, ihre Beamten zum Abgucken in die Nordländer zu schicken. Mit gutem Grund: Schleswig Holstein liegt mittlerweile beim Zuhören auf Platz 1 und beim Lesen auf Platz 3. Bei Rechtschreibung (runter von Platz 6 auf Platz 10) hat das nördlichste Bundesland allerdings auch Federn lassen müssen, ebenso bei Mathe (von 6 runter auf 9).
Seit es Ländervergleiche gibt,
hat Bremen die rote Laterne
Seit es überhaupt Bildungs-Ländervergleiche gibt, hatte Bremen, ebenfalls fast durchgängig, die rote Laterne. So auch diesmal. In drei von vier Kompetenzbereichen Platz 15. Wäre Mecklenburg-Vorpommern gewertet worden, wäre es wie üblich Platz 16 gewesen. Und in Rechtschreibung hat es nur deshalb diesmal für Platz 14 gereicht, weil das andere Bildungs-Dauerkrisenland Berlin exakt die gleiche – schwache – Punktzahl erreichte.
Apropos Mecklenburg-Vorpommern: Dass nur ein Fünftel der vorgesehenen Schulen am IQB-Bildungstrend teilnahm, liegt daran, dass nach den Osterferien 2021 die Schulen noch einmal geschlossen waren. Trotzdem: Gab es für das Land wirklich keine Möglichkeit, es den anderen 15 Ländern gleichzutun? Wie auch immer: Wegen der geringen Fallzahl wurde das Bundesland vom Vergleich ausgenommen, in die bundesweiten Zahlen flossen seine Ergebnisse immerhin ein.
Zurück zu den Stadtstaaten. Dass Bremen und Berlin traditionell so schlecht da stehen, macht die Leistung der Hamburger Schulpolitik umso erstaunlicher. Denn die soziale Zusammensetzung in der Hansestadt ist vergleichbar: viele arme und bildungsferne Familien, noch dazu sehr viele, in denen Deutsch nicht die erste Sprache ist. Was sich dieses Mal besonders kräftig auswirkte. Denn, wie IQB-Direktorin Stanat bereits im Juli berichtete: "Die Abhängigkeit des Lernerfolgs vom sozioökomischen Hintergrund der Familien hat sich verstärkt." Dieser Zusammenhang sei auch vor Corona schon ausgeprägt gewesen, zwischen 2011 und 2016 aber wenigstens nicht noch enger geworden. "Das war 2021 anders. Und auch Kinder aus Einwandererfamilien sind noch stärker zurückgefallen."
Was macht
Hamburg besser?
Was macht Hamburg besser? Vor allem dies: Senator Rabe, seit 2011 im Amt und inzwischen der dienstälteste Kultusminister, hat die Bildungspolitik in seinem Bundesland konsequent an Schulleistungsdaten und anderen messbaren Kennzahlen ausgerichtet. So dass schwächere Schüler gezielt gefördert werden könnten, wie Rabe sagt: "zum Beispiel durch kostenlose Nachhilfe, zusätzliche Lernferien, zusätzliche Sprachförderung und mehr Lehrkräfte, aber auch durch kostenlose Ganztagsangebote und Vorschulangebote." Und man setze "konsequent auf Leistung: mit mehr Klausuren in der Rechtschreibung, regelmäßigen Lernstandsuntersuchungen, Schulinspektionen und zentralen Abschlussprüfungen."
Gut getrommelt. Vieles davon machen andere Bundesländer freilich auch. Aber eben kaum eines geht dabei so konsequent vor wie Hamburg. Was insofern die gute Nachricht in all den schlechten des IQB-Bildungstrends 2021 ist: Eine in sich stimmige Bildungspolitik, die auf einem vernünftigen Bildungsmonitoring bemüht, zahlt sich aus.
An einer Stelle allerdings macht es sich auch Rabe zu einfach, wenn er meint, dass "ein großer Teil der Probleme sicher auf den einmaligen Corona-Effekt zurückzuführen ist". Genau vor dieser – verständlichen, da bequemen – Deutung warnen Bildungsforscher die Kultusminister seit Monaten. Im Juli sagte IQB-Direktorin Stanat: Der krasse Abwärtstrend bei den deutschlandweiten Schülerleistungen habe "etwas mit den pandemiebedingten Einschränkungen zu tun", vor allem mit den zeitweiligen Schulschließungen und der Umstellung auf Fern- und Wechselunterricht. Aber: Deutschlands Grundschulen hätten "auch unabhängig von Corona ein Leistungs- und Gerechtigkeitsproblem".
Und sie fügte hinzu: "Die durchgängige Sicherung dieses grundlegenden Kompetenzniveaus gelingt unserem Bildungssystem nicht." Das Ziel, dass zumindest basale Kompetenzen von allen Schülerinnen und Schülern beherrscht würden, werde seit vielen Jahren verfehlt. "Jetzt aber eben noch deutlicher, weil die Pandemie die Schieflage verschärft hat."
Warten auf den
bildungspolitischen Ruck
Spannender als die im Kern bereits bekannten Bildungstrend-Ergebnisse wird heute und in den nächsten Wochen sein, wie die Politik in Bund und Ländern auf sie reagiert Vorrangig mit der Corona-Begründung? Mit dem Hinweis darauf, dass der Anteil von Einwandererkindern sich zwischen 2011 und 2021 von 24,7 auf 38,3 Prozent erhöht hat? Dass sich die Fluchtwellen von 2015/16 erst so richtig auswirkten?
Alles richtig und doch am Kern vorbei: Das IQB hat errechnet, dass selbst wenn sich die Schülerschaft von ihren sozialen Merkmalen nicht verändert hätte in den vergangenen Jahren, sich die negativen Trends nur vereinzelt so stark verringern würden, "dass sie nicht mehr signifikant ausfallen. Demnach können die ungünstigen Entwicklungen in keinem Land durchgängig auf Veränderungen in der Zusammensetzung der Schüler:innenschaft zurückgeführt werden."
Noch wichtiger ist freilich das, was Petra Stanat ebenfalls schon im Juli sagte: "Alle Kinder sind unabhängig von ihrer Herkunft Teil unserer Gesellschaft. Wir haben die Kinder, die wir haben, und wir brauchen sie alle, denn sie werden unsere Zukunft gestalten. Wenn sie nicht ausreichend gefördert werden, ist das nicht ihnen zuzuschreiben, sondern unsere Verantwortung, es besser zu machen."
Darum muss die Politik nicht sagen, warum die Schülerleistungen ihres Erachtens zurückgehen und immer mehr Kinder abgehängt werden. Sondern was sie tun will, um sie wieder nach oben zu bekommen. Nein, das Programm "Aufholen nach Corona", das dann immer sofort angeführt wird von den Kultusministern, war und ist es nicht. Das haben ihm Bildungsforscher immer wieder und zuletzt sehr deutlich bescheinigt.
Das im Ampel-Koalitionsvertrag angekündigte "Startchancen"-Programm könnte es sein. Weil es mit einer Milliardenförderung genau bei den zehn Prozent Schulen in Deutschland ansetzen soll, die von den meisten benachteiligten Kindern besucht werden. Nur dass Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) das Programm inzwischen bis ins Jahr 2024 aufgeschoben hat. Offiziell, weil die konzeptionelle Vorbereitung und die Bund-Länder-Absprachen so lange bräuchten. Tatsächlich aber wohl eher, weil Finanzminister Christian Lindner (ebenfalls FDP) beim Geld auf der Bremse steht.
Selten haben die Ergebnisse eines bundesweiten Schulleistungstests so klar nach einem großen bildungspolitischen Ruck verlangt. Zumindest die Rhetorik sollten Bund und Länder dazu jetzt liefern.
Dieser Beitrag wurde am 17. Oktober um 9 Uhr veröffentlicht.
Erste Reaktionen
KMK-Präsidentin Karin Prien bezeichnete die IQB-Ergebnisse als "ernüchternd". Bis 2016 sei Deutschland zumindest in einzelnen Ländern auf einem guten Weg gewesen, die Bildungschancen der Viertklässler zu verbessern. "Jetzt aber sind wir deutlich zurückgefallen."
Als Gründe für die Entwicklung führte Prien, die im Hauptberuf CDU-Bildungsministerin von Schleswig-Holstein ist, zum einen die Corona-Pandemie an, "mit langen Schulschließungen, mit Wechselunterricht und Distanzlernen". Diese hätten sich negativ auf die Lernleistungen ausgewirkt. "Insbesondere Kinder aus sozial schwächeren Familien und/oder mit Migrationshintergrund waren betroffen." Zum anderen werde deutlich, "dass wir zu spät im Bildungsverlauf mit systematischer Diagnostik und differenzierter Förderung beginnen. Wir investieren in Deutschland zu wenig in den Elementarbereich." Bereits in der Kita müssten Erwerb und Förderung von Deutsch als Bildungssprache und "Vorläuferfähigkeiten" im Bereich Mathematik in den Blick genommen werden.
Zudem verwies Prien darauf, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit 2016 "deutlich verändert" habe. "Wir werden uns als KMK überlegen müssen, wie wir wieder mehr Bildungsgerechtigkeit herstellen können." Sie hoffe in der Hinsicht auch auf das für Dezember angekündigte Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) zur Grundschule.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark Watzinger (FDP) sagte, die Ergebnisse müssten "uns aufrütteln". Die pandemiebedingten Schulschließungen hätten deutliche Spuren hinterlassen, flächendeckende Schulschließungen dürfe es deshalb nicht mehr geben. "Gleichzeitig ist festzustellen: Die Kompetenzen sinken nicht erst seit der Pandemie, sondern in Deutsch und Mathematik bereits seit 2011." Der IQB-Bildungstrend 2021 komme zu dem Schluss, dass kurzfristige Maßnahmen nicht ausreichen würden. Vielmehr seien abgestimmte Maßnahmen erforderlich, die langfristig angelegt sind und durch Monitoring und Evaluation begleitet würden. "Mit dem Startchancen-Programm wollen wir diesen großen Hebel ansetzen. Ziel sind bis zu 4000 Schulen mit Modellcharakter, die dort unterstützen, wo die Herausforderungen am größten sind. Damit wollen wir nicht weniger als eine systemische Veränderung im Bildungswesen erreichen." Denn die Kompetenzverluste zeigten sich zwar im Schnitt bei allen Kindern. Allerdings seien Kinder mit Zuwanderungshintergrund und in sozial herausfordernder Lage besonders stark betroffen. "Deshalb müssen wir das Aufstiegsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft durch das Startchancen-Programm mit neuem Leben füllen."
Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, der die Bildungspolitik der Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung koordiniert, sprach ebenfalls von den "tiefen Spuren", die die monatelangen Schulschließungen hinterlassen hätten. "Es war deshalb richtig, dass sich die Kultusministerkonferenz gegen erhebliche Widerstände immer wieder für offene Schulen eingesetzt hat." Gleichzeitig zeige der IQB-Bildungstrend aber, dass auch ohne Corona die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zurückgingen.. "Wir haben offensichtlich noch nicht die richtigen Antworten auf die wachsende Zahl von Schülerinnen und Schüler gefunden, die zu Hause weniger Rückenwind bekommen und einen weiteren Weg zum Bildungserfolg haben. Deshalb brauchen wir jetzt eine Diskussion über eine wirksamere Pädagogik, die größere Bildungserfolge bei den Kernkompetenzen erzielt."
Der IQB-Bildungstrend gebe erste Hinweise, "dass eine Trendumkehr mühsam, aber möglich ist", fügte Rabe hinzu und verwies auf die Entwicklung in seinem Bundesland.
Baden-Württembergs grüne Bildungsministerin Teresa Schopper sagte, zu viele Schüler erreichten die Mindeststandards bei den Basiskompetenzen nicht, das sei das Kernergebnis des IQB-Bildungstrends. Dass insbesondere Kinder aus sozial weniger privilegierten Familien oder mit einem Zuwanderungshintergrund schlechter abschnitten, zeige, "dass wir noch großen Nachholbedarf bei der Bildungsgerechtigkeit haben." Verbesserungen wurden nur "über qualitätsvolle, wissenschaftlich fundierte Programme zur Stärkung der Basiskompetenzen gelingen."
Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Oliver Kaczmarek, nannte die Ergebnisse des Bildungstrends "alarmierend". Umso wichtiger sei, "zeitnah die Grundlagen für das im Koalitionsvertrag vereinbarte Startchancen-Programm zu schaffen". Für die SPD-Bundestagsfraktion sei klar: "Das Programm soll an die Schulen mit dem größten Bedarf gehen. Davon profitieren 4.000 Schulen in sozial benachteiligten Lagen mit zusätzlichem Geld vor allem für Infrastruktur und Schulsozialarbeit."
Die Unionsfraktion im Bundestag kritisierte Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger. Die Grundschüler drohten nach Pandemie zur "Generation Bildungsverlierer" zu werden, schrieb Thomas Jarzombek, der bildungspolitische Sprecher von CDU/CSU, auf Twitter. Die IQB-Ergebnisse seien verheerend und verlangten nach maximalen Anstrengungen. "Die Streichung des Programms "Aufholen nach Corona" sei ein "Riesenfehler des BMBF", das hier "völlig überfordert" sei.
Die dramatischen Ergebnisse müssten der „letzte Weckruf sein, endlich das Kooperationsverbot aufzuheben“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Nicole Gohlke. „Wir können doch nicht Jahr für Jahr den Lehrkräftemangel beklagen, ohne substanziell etwas zu verändern. Offensichtlich wird die Situation nicht besser. Nein, sie wird sogar immer schlechter.“ Der Bund müsse sozial gerecht mitfinanzieren. „Dazu brauchen wir dringend einen bundesweiten Sozialindex.“
Die Bildungspolitik bekomme attestiert, dass fast alle Qualitätssteigerungen nach dem PISA-Schock 2000 wieder verloren gegangen seien, sagte unterdessen der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Und ein Ende des Leistungseinbruchs sei überhaupt nicht abzusehen. „Es ist höchste Zeit, die Phase der Schönfärberei zu beenden und eine schonungslose Bestandsaufnahme zu machen, als Voraussetzung für effektive Gegensteuerungsmaßnahmen.“ Wer den Leistungsabfall vorrangig auf Corona schiebe, greife „viel zu kurz, wir bekommen heute die Quittung für eine jahrelange verfehlte Schulpolitik in vielen Ländern, die sich in Nebenkriegsschauplätzen und einer Vielzahl von Modellversuchen und Sonderprogrammen verzettelt hat, anstatt den Schwerpunkt des Unterrichts an der Grundschule auf den umfassenden Erwerber der zivilisatorischen Grundkompetenzen Lesen, Rechnen und Schreiben zu legen.“
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) betonte, dass vor allem in Berlin, Brandenburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen viele Grundschüler nicht einmal die Mindestanforderungen im Lesen und in Mathematik erreichten. "Diese Schülerinnen und Schüler werden das, was sie als Grundschüler nicht gelernt haben, nur schwer in den weiterführenden Schulen aufholen können", sagte die DPhV-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing. "Wir brauchen deshalb eine deutlich stärkere Lernerfolgsorientierung, wenn Deutschland sein Bildungsniveau annähernd halten will." Es sei insofern auch zu wenig, dass sich die Kultusminister für die neuen Bildungsstandards "Deutsch für die Grundschule" gerade einmal auf eine "lesbare Handschrift" und "eine in den Kernbereichen" korrekte Orthographie geeinigt hätten. Dies spiegele nur den Minimalkonsens der Länder wider, aber "keine ambitionierten Ziele für ein besseres Leistungsniveau der Grundschülerinnen und -schüler in den Kernfächern Deutsch und Mathematik bundesweit".
Der Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, Michael Becker-Mrotzek, sagte, für den schulischen Erfolg sei die sprachliche Bildung entscheidend. "Denn nur wer Lesen, Schreiben und Zuhören kann, ist in der Lage, Inhalte zu verstehen und zu lernen." Mit Einzelprojekten und Adhoc-Maßnahmen alleine komme die Schulpolitik nicht weiter. "Das Bildungssystem benötigt eine Gesamtstrategie, mit der sich der Anteil der sehr schwachen Schülerinnen und Schüler merklich verringern lässt und sich die Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen verbessern. Daran müssen Bund und Länder nun gemeinsam arbeiten." Hier könnten bereits existierende Initiativen, "wie etwa der Transfer von Sprachbildung, Lese- und Schreibförderung (BiSS-Transfer) und Schule macht stark (SchuMaS)", hilfreich sein, aber es ließen sich auch zukünftige Vorhaben, wie das Startchancen-Programm, einbeziehen. "Zentrale Aufgabe der nächsten Zeit wird daher sein, zu schauen, wie diese Programme sinnvoll aufeinander bezogen werden können."
Der ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann sagte, die starken Rückstände seien "beunruhigend. Denn die in der Schule vermittelten grundlegenden Fähigkeiten sind die Basis der zukünftigen Lebenschancen der Kinder und des zukünftigen Wohlstands in Deutschland insgesamt." Einen solchen Rückgang wie jetzt habe es noch nie gegeben. Der Lernverlust von einem Drittel Schuljahr gehe über das gesamte Berufsleben gerechnet im Durchschnitt mit einem rund drei Prozent geringerem Erwerbseinkommen einher. Für die Volkswirtschaft insgesamt könnte das zu einem um durchschnittlich 1,5 Prozent niedrigeren Bruttoinlandsprodukt über den Rest des Jahrhunderts führen. "Diese riesigen Lernrückstände werden nicht einfach weggehen. Sie werden hohe Folgekosten haben, wenn wir nicht umgehend gegensteuern." Der Schulbesuch und der Erwerb von Kompetenzen hätten einen positiven Einfluss auf den Wohlstand der Schüler und der Gesellschaft. Dieser Zusammenhang sei von der Wirtschaftsforschung so gut belegt "wie kaum etwas anderes".
Die Sprecher des Nationalen MINT Forums, Edith Wolf und Ekkehard Winter, kommentierten, die Politik sei jetzt gefordert, "schnelle und kreative Lösungsansätze für eine massive Transformation im Bildungssystem zu finden, damit jedes Kind nach der vierten Klasse anschlussfähig weiterlernen kann". Dabei sollten unbedingt die vielen positiven Beispiele, die es in verschiedenen Bundesländern gebe, herangezogen werden. Ein besonderes Potenzial liege in der strukturellen Einbindung außerschulischer Akteure.
Die Reaktionen auf die IQB-Ergebnisse wurden am 17. Oktober bis um 18 Uhr nach und nach ergänzt.
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Nikolaus Bourdos (Montag, 17 Oktober 2022 10:02)
"Bereits in der Kita müssten Erwerb und Förderung von Deutsch als Bildungssprache und 'Vorläuferfähigkeiten' im Bereich Mathematik in den Blick genommen werden."
Ganz meine Meinung, Frau Prien. Da machen uns die viel gepriesenen skandinavischen Länder einiges vor. Der von Frau Prien erwähnte Elementarbereich wird krass vernachlässigt, Kitas dienen viel zu oft nur der Aufbewahrung von Kindern, während die Eltern arbeiten gehen. Da veegeben wir enorme Bildungschancen.
Lehrerkind (Dienstag, 18 Oktober 2022 12:52)
Das wundert nicht wirklich, bei dem kaputtgesparten, durch föderale Streitigkeiten (Bund - Länder - Kommunen) komplett zerfetzten Bildungs"system" in Deutschland. Niemand sieht sich in der Pflicht, niemand will Verantwortung übernehmen, niemand möchte Kosten tragen. Es ist ein Trauerspiel. Wer es sich leisten kann, gibt seine Kinder in private Schulen.