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Der Wettbewerb, dem sich die Hochschulen jetzt stellen müssen

Die bundesweiten Studierendenzahlen werden in diesem Winter voraussichtlich sinken. Zum ersten Mal seit 15 Jahren. Eine Trendwende, die sich im Hintergrund seit langem abzeichnete und viele Hochschulen trotzdem überraschend heftig trifft.

Bild: Gerd Altmann / pixabay.

JEDES JAHR ENDE NOVEMBER, Anfang Dezember meldet das Statistische Bundesamt die neuen Studierendenzahlen zum gerade begonnenen Wintersemester. Noch vorläufig, beruhend auf den sogenannten Schnellmeldungen der Hochschulen an die Statistischen Landesämter, und doch handelt es sich um einen verlässlichen und vielbeachteten Trendanzeiger. 

 

Dieses Jahr dürften die "Schnellmeldungsergebnisse der Hochschulstatistik" noch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit erhalten. Denn es zeichnet sich etwas ab, das es seit anderthalb Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat: Die Gesamtzahl der Studierenden in Deutschland wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückgehen. Und das deutlich. Ein Wendepunkt für die Hochschulen, der sich seit Jahren andeutete, wird damit Realität.

 

Denn wer die Studienanfänger-Zahlen der vergangenen Jahre beobachtet hat, dürfte nicht überrascht sein. Sie sinken schon seit 2018. Allerdings bislang nur recht sachte: Gegenüber ihrem letzten Höhepunkt 2017 (rund 513.200) ging es bis 2021 auf etwa 472.400 runter. Also halb so wild, gar nicht so viel?

 

Nicht wirklich. Tatsächlich beschleunigte sich der Rückgang zuletzt bereits: Allein zwischen 2020 und 2021 verringerte sich die Zahl der Erstsemester um 18.000. Und das Minus wäre noch spürbar größer gewesen, hätte nicht eine andere Entwicklung die Statistik überlagert: War 2020 die Zahl der Studienanfänger mit ausländischem Pass wegen der Corona-Pandemie massiv um 25.000 eingebrochen, wurden 2021 schon wieder 16.200 mehr gezählt.

 

Neun Prozent weniger Studienanfänger
mit deutschem Pass innerhalb eines Jahres

 

Betrachtet man dagegen allein die Studierenden mit deutscher Nationalität, so betrug ihr Rückgang im vergangenen Jahr 34.200, fast neun Prozent. Das ist enorm. Das Statistische Bundesamt kommentiert: Parallel zur rückläufigen Zahl der Studienanfänger habe sich in Deutschland die Zahl der 17- bis 22-Jährigen verringert.

 

Die Gesamtzahl der Studierenden folgt dem Trend bei den Erstsemesterzahlen logischerweise mit einigen Jahren verzögert – in etwa um so viele Jahre, wie ein durchschnittliches Studium dauert. Mit der Folge, dass die Statistiker 2021 bereits eine Stagnation verzeichneten: 2.946.100 Studierende an deutschen Hochschulen –nach 2.944.100 im Jahr 2020.

 

Und auch diese Gesamtzahl war wegen Corona vermutlich noch nach oben verzerrt, denn viele Studierende blieben unter anderem wegen ausgefallener Lehrveranstaltungen und Prüfungen länger eingeschrieben als normalerweise. Ein Sondereffekt, der 2022 ebenfalls eine weitaus geringere Rolle gespielt haben dürfte. Im Gegenteil: Dieses Jahr könnten von denen, die noch an den Hochschulen geblieben waren, viele gegangen sein.

 

Massiv weniger deutsche Studienanfänger, eine viel geringere Kompensation durch mehr internationale Studierende, dazu weniger pandemiebedingte Studienzeitverlängerer – die Schlussfolgerung ist eindeutig, und sie bestätigt sich in Gesprächen mit Rektoren überall im Land. Die sagen: Ja, wir merken das Minus. Und das nicht zu knapp.

 

Allerdings sagen die meisten es nur hinter vorgehaltener Hand, denn dass man ins Lager der schrumpfenden Hochschulstandorte überwechselt, will keiner gern laut vermelden.

 

Die einen schrumpfen, die anderen
schotten sich weiter mit NCs ab 

 

Erst recht wenn es gleichzeitig immer noch viele Institutionen oder zumindest Fachbereiche gibt, die keine vergleichbaren Nöte haben: Aktuell sind laut Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) 39,7 Prozent aller Studienangebote bundesweit mit einem Numerus Clausus belegt, zwar elf Prozentpunkte weniger als 2013, aber immer noch viel. Und mit einer enormen Spreizung zwischen den Bundesländern: 64,8 Prozent in Hamburg, 20,7 Prozent in Thüringen. 


Dabei hatte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) bereits 2019 eine Studie mit einem Ergebnis vorgelegt, das damals viele überraschte: Während das Statistische Bundesamt noch wie jedes Jahr Rekordzahlen bei den Studierenden verkündete, gab es bereits Dutzende Standorte bundesweit, die am Aufwärtstrend nicht mehr teilnahmen.

 

Konkret: Unter den untersuchten 263 Hochschulstandorten bundesweit befanden sich 41, die 2017 mindestens fünf Prozent weniger Studierende mit deutschem Pass immatrikuliert hatten als 2012. Viele kleine und mittelgroße Fachhochschulen waren darunter, aber auch zwölf größere Universitäten.

 

Viele Hochschulen im Westen konnten sich allerdings noch einreden, dass es sich vor allem um ein Problem von anderen handelte. Denn 28 der 41 schrumpfenden Standorte lagen in Ostdeutschland, allein acht in Sachsen. Jetzt geraten aber auch viele West-Hochschulen in die Demographie-Falle – die kurzfristig noch dadurch verstärkt wird, dass viele westdeutsche Bundesländer die Gymnasialzeit wieder um ein Jahr verlängert haben. Womit früher oder später ein Abijahrgang teilweise ausfällt.

 

2019  lautete einer der Haupt-Ratschläge der SVR-Studienautoren,  künftig verstärkt internationale Studierende anzuwerben. Und sie lobten, dass über die Hälfte der schrumpfenden Standorte dies bereits sehr aktiv tue, zum Beispiel indem sie Studieninteressierte in Sprachschulen, in ausländischen Partnerschulen und -hochschulen oder im Internet gezielt ansprächen.

 

Die internationalen Studierenden
allein werden es nicht richten

 

Doch das war vor Corona. Und vor den internationalen Krisen der Gegenwart, die viele daran zweifeln lassen, dass die internationale Studierendenmobilität bald wieder zu ihrer alten Dynamik zurückfinden wird.

 

Wie groß die tatsächlich war, zeigt ein weiterer Blick in die deutsche Studierendenstatistik. 2007 betrug der Anteil von Studierenden mit ausländischem Pass an den insgesamt rund 361.500 Studienanfänger noch 17,7 Prozent. 2019, im letzten Vor-Corona-Jahr, stellten sie 24,7 Prozent der rund 508.500 Erstsemester. Absolut betrachtet verdoppelte sich die Gruppe der Studienanfänger ohne deutschen Pass im selben Zeitraum sogar: von 64.000 auf 125.400. Wobei man diese Zahlen mit etwas Vorsicht genießen muss, denn das Statistische Bundesamt unterscheidet an dieser Stelle eben nur nach dem Pass – und nicht nach der Frage, ob die "ausländischen Studierenden" im Ausland oder in Deutschland ihre Hochschulreife erworben haben.

 

Klar ist aber: Die Strategie, allein auf mehr internationale Studienanfänger zu setzen, wird künftig nicht mehr funktionieren. Was aber dann? Eigentlich bleiben den Hochschulen nur zwei Möglichkeiten.

 

Erstens: Sie lassen sich auf ihr Schrumpfen ein, begreifen es vielleicht sogar als Chance nach Jahren der Überfüllung. Ein indes unwahrscheinliches Szenario: Denn ihre Finanzierung und die Zahl ihrer Stellen hängt zu einem entscheidenden Teil genau daran: dass sie nicht spürbar kleiner werden. 

 

Zweitens: Sie verändern sich. Indem sie ihr Studiengangs-Portfolio modernisieren und die – didaktisch sinnvolle – Digitalisierung in der Lehre weiter ehrgeizig vorantreiben. Indem sie mehr Betreuung und Beratung anbieten, um die Studierenden nicht nur ins Studium zu bringen, sondern auch dort zu halten (was sich leider bislang kaum lohnte, weil vor allem Studienanfänger zählten). Vor allem aber, indem sie etwas tun, was sie schon längst hätten tun sollen – und die Struktur ihrer Studiengänge, was Bildungsforscher seit vielen Jahren fordern, endlich am echten Leben ausrichten.

 

Es gibt noch viele Menschen, die gern studieren
würden, es aber nicht tun (können)

 

Die übergroße Mehrheit der potenziellen Studierenden muss heute für ihren Lebensunterhalt jobben, viele leben in Partnerschaft, manche haben Kinder zu versorgen oder Eltern zu pflegen. Währenddessen finden viele  ältere Berufstätige, alles Gerede über "lebensbegleitendes Lernen" hin oder her, gar nicht erst den Weg zurück an die Hochschulen. Und wer schon als junger Mensch eine Firma gründen will, kann das parallele Weiterstudieren auch meist vergessen. 

 

Mit anderen Worten: Es gibt noch viele Menschen, die sich Hochschulbildung wünschen, sie aber nicht wahrnehmen können. Zumindest nicht an staatlichen Hochschulen. Auch das zeigte gerade erst wieder eine Auswertung des CHE: An privaten Hochschulen studieren 37 Prozent in Teilzeit. An staatlichen dagegen gerade mal vier Prozent. Warum? Die Antwort scheint klar. Weil viele staatliche Hochschulen es bislang nicht nötig hatten, sich umzuorientieren. 

 

Zwar haben sie laut CHE für mehr als jeden sechsten Vollzeit-Studiengang eine Teilzeitoption im Angebot, doch sind viele davon weder lebensnah gestaltet noch unbürokratisch zu beantragen. Weil die staatlichen Hochschulen ihre Hörsäle bislang vielfach schon mit den vermeintlichen Norm-Studierenden vollbekamen. Hinzu kommt, wofür die Hochschulen nichts können, die bislang fehlende BAföG-Berechtigung für Teilzeit-Studiengänge.

 

Führt der Wettbewerb um die weniger werdenden Studierenden nun zu einem Umdenken an den staatlichen Hochschulen? Es wäre zu hoffen. Zumal dieser Flexibilisierungs-Wettbewerb kein Nullsummenspiel wäre, denn er würde ja insgesamt wieder in mehr Studierenden resultieren. Von denen unter den jetzigen Bedingungen viele nie studieren oder irgendwann frustriert abbrechen würden.

 

Das Gute ist: An vielen Hochschulen laufen derlei Überlegungen längst. Wie schwierig ihre Umsetzung wird angesichts real oder – je nach Bundesland– sogar nominal sinkender Hochschuletats, ist auch klar. Nur, das werden die "Schnellmeldungsergebnisse" unmissverständlich deutlich machen: Es hilft allein die Flucht nach vorn.


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Kommentare: 4
  • #1

    Mai (Freitag, 28 Oktober 2022 11:34)

    Den Wissenschaftspolitikern waren diese Entwicklungen längst klar und haben die zu erwartenden sinkenden Studentenzahlen zB beim Bau von Studentenwohnheim oder Hörsälen eingepreist. Die Überlast galt als große Ausnahme. Jetzt kehrt man endlich zu normalen Verhältnissen zurück. Und das ist gut so.

  • #2

    Fumarius (Samstag, 29 Oktober 2022 08:21)

    Allerdings ist auch der "umgekehrte " G8-Effekt zu beachten: Durch die Rückkehr zu G9 in vielen Bundesländern gibt es einen "ausfallenden" Abiturjahrgang - ein Teil des Rückgang könnte in diesem Sinne nur temporär sein.

  • #3

    Naja (Samstag, 29 Oktober 2022 11:26)

    Im Text heisst es: "Und auch diese Gesamtzahl war wegen Corona vermutlich noch nach oben verzerrt, denn viele Studierende blieben unter anderem wegen ausgefallener Lehrveranstaltungen und Prüfungen länger eingeschrieben als normalerweise."

    Der Satzteil "wegen ... " ist eine stark verzerrte Sicht auf die Dinge. An den Universitäten gibt es Pruefungsordnungen, die absichern, dass Prüfungen im notwendigen Umfang stattfinden MÜSSEN und diese rechtlichen(!) Regelungen waren natürlich auch während Corona in Kraft. Ebenso sorgen Prüfungsordnungen dafür, dass die für ein in der Studienhöchstdauer erfolgreiches Absolvieren notwendigen Lehrveranstaltungen stattfinden MÜSSEN. An der Universität, an der ich lehre, haben alle Veranstaltungen und Prüfungen wie üblich stattgefunden, nur in geänderten Formaten. Ein wesentlicher Faktor für Studienzeitverlängerungen durch Corona war vor allem die ministeriell angeordnete Aussetzung von zeitlichen Fristen zur Studienhöchstdauer und die Nichtwertung von nichtbestandenen Prüfungen im Coronazeitraum über einen Zeitraum von bis zu 3 Semestern. Beides ist von den Studenten reichlich genutzt worden.

  • #4

    Ralf Tegtmeyer (Donnerstag, 03 November 2022 21:49)

    Die Covid-19-Effekte, i.e. "Emergency Semester" und folgender "Enthaltsamkeit" von potentiellen Studienanfänger:innen sind natürlich zu berücksichtigen. Aber das Thema ist in der Tat bei vielen Hochschulen aktuell. Kolleg:innen heben übrigens gerade eine kurze Auswertung vorgelegt:
    https://medien.his-he.de/publikationen/detail/expansion-oder-stagnation-im-hochschulbereich