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"Und ob wir hungrig sind!"

Der neue Max-Planck-Präsident Patrick Cramer über
Nachholbedarf bei der Postdoc-Förderung, Deutschlands Standortschwächen, die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft
– und notwendige Veränderungen aus eigener Kraft.

Patrick Cramer ist Biochemiker und Molekularbiologe und seit 22. Juni 2023 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Fotos: Christoph Mukherjeee/MPG.

Herr Cramer, können Sie in wenigen Sätzen beschreiben, was für Sie die Mission der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ausmacht? 

 

Die MPG betreibt Grundlagenforschung auf international höchstem Niveau und steht dazu mit der ganzen Welt in Kontakt. Sie rekrutiert von überall her die besten Talente, vor allem gibt sie den Forschenden die größtmögliche Freiheit und finanzielle Sicherheit, damit sie auch riskante Forschungsprojekte über einen langen Zeitraum durchführen und so bahnbrechende Ergebnisse erzielen können. 

 

Ich behaupte, das hätte schon Adolf Harnack so ähnlich formuliert, und der war der erste Präsident des MPG-Vorläufers Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vor mehr als 100 Jahren. 

 

Ja, das ist ein altes Credo, dass herausragende Forscherpersönlichkeiten der Dreh- und Angelpunkt unseres Erfolgs sind, dass wir Personen fördern und deren Ideen – und nicht Forschungsprogramme. Aber natürlich ist im Laufe der Jahrzehnte vieles dazugekommen, und noch mehr haben wir jetzt vor. Lassen sie mich mit einer Sache anfangen, die mir persönlich wichtig ist: Wir wollen uns als Forschungsgesellschaft weiter öffnen. Dazu gehört, unsere Karrierewege zu reformieren, wir wollen unsere jungen Forscher noch besser fördern, ihnen neue Optionen und Perspektiven ermöglichen. 

 

Das hört sich natürlich erstmal gut an mitten in der Debatte um die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Aber was heißt das konkret? 

 

Wir werden ein interdisziplinäres Postdoc-Programm etablieren, um die Phase zwischen der Promotion und dem Eintritt in die unabhängige Forschung zu füllen. Wir wollen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Wir wollen unsere Forschungsnetzwerke und Standorte weiterentwickeln, wir wollen die Digitalisierung vorantreiben und als Forschungsgesellschaft unsere Verantwortung für eine demokratische Gesellschaft wahrnehmen. Dazu gehört, über unser bisheriges Verständnis von Wissenschaftskommunikation hinauszugehen. Wir haben sehr viele Expertinnen und Experten in unseren Reihen, die wir ermutigen wollen, zu aktuellen und gesellschaftspolitisch relevanten Themen ihre Stimme zu erheben. Und wir wollen zeigen, dass bei uns alle willkommen sind: alle Nationalitäten, alle Geschlechter – alle, die zu unseren Zielen beitragen wollen und unsere Werte teilen.


Patrick Cramer, Jahrgang 1969, studierte in Stuttgart und Heidelberg, er war Doktorand am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Grenoble und Postdoc an der Stanford University. 2001 erhielt er eine Tenure-Track-Professur für Biochemie an der LMU München. Zwischen 2004 und 2013 leitete er als das LMU-Genzentrum, bevor er 2014 als Direktor der Abteilung "Molekularbiologie" am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen startete. Von 2022 an fungierte er als geschäftsführender Direktor des neu gegründeten MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften. Im Juni 2022 wurde er zum Präsidenten der MPG und Nachfolger von Martin Stratmann gewählt. 


Wenn Sie junge Forscher möglichst früh in die unabhängige Forschung begleiten wollen, wenn sie sich explizit neue Optionen und Perspektiven für Postdocs auf die Fahnen schreiben – verabschieden sie sich damit nicht endgültig von genau jenem Grundprinzip der Max-Planck-Gesellschaft, das Sie am Anfang beschrieben haben und das den Namen Harnacks trägt? Die Institute wurden traditionell um die von Ihnen erwähnten herausragenden Forschungspersönlichkeiten gebaut, damit die sich als Direktoren voll ausleben konnten – die maximale Freiheit, aber die maximale Freiheit nur für die Chefs.

 

Das kommt darauf an, wie Sie das Harnack-Prinzip definieren. Von der Ausgangslage vor dem Zweiten Weltkrieg, als ein Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft von einem Direktor – und ich benutze bewusst nur die männliche Form – geleitet wurde, haben wir uns inzwischen weit entfernt. Seit Jahrzehnten gibt es Direktorien oder Kollegien an der Spitze der Institute, und fast ebenso lange gibt es Nachwuchsgruppenleitungen, die ebenfalls unabhängig agieren können. 


Wenn Sie die Postdocs in Max-Planck-Instituten fragen, werden viele davon auch heute noch sagen, dass sie abhängen vom Willen und Goodwill der Direktoren.

 

Ich glaube, diese Einschätzung stimmt in der Regel so nicht, und man muss unterscheiden. Wenn jemand eine Promotion anstrebt, geht es gar nicht anders, dann braucht es einen Mentor oder eine Mentorin, mit der er oder sie das Promotionsprojekt erarbeitet. Da braucht es Betreuung, das ist ein Beginn in Abhängigkeit, aber dann schwimmen sich die jungen Leute zunehmend frei. Genau das habe ich auf meiner Tour gesehen und gehört. Ich habe in den vergangenen Wochen alle 84 Max-Planck-Institute bereist, ich habe mit sehr vielen Doktoranden und Postdocs in separaten Runden gesprochen, und überall haben die jungen Leute eigentlich dasselbe gesagt: dass sie unter dem Strich überwiegend sehr zufrieden sind mit ihrer Arbeitssituation, mit den Entfaltungsmöglichkeiten, die sie haben. Natürlich gibt es arbeitsrechtlich betrachtet immer jemanden, der ihnen gegenüber weisungsbefugt ist. Doch ist die Kultur an den allermeisten Instituten inzwischen so, dass die jungen Leute sich in einer recht großen Freiheit entfalten können und trotzdem natürlich zu gemeinschaftlichen Forschungszwecken beitragen. 

 

"Meine wichtigste Botschaft lautet:
Ich nehme diese Ergebnisse ernst."

 

Dass die die große Mehrheit, 83 Prozent, der Postdocs angeben, zumindest einigermaßen glücklich zu sein, gehörte auch zu den Ergebnissen einer neuen Umfrage von PostdocNet, der Interessenvertretung der Postdoktorandinnen und -doktoranden der MPG. Gleichzeitig berichtete aber auch mehr als die Hälfte der befragten Postdocs, leichte depressive Symptome zu haben, kaum weniger klagten über leichte Angstzustände, und mehr als ein Fünftel zeigten laut Umfrage Anzeichen einer mittelschweren bis schweren klinischen Depression. Wie passt das zusammen?

 

Als die Studie herauskam, war ich zwar noch nicht MPG-Präsident, aber ich habe trotzdem gleich die Vertreter unseres PostdocNet angeschrieben und sie bei meinen Institutsbesuchen getroffen. Wir haben vereinbart, dass wir uns, sobald ich im Amt bin und die Sommerpause vorbei ist, zusammensetzen und noch einmal in Ruhe über die Ergebnisse sprechen – und über das, was wir tun können, um die Situation weiter zu verbessern. Meine wichtigste Botschaft lautet: Ich nehme diese Ergebnisse ernst, wobei ich nicht weiß, wie groß das Problem tatsächlich ist, da nur jeder vierte Postdoc in der MPG an der Umfrage teilgenommen hat. 

 

Was bedeutet das?

 

Ich will mit dem Positiven anfangen. 76 Prozent der Befragten können sich vorstellen oder haben fest vor, in der Wissenschaft zu bleiben. Das ist ein erstaunlich hoher Wert, den Sie anderswo sicher nicht so finden würden. Das heißt: Wer als Postdoc zu uns in die MPG kommt, will Wissenschaft, und das auf Dauer. Das ist doch großartig, und das verpflichtet uns, mit diesen hochmotivierten Talenten sorgsam umzugehen. Wir müssen ihnen Karrierewege innerhalb und außerhalb der MPG aufzeigen, und zwar weit über die Option einer Professur hinaus. 

 

Wenn ich Sie richtig verstehe, entstehen die Depressionen und die Ängste dann dadurch, dass die hochfliegenden Pläne vieler Postdocs irgendwann auf die real existierende MPG-Wirklichkeit treffen? 

 

Nein, das sage ich nicht. Bevor ich MPG-Präsident wurde, habe ich ein sehr großes Institut in Göttingen geleitet mit rund 1000 Mitarbeitenden, und bei einer solchen Zahl gibt es immer einzelne Menschen, die medizinische Hilfe brauchen – nach persönlichen Schicksalsschlägen, nach Todesfällen in der Familie zum Beispiel. Und dann kam in den vergangenen Jahren die Corona-Pandemie hinzu. Ich muss gerade an eine Doktorandin denken, die aus ihrem Heimatland in den Tropen zu uns wechselte, mitten in den kalten, grauen Göttinger Winter hinein, und dann begann der Lockdown. Sie musste wie alle in ihrem Zimmer sitzen ohne Austausch mit anderen Menschen. Die PostdocNet-Umfrage reflektiert also möglicherweise ein Stückweit auch diese Vereinsamung, die gerade junge Menschen in dieser Zeit erlebt haben – kombiniert mit einer Zukunftsangst, die ich ganz grundsätzlich in der Generation beobachte angesichts von Klimakrise und einer veränderten internationalen Sicherheitslage. Insofern ist die seelische Lage vieler Doktoranden ein Spiegelbild dessen, was wir auch anderswo in der Gesellschaft sehen. 

 

"Mein Ziel ist, dass von den Direktorinnen und Direktoren bis hin zu den Gruppenleitern alle, die Personalverantwortung tragen, sensibilisiert und achtsam sind."

 

Das klingt jetzt aber schon so, als würden Sie die Verantwortung der MPG für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter herunterspielen.

 

Keineswegs! Aber diese Probleme sind ja auch in anderen Umfragen in den vergangenen Jahren zutage getreten. Haben wir schon gehandelt? Die Antwort ist: ja. In unserem Intranet, zu der alle Menschen mit einer MPG-Mailadresse Zugang haben, gibt es eine komplette und meines Erachtens sehr gut gemachte Seite zur körperlichen und seelischen Gesundheit. Ein sehr niedrigschwelliges Angebot bis hin zu einer Notfallnummer, die rund um die Uhr erreichbar ist, wenn man sich mal richtig schlecht fühlt. Dieses Element der Fürsorgepflicht gegenüber unseren Mitarbeitenden will ich weiter stärken. Mein Ziel ist, dass von den Direktorinnen und Direktoren bis hin zu den Gruppenleitern alle, die Personalverantwortung tragen, sensibilisiert und achtsam sind, dass sie Mitarbeiter, die Auffälligkeiten und Anzeichen einer Erkrankung zeigen, ansprechen und auf Hilfsangebote hinweisen. 

 

Nur dass mitunter die Vorgesetzten genau das Problem und die Ursache von seelischen Problemen sein können. In den vergangenen Jahren sind mehrfach Fälle von mutmaßlichem Machtmissbrauch und Mobbing in der MPG an die Oberfläche gekommen.  

 

Erstens: Wir müssen unsere jungen Leute gut behandeln. Zweitens: Dass das ganz überwiegend geschieht, habe ich auf meiner Reise gesehen. Wenn wir die MPG als Ganzes nehmen, haben wir über 24.000 Mitarbeitende und darunter mehr als 1000 Führungskräfte. Dass es einzelne Vorgesetzte gibt, die sich nicht korrekt verhalten, die ihre Macht missbrauchen, das wird sich leider nie ganz verhindern lassen. Aber ich halte es für unzulässig, aus wenigen Einzelfällen Rückschlüsse auf die Allgemeinheit zu ziehen. 



Sie sollten aber Rückschlüsse ziehen, indem Sie die Strukturen in der MPG anpassen.

 

Unsere Strukturen müssen wir immer anpassen, einfach weil sich auch die Welt um uns herum verändert. Als Forschungsgesellschaft haben wir hier eine Führungsrolle. Vergangene Woche erst habe ich ein dreistündiges Seminar geleitet für elf neu berufene Direktorinnen und Direktoren, die Mehrheit übrigens Frauen und aus dem Ausland. Letzteres ist wichtig in dem Zusammenhang: Unsere Mitarbeitenden kommen aus unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Teilen der Welt, auch deshalb müssen wir unsere Führungskräfte schulen. Mit zu den ersten Briefen, die ich als Max-Planck-Präsident unterschrieben habe, gehörte die Begrüßung neu eingestellter Forschungsgruppenleiter inklusive der dringlichen Einladung, an den entsprechenden Schulungen teilzunehmen. Zu diesen präventiven Maßnahmen gehören auch verpflichtende Umfragen an allen Instituten, die von unabhängigen Stellen durchgeführt werden und von allen Mitarbeitenden anonym beantwortet werden können. Es geht um die Bewertung von Arbeitsklima, Arbeitsumfeld, Arbeitsbedingungen und Vorgesetzten. Es gibt darüber hinaus auch die Möglichkeit, offen auf bestimmte Missstände und Sorgen hinzuweisen. Anlaufstellen dafür sind die Ombudspersonen, die wissenschaftlichen Fachbeiräte, die im Rahmen der Fachbeiratsbesuche in Abwesenheit der Führungskräfte mit Doktorandinnen und Doktoranden sowie den Postdocs sprechen. Wir haben zudem eine Anwaltskanzlei, die ebenfalls unabhängig von der MPG Beschwerden entgegennimmt und diese dann auf Wunsch auch erst einmal nur anonym an uns weitergibt. Und wenn dann konkrete Vorwürfe von Fehlverhalten auftreten, haben wir drittens transparente Regeln für standardisierte Verfahren entwickelt – inklusive externem Rat und ohne Einwirkung des Präsidenten, der bei allen Untersuchungen und ihrer Bewertung bewusst außen vor bleibt.

 

"Die Phase nach der Promotion ist die Zeit im Leben, in der man für ein paar Jahre frei forschen kann – wenn man einen guten Chef hat. Und damit es in der Hinsicht weniger auf Glück ankommt, wollen wir eine Struktur schaffen."

 

Vorhin haben Sie angekündigt, die Karrierewege für Postdocs zu reformieren, ihnen neue Optionen und Perspektiven ermöglichen zu wollen – vor allem in Form eines neuen interdisziplinären Postdoc-Programms. Das klingt nach einem großen Rad: Es gibt 2.400 Postdocs in der MPG. 

 

Wir haben erkannt, dass wir an der Stelle Nachholbedarf haben. Wir haben sehr gute Promotionsprogramme mit einer guten Betreuung und klaren Regeln. Doch nach der Promotion folgt eine Phase, in der vieles unklar ist. Dabei sind genau das die Jahre, in denen sich entscheidet, ob ein junger Mensch in der Wissenschaft bleibt oder etwas Anderes macht. Hier wollen wir ansetzen mit unserem neuen Programm, wir wollen Orientierung und einen klaren Rahmen bieten, ohne dass es zu einer Verschulung kommt. Das wäre auch widersinnig, denn die Phase nach der Promotion ist die Zeit im Leben, in der man mal für ein paar Jahre frei forschen kann. Zumindest kann sie das sein – wenn man einen guten Chef hat. Und damit es in der Hinsicht weniger als bislang auf Glück ankommt, wollen wir eine Struktur schaffen. Erstens: Jeder Postdoc soll neben seinem direkten Vorgesetzten einen zweiten Mentor, eine zweite Mentorin aus einem anderen Max-Planck-Institut erhalten. Das fördert die Interdisziplinarität, ermöglicht aber auch den so wichtigen Blick von draußen: Wie entwickeln sich die Postdocs? Erhalten sie die Unterstützung, die sie brauchen? Zweitens: Wir führen eine Mindestvertragslaufzeit ein. Mir wären drei Jahre am liebsten, und dann nochmal drei, aber es kann sein, Stichwort Wissenschaftszeitvertragsgesetz, dass wir bei zwei plus zwei Jahre landen.  

 

Sie wollen also wie bisher sechs Jahre Postdoc-Befristung und dann erst den möglichen Einstieg in einen Tenure Track, der wiederum nur die Aussicht auf eine Dauerstelle enthält? Die Unterstützer von "#IchBinHanna" sehen in einem solchen Konzept eine Verschlimmbesserung der gegenwärtigen Lage.

 

Da verstehen Sie mich falsch. Das eine hat nichts mit dem Anderen zu tun. Das neue Postdoc-Programm für die sogenannte R2-Phase und unsere Tenure-Track-Auswahlverfahren für R3 sollen parallel laufen. Das heißt: Sie können sich jederzeit, wenn Sie soweit sind, aus dem Postdoc-Programm heraus dafür bewerben. Natürlich in transparenter Konkurrenz mit ausgezeichneten jungen Forschenden auch von außerhalb der MPG. Je nach Fächerkultur kann es sein, dass Sie dann nur für sechs oder neun Monate R2-Postdoc sind, in den Computerwissenschaften etwa, wo die guten Leute oft kurz nach der Promotion in Tenure-Track-Programme gehen. Während es in den Rechtswissenschaften oder in vielen geisteswissenschaftlichen Fächern, in denen die Leute erst Monografien schreiben müssen, um sich zu bewerben, mehrere Jahre dauern kann.

 

Und wozu dann die Unterteilung in zwei befristete Verträge?

 

Weil es in der Mitte des Programms eine Karriereberatung geben muss, um eine Entscheidung zu fällen, wie es weitergeht. Wir planen auch einen Workshop, zentral im Harnack-Haus in Berlin. Das Ziel ist, dass sie sich nach zwei oder drei Jahren Postdoc mit der Frage auseinandersetzen, wo genau sie ihre Zukunft sehen, auch außerhalb der akademischen Welt. Haben sie schon mal darüber nachgedacht, eine Firma zu gründen? Wie genau funktioniert das eigentlich? Oder wäre es eine Option, an eine internationale Einrichtung zu gehen? Welche kämen da überhaupt in Frage? Oder doch der Wechsel in die Wirtschaft?

 

Viele werden das Gefühl haben, Sie wollten sie loswerden.

 

Darum geht es nicht. Wir wollen aber, dass unsere Postdocs die vielen Optionen sehen und verstehen, die sie haben – innerhalb und außerhalb der MPG, innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Wir wollen sie mit Max-Planck-Alumni zusammenbringen, die von ihren Karrierewegen berichten und Rat geben können. So dass dann die zweite Vertragslaufzeit zu einem Sprungbrett wird: Für einige, die wissenschaftlich Talentiertesten, um sich auf ihren Einstieg in die Spitzenforschung vorzubereiten, über besagte R3-Stellen. Aber natürlich werden, wenn wir ehrlich sind, diejenigen, die in der akademischen Welt bleiben, immer in der Minderheit sein, und noch weniger werden ihre wissenschaftliche Laufbahn in der MPG durchleben. Und das ist gut und richtig, denn die Übrigen werden anderswo in der Gesellschaft und Wirtschaft gebraucht und erfolgreich sein. 

 

"Wir wollen keinen Missbrauch, keine Kettenverträge,
bis jemand 50 Jahre alt ist. Solche Fälle gab und gibt es,
und die halte ich für unverantwortlich."

 

Ist das, was Sie da durch zusätzliches Mentoring und Workshop-Coachings erreichen wollen, nicht eigentlich ureigenste Aufgabe eines guten und engagierten akademischen Vorgesetzten? Gerade auch das Führen ehrlicher Gespräche über die langfristige wissenschaftliche Eignung von Postdocs?

 

Ich habe solche Gespräche immer mit all meinen Postdocs geführt, und dabei ist das Wichtigste, dass man sich als Vorgesetzter möglichst freimacht von seinen eigenen Interessen, die Leute einfach möglichst lang in den eigenen Projekten weiterforschen zu lassen. Erst recht, wenn man vielleicht längst weiß, dass es für den einen oder die andere höchste Zeit wäre, sich nach einer alternativen Karriereoption umzuschauen – bevor sie so alt sind, dass es immer schwieriger wird, außerhalb der Wissenschaft unterzukommen. Das ist unsere Verantwortung als Direktorinnen und Direktoren, als Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter. Als MPG wollen wir künftig nur ein bisschen mehr nachhelfen, indem wir langjährige Verträge und die Zweiteilung in der Mitte zum Standard machen, damit es nicht mehr zu diesem Automatismus immer neuer Vertragsverlängerungen kommt. Wir wollen keinen Missbrauch, keine Kettenverträge, bis jemand 50 Jahre alt ist. Solche Fälle gab und gibt es, und die halte ich für unverantwortlich. Ganz unabhängig von dem, was in einem Wissenschaftszeitvertragsgesetz steht.

 

Ganz am Anfang unseres Gesprächs haben sie gesagt, die MPG betreibe Grundlagenforschung auf international höchstem Niveau und rekrutiere von überall her die besten Talente. Die aus Frankreich stammende Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier, seit 2015 bei Max Planck, sagte neulich der FAZ, dass sie zwar nirgends so lange gewesen sei wie in Deutschland – dass sie aber in der CRISPR-Forschung "nicht mehr wettbewerbsfähig" sei. Vor allem nicht gegenüber den USA und ganz besonders nicht, wenn es um die Rekrutierung des Personals gehe. Der dortige Enthusiasmus sei ansteckend. "Hier funktioniert das anders", fügte Charpentier hinzu, "und am Ende ist es zu spät, wenn das Schiff längst losgesegelt ist." Hört sich das für Sie auch so an, als würde sich Frau Charpentier per Zeitungsinterview von Max Planck wegbewerben?

 

Nein, ich kenne Emmanuelle Charpentier gut, und ich sehe nicht, dass sie ihre Kritik auf die MPG bezogen hat. Sie leidet unter der derzeitigen Situation wie wir alle in der deutschen Wissenschaft. Es ist sehr schwer, Fach- und Führungskräfte zu gewinnen, und in der Mitte Berlins, wo sie arbeitet, ist es nochmal schwieriger. Und wenn es darum geht eine neue Technik auch in die Anwendung zu bringen, mobilisieren die US-Amerikaner viel schneller viel mehr Geld. Wo sie sicher auch Recht hat: In den USA und in China entstehen gerade Monopolstrukturen in der Künstlichen Intelligenz. Wir haben zwar immer noch einige der absolut führenden KI-Forscher bei uns, werden in Europa aber durch die geltenden Regelungen beschränkt. Immerhin tut sich anderswo, in der Grünen Gentechnik, auf EU-Ebene nach 20 Jahren politischen Diskussionen etwas, wir könnten nach einer Liberalisierung der Vorgaben wieder Anschluss finden an den internationalen Wettbewerb. 

 

Das ging mir zu schnell. Wenn Forschende wie Emmanuelle Charpentier die mangelnde Dynamik in Deutschland beklagen, beziehen sie sich nicht auch auf die wissenschaftlichen Institutionen? Hand aufs Herz: Ist die MPG in all ihrer Tradition und ihrem Stolz auf das Erreichte noch hungrig genug? 

 

Und ob wir hungrig sind. Ich erlebe diese Neugier überall, wo ich hinkomme. Sie ist unsere Triebfeder. Ich habe bei meinen Institutsbesuchen gesehen, wie Liebgewonnenes aufgegeben wird, wie unsere Wissenschaftler bereit sind, den nächsten großen Schritt zu gehen, ihre Forschungsrichtung zu ändern. Als Präsident habe ich mir vorgenommen, durch die Berufungen, die ich vornehme, noch stärker als bislang neue Forschungsfelder zu erschließen. Und dabei will ich wegkommen von der Frage, die immer zuerst kommt.

 

Die da lautet?

 

"Wie wollt ihr das denn finanzieren?" Meine Antwort: Wir dürfen nicht beim Geld anfangen, sondern bei den Ideen. Wir müssen fragen, was jetzt in diesem Moment am dringendsten erforscht werden muss. Dann lande ich zum Beispiel bei der großen Frage nach der Interaktion von Menschen und Maschinen. Wie entstehen emergente Eigenschaften in Maschinen, die wir als Menschen nicht programmiert, nicht beabsichtigt haben? Wie lernen und verhalten sich Maschinen, wie verändern sie sich auch im Umgang mit uns Menschen, mit der Gesellschaft? Es gab noch nie eine Technologie, die so eng an den Kern des Menschseins herankam, und das ist nur ein Beispiel für ein riesiges Forschungsfeld an der Grenze zwischen Technik-, Geistes- und Sozialwissenschaft. Wenn wir diese tollen Ideen haben, müssen wir da entschieden reingehen, unabhängig von den finanziellen Wechselwirkungen. 

 

"Wir werden als MPG unsere Bedürfnisse moderat, aber mit der nötigen Transparenz formulieren – und zugleich unsere Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen."  

 

Die aber ja nun einmal da sind. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) muss nächsten Jahr sparen. Zwar erhalten die MPG und die anderen außeruniversitären Forschungsgesellschaften ihren üblichen Budgetaufwuchs von drei Prozent, aber die politischen Widerstände gegen den zugrundeliegenden Pakt für Forschung und Innovation (PFI) nehmen offenbar zu. Sorgt Sie das? 

 

Wir sind dankbar, dass wir Teil des Paktes sind. Und wir gehen davon aus, dass die Politik ihr Versprechen, ihn bis Ende des Jahrzehnts fortzusetzen, einhält. An der Stelle will ich, ohne Forderungen zu stellen, lediglich darauf hinweisen, dass die drei Prozent mittelfristig keinesfalls reichen werden, um den Status Quo zu halten angesichts von Inflation und der Explosion der Energiekosten. Ich hoffe, dass sich das in den kommenden Jahren, wenn die Preissteigerungen wieder niedriger werden, etwas ausgleicht. Unabhängig davon haben wir aber selbst Spielräume, die ich nutzen will: Ein Drittel unserer Direktorinnen und Direktoren wird bis 2030 ausscheiden, das gibt uns die Möglichkeit zu den Berufungen, von denen ich eben sprach. Wir können und werden also aus der Substanz heraus handeln. Aber natürlich gibt es Bereiche, wo wir ohne zusätzliches Geld nicht gestalten können. Wenn wir bei KI wirklich vorn dabeibleiben wollen, braucht es irgendwann ein deutsches oder europäisches Rechenzentrum, das eine Größenordnung größer ist als alles, was wir jetzt haben. Und wenn wir das mit der Nachhaltigkeit ernst nehmen und bis spätestens 2035 als Forschungsgesellschaft klimaneutral sein wollen, wird das nur über ein Sonderprogramm für die energetische Sanierung gehen. Das ist bei den Universitäten und den anderen Forschungsorganisationen nicht anders. Zugleich sollten wir als Wissenschaft aber moderat auftreten mit unseren Forderungen in der aktuellen Lage. 

 

Warum?

 

Weil wir doch sehen, wie enorm belastet der Staatshaushalt ist nach der Corona-Pandemie und angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Und weil es nicht nur die Wissenschaft, sondern auch andere Bereiche unserer Gesellschaft gibt, die genauso dringend Unterstützung benötigen. Ich denke hier vor allem an den Bildungssektor. Darum werden wir als MPG unsere Bedürfnisse moderat, aber mit der nötigen Transparenz formulieren – und zugleich unsere Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen.  

 

Sie wollen Ihre Wissenschaftler ermutigen, sich mit ihrer Expertise stärker an gesellschaftlichen Debatten zu beteiligen. Haben Sie den Eindruck, dass die MPG ihre Kompetenz abseits der klassischen Wissenschaftsdiskurse unter Wert verkauft hat?

 

Es ist ja nicht so, dass wir uns in der Vergangenheit nie geäußert, dass wir die gesellschaftlich-politische Entwicklung nicht immer schon mitgeprägt hätten. Der erste Kontakt zwischen Israel und Deutschland nach dem Krieg entstand zwischen dem Weizmann-Institut und der Max-Planck-Gesellschaft: Otto Hahn reiste damals mit einer kleinen Delegation nach Israel. Auf dieser langen Tradition des gesellschaftlichen Engagements wollen wir aufbauen. Aber wir wollen schneller werden. Meine Idee ist, dass wir dafür je nach Thema einen unterschiedlichen Kreis von Expertinnen und Experten zusammenbringen. Bleiben wir beim Beispiel Israel und dem aktuellen Verfassungsstreit. Wir wollen jetzt Stellung beziehen und uns solidarisch zeigen mit unseren wissenschaftlichen Partnern vor Ort. Darum habe ich Max-Planck-Wissenschaftler eingeladen, die sich mit Israel auskennen, damit wir uns beraten können. Das ist ein Beispiel, wie wir rasch ein Meinungsbild erstellen können, ohne jedes Mal alle Wissenschaftlichen Mitglieder der MPG befragen zu müssen. Meine Aufgabe als Präsident wird sein, dieses Meinungsbild möglichst schnell in die Öffentlichkeit zu transportieren. Auf die Debatten, die dadurch entstehen, freue ich mich. 

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Kommentare: 1
  • #1

    L. Schreiber (Dienstag, 25 Juli 2023 14:20)

    Wäre mal interessant zu wissen, was Herr Cramer von dem aktuellen Beitrag von Gregor Bucher zum Wissenschafts-
    Zeitgesetz hält.