Was im neuen Nationalen Bildungsbericht steht und warum Autorensprecher Kai Maaz davor warnt, Einwanderer für die schlechte Performance des Bildungssystems verantwortlich zu machen.
Schaubild aus dem Nationalen Bildungsbericht 2024. CC BY-SA 3.0 DE.
ER GILT ALS DIE große Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens. Das ist Verdienst und Problem zugleich. Denn der Nationale Bildungsbericht, der seit 2006 alle zwei Jahre mit inzwischen jedes Mal fast 400 Seiten Analysen, Grafiken, Tabellen veröffentlicht wird, ist so umfassend, dass Bildungspolitiker seinen Verfassern gelegentlich vorwerfen, dass vor lauter Details und Trends die politisch verwertbaren Empfehlungen auf der Strecke bleiben.
Am Montagnachmittag wurde nun die aktuelle Ausgabe des Bildungsberichts veröffentlicht, Förderer sind wie immer das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Kultusministerkonferenz. Und erneut lieferten die beteiligten Bildungsforscher und Statistiker parallel eine nicht einmal 30-seitige Kompaktfassung, die entlang der gesamten Bildungskette wichtige Kennzahlen im Überblick präsentiert und dazu – tatsächlich sehr klare – "zentrale Herausforderungen" benennt.
Fragt man Kai Maaz, was für ihn persönlich die wichtigste Aussage des neuen Berichts ist, antwortet der Sprecher der Autorengruppe: "Die sozialen Disparitäten in unserem Bildungssystem von der Kita bis zur Weiterbildung sind ein riesiges Dauerproblem, die Politik schafft es nicht, daran etwas zu ändern."
"Wir sollten uns fragen", fügt Maaz, Chef des DIPF Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, hinzu: "Warum haben all die lobenswerten Bildungsinitiativen von Bund und Ländern, all das Geld, das in sie hineingesteckt wurde, keine messbare Wirkung erzielt hin zu einer flächendeckenden Verbesserung von Bildungschancen und Bildungsqualität?"
19 Prozent der Viertklässler
können nicht adäquat lesen
Ein paar Zahlen aus dem Bericht. 264 Milliarden Euro hat Deutschland 2022 in Bildung investiert. Zwischen 2012 und 2022 stieg der Anteil der Bildungsausgaben an der Wirtschaftsleistung nur geringfügig von 6,6 auf 6,8 Prozent. Deutlicher erhöhten sich die Ausgaben für die Kitas, trotzdem gibt es weiter viele Eltern, die keinen Krippenplatz für ihre Kleinkinder finden. Bedarf bei Einjährigen: 65 Prozent. Tatsächlich zur Kita gingen 2023: 38 Prozent. Immerhin dreimal so viele wie 2006 (zwölf Prozent). Besonders Kinder aus Einwandererfamilien sind unterrepräsentiert, bei den 3- bis 5-Jährigen ging die Kitaquote seit 2014 sogar um sieben Prozentpunkte auf 78 Prozent zurück – gegenüber 100 Prozent bei Kindern, deren Eltern beide in Deutschland geboren sind.
19 Prozent der Viertklässler verfehlten 2021 die Mindeststandards beim Lesen, die Hälfte mehr als 2011 (zwölf Prozent). Im Osten nehmen 84 Prozent der Grundschulkinder an Ganztagsangeboten teil, im Westen nur 50 Prozent. Und auch hier gilt: Beim Wettbewerb um die knappen Plätze öffnet sich die soziale Schere mit Nachteilen für Kinder aus Einwandererfamilien, von Eltern mit niedrigerem Bildungsabschluss oder von erwerbstätigen Müttern..
Unterdessen steigt der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss seit Corona wieder deutlich auf 6,9 Prozent im Jahr 2022. Und während von 100 Akademikerkindern 78 ein Studium aufnehmen, tun das von 100 Nicht-Akademikerkindern nur 25.
Alte Erkenntnisse und
Altlasten der Politik
Die Zahlen sind nicht neu – können sie auch nicht sein, weil für den Bildungsbericht keine eigenen Studien erstellt, sondern vorhandene Untersuchungen und Statistiken zusammengetragen werden. Viele der Ergebnisse haben bei ihrem Bekanntwerden bereits einmal Debatten ausgelöst. Das Besondere ist aber der Gesamtüberblick, der durch ihre Kombination entsteht.
Der, so Maaz, nur Schlussfolgerungen zulässt: "Wir müssen aufhören, uns kurzfristig über bildungspolitische Krisenmeldungen aufzuregen und ansonsten immer weitermachen wie bisher." Und: Die Politik müsse sich ehrlich machen und sagen: "Es liegt an der Art, wie wir unsere Bildungspolitik organisieren, wie wir unsere Bildungseinrichtungen steuern."
Und damit fordere er keine weitere Grundsatzdebatte über den Bildungsföderalismus, "weil die uns nicht weiterbringt. Im Gegenteil, wir könnten aus dem Föderalismus Honig saugen, indem wir systematisch evaluieren, warum etwa ein Land wie Hamburg mit geringeren Pro-Kopf-Ausgaben weit mehr Qualität und Chancengerechtigkeit in der Bildung schafft als Berlin." Es sei richtig und normal, die Schülerleistungen regelmäßig zu überprüfen, so der Bildungsforscher. Aber: "Ebenso, wie wir die Schülerleistungen testen, muss auch die bildungspolitische Steuerlogik und Koordinationsleistung der einzelnen Bundesländer Teil des nationalen Bildungsmonitorings werden."
Mancherorts sind die Hälfte aller
neueingestellten Lehrer Seiteneinsteiger
Zwischen Bund und Ländern müsse diskutiert werden, wie all die nebeneinanderher laufenden Bildungsprogramme von "QuaMath" (für besseren Matheunterricht) über "SchuMaS" (Schulentwicklung für benachteiligte Schüler) bis hin zu dem milliardenschweren Startchancen-Programm so "miteinander koordiniert und verknüpft werden könnten, dass sie eine nachhaltige Wirkung erzielen".
Es wird spannend sein zu sehen, ob die Bildungspolitik in Bund und Ländern sich auf die damit geforderte öffentliche Nabelschau einlässt, auf die systematische Untersuchung und Evaluierung des Zusammenspiels etwa von Ministerien, Schulträgern und Schulämtern. Oder ob sie sich lieber auf die üblichen Narrative stützt, die allesamt auch ihre statistischen Belege im Bildungsbericht finden.
Etwa, dass die Bildungskrise eng mit dem gewaltigen Mangel an Fachkräften in allen Bildungsbereichen zusammenhänge. Laut Bildungsbericht waren 2023 11,9 Prozent der bundesweit neu eingestellten Lehrkräfte Seiteneinsteiger, bei gewaltigen Länderunterschieden allerdings: In Sachsen-Anhalt lag ihr Anteil bei 53 Prozent, in Bayern und Rheinland-Pfalz nur ein Prozent. An den Berufsschulen wiederum hatten insgesamt 21 Prozent des Kollegiums keine Lehramtsausbildung.
Zuwanderung ist "Ausrede" für
Qualitätsmangel in der Bildung
Oft wird von Bildungspolitikern auch das zweite Erklärungsmuster angeführt: der hohe und weiter steigende Prozentsatz neu eingewanderter Kinder und Jugendlicher. Auch hierzu eine eindrückliche Statistik aus dem Bildungsbericht: Im Jahr 2022 kamen rund 535.000 Menschen zwischen sechs und 19 neu ins Land – gegenüber 114.000 zehn Jahre davor.
Und doch: "Dass wir die Qualität wegen der Zuwanderung oder des Lehrkräftemangels nicht steigern können, halte ich für Ausreden", sagt Kai Maaz. "Wir hätten seit 50 Jahren einen Bevölkerungsrückgang und würden uns als Gesellschaft abschaffen, gäbe es keine Einwanderung." Deutschland habe es allerdings nie vermocht, seine "Bildungssteuerung so auszurichten, dass sie der Wirklichkeit eines Einwanderungslands entspricht: mit einem kontinuierlichen Zustrom und immer wieder größeren Peaks."
Neben dem DIPF am Bericht beteiligt sind das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung, das Deutsche Jugendinstitut, das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, das Soziologische
Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität, das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe und die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Ein Schwerpunkt liegt dieses Jahr auf der beruflichen Bildung.
Neben dem großen politischen Steuerungsproblem benennt der Bericht weitere zentrale Herausforderungen für die Bildung in Deutschland: dort pro Kopf am meisten Geld in Schulen & Co zu schicken, wo die Missstände am größten sind, wobei die "Startchancen" als zukunftsweisendes Beispiel genannt werden. Außerdem kurzfristige und langfristige Strategien dafür zu entwickeln, dass nicht nur genug, sondern auch genug gut ausgebildetes pädagogisches Personal zur Verfügung steht, wobei es besonders auf die Weiterbildung ankomme. Schließlich brauche es mehr Datenerhebung und -nutzung in allen Bildungsbereichen und auf allen Ebenen, damit die vorhandenen Bildungsangebote nicht am Bedarf vorbeigingen, inklusive der statistischen Erfassung individueller Lernverläufe und der Evaluation von Reformmaßnahmen.
Dieser Beitrag erschien heute zuerst im Tagesspiegel.
Aktualisierung am 14. Juni, 15.30 Uhr
Wie Bund und Länder den Bildungsbericht kommentieren
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Christine Streichert-Clivot, kommentierte unmittelbar nach Veröffentlichung des Berichts: "Wir müssen noch ehrgeiziger sein, um das Versprechen des sozialen Aufstiegs für Jugendliche zu erneuern." Immer noch hingen die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen stark vom sozialen Hintergrund ab. "Die kommende Generation erwartet zurecht, dass wir diese Ungerechtigkeit angehen. Und das machen Bund und Länder. Zum Beispiel mit dem Startchancen-Programm, dass Schulen bei der Gestaltung einer modernen, attraktiven Lernumgebung, passgenauen pädagogischen Angeboten und dem Ausbau multiprofessioneller Unterstützung unterstützt."
Angesichts der laut Bildungsbericht wachsenden Zahl junger Erwachsener ohne formale Qualifikation verwies Streichert-Clivot, im Hauptberuf SPD-Bildungsministerin des Saarlandes, auf den Pakt für Berufliche Schulen. Gemeinsam mit dem BMBF wolle man Lösungen erarbeiten, um den Einstieg in die Berufswelt zu erleichtern und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. "Und weil starke Schüler:innen starke Lehrkräfte brauchen, haben wir als Länder auf der historischen Transformations-KMK in Völklingen in der vergangenen Woche neue Wege ins Lehramt ermöglicht, zum Beispiel für sogenannte Ein-Fach-Lehrkräfte sowie Absolventinnen und Absolventen sogenannter Quereinstiegs-Masterstudiengänge und dualer Studiengänge."
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger sagte, der Bildungsbericht zeige, "dass unser Bildungssystem vor großen Herausforderungen steht. Wir brauchen dringend eine bildungspolitische Trendwende." Es brauche von den Kitas bis zu den Ausbildungsbetrieben einen Perspektivwechsel und Bildungsinstitutionen, die Vielfalt als Chance begriffen. "Wir setzen uns mit aller Kraft für mehr Chancengerechtigkeit ein", fügte die FDP-Politikerin hinzu und führte ebenfalls das zum kommenden Schuljahr beginnende Startchancen-Programm an, "das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik".
Ebenso zeige der neue Bildungsbericht die Notwendigkeit eines starken Berufsbildungssystems, das junge Menschen konsequent fördere und an die speziellen Bedarfe der modernen Arbeitswelt angepasst sei. "Deshalb geben wir mit der Exzellenzinitiative Berufliche Bildung mit gezielten Maßnahmen dem gesamten System der beruflichen Bildung einen neuen Schub."
Zu dem im Bildungsbericht aufgeworfenen und von Autorensprecher Kai Maaz hervorgehobenen Steuerungsproblem der deutschen Bildungspolitik äußerten sich in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung zunächst weder BMBF-Chefin noch KMK-Präsidentin.
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Stephan Schleim (Mittwoch, 26 Juni 2024 14:51)
Die Zeit, die Kinder mit ihren Eltern verbringen, ohne Weiteres als Maßstab für Bildungsungleichheit zu nehmen, halte ich für verfehlt.