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Der Herr der Bildungsberichte

Werkzeugmacher, Sozialpädagoge, Professor: Kai Maaz’ Weg vom DDR-Arbeiterkind zu einem der einflussreichsten Bildungsforscher Deutschlands. Ein Porträt.

UND JETZT BITTE nochmal das Gesicht zwischen den Buchrücken hindurchschieben. Kai Maaz zögert kurz, dann macht er wie ihm geheißen. Der Blitz flammt auf. Seit 25 Minuten soll er sich hinsetzen, wieder aufstehen, den Kopf nach links drehen und nach rechts, den Stapel mit den Büchern unter den Arm klemmen und anschließend auf der Hand balancieren. Doch Maaz verzieht keine Miene. Ist er genervt? Man weiß es nicht. Macht ihm der Fototermin zum Abschluss des Interviews Spaß? Eher nicht. Aber er beklagt sich nicht. Er bewahrt Haltung. Lächelt hin und wieder. Und am Schluss sagt er danke.

 

Vielleicht ist das ja schon sein ganzes Geheimnis. Kai Maaz, 46, ist einer der einflussreichsten Bildungsforscher Deutschlands. Und zugleich selbst in der Bildungsszene weitgehend unbekannt. Er ist Direktor der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens" am DIPF, das seit ein paar Tagen Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation heißt, vorher Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Vor allem bleibt Maaz unauffällig, ruhig und freundlich und ist doch immer präsent. 

 

Als er im Sommer dieses Jahres in einer Reihe mit Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) saß, um der Presse den neuen Bildungsbericht zu präsentieren, fragten die Journalisten einander, wie der Mann mit der Brille und dem gepflegten Vollbart heißt. Dabei fungiert Maaz schon seit 2014 als Sprecher der hochkarätigen Autorengruppe von Wissenschaftlern und Statistikern, die alle zwei Jahre Deutschlands wichtigste Bestandsaufnahme zu Zustand und Leistung von Kitas, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetrieben erarbeitet. Eine Bestandsaufnahme, die Grundlage und Bezugspunkt für politische Entscheidungen sein soll. 


Prof. Dr. Kai Maaz, 46, ist Sozialpädagoge, Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher. Er studierte zunächst an der Katholischen Fachhochschule Berlin, wechselte für das zweite Studium an die Humboldt- Universität zu Berlin und erhielt ein Promotionsstipendium am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter und dann als Forschungsgruppenleiter in der Abteilung von Jürgen Baumert. 2010 übernahm er die Professur für Quantitative Methoden in den Bildungswissenschaften an der Universität Potsdam. 2013 wurde Maaz Direktor der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens" am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) bzw. seit neuem DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und zugleich Professor an der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main



Wenn die Bildungsstaatssekretäre von Bund und Ländern zusammensitzen, um über die Zusammensetzung des geplanten Nationalen Bildungsrates zu verhandeln, dann notieren sie schon mal im Protokoll: zu Prof. Maaz Kontakt aufnehmen. Der soll ihnen dann sagen, wie viele Wissenschaftler man in dem Gremium braucht, um möglichst alle Bildungsbereiche wissenschaftlich abzudecken. 

 

Maaz sitzt in zahlreichen Beiräten, er berät Landes- und Bundespolitiker, und als der Berliner Senat vor einigen Jahren seine politisch umstrittene Schulstrukturreform evaluieren lassen wollte, machte das Maaz. Dass der zusammen mit seinen Kollegen wissenschaftlich erstklassige Arbeit ablieferte, war zu erwarten. Dass er es verstand, durch seine behutsamen öffentlichen Kommentierungen den politischen Druck aus der Sache zu nehmen, das überraschte.

 

Bei der Berlin-Studie mit dabei war übrigens ein Mann, der in der Szene der Bildungsforscher lange als der Übervater galt. Jürgen Baumert, einst Direktor am legendären Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ihn kürten die Medien Anfang der 2000er Jahre zum "PISA-Papst", in seiner Abteilung starteten gleich mehrere Generationen der heute bekanntesten Bildungswissenschaftler.  Baumert machte hochklassige Wissenschaft, vor allem aber betrieb er  


intensive Politikberatung im Hintergrund. Der Aufbruch, den das deutsche Bildungssystem nach der ersten PISA-Studie nahm, wäre ohne Baumert nicht möglich gewesen, sagen viele. 

 

Mit Maaz ist da jemand, den die Politik ähnlich 

ernst nimmt wie früher den "PISA-Papst" Baumert

 

Seit Baumert 2010 pensioniert wurde, war da eine wachsende Lücke. Die Bildungsforschung geriet in eine Identitätskrise, das Max-Planck-Institut verlor seinen Ruf als ihre Hochburg. Den hat jetzt das DIPF. Das liegt natürlich nicht allein an Maaz, doch mit Maaz, so scheint es, ist da erstmals jemand, den die Politik ähnlich ernst nimmt wie früher Baumert. Obwohl die beiden unterschiedlicher kaum sein könnten.

 

Auch Maaz hat – man will fast sagen: natürlich – am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung angefangen. Auch ihn nahm Baumert unser seine Fittiche. So natürlich findet Maaz selbst das allerdings nicht. "Wahrscheinlich haben die damals meinen Lebenslauf nicht richtig gelesen", sagt er. Baumert: von Hause aus Altphilologe, Typ Gelehrter. Maaz: Sohn von zwei Facharbeitern. Aufgewachsen in Premnitz im Havelland, 80 Kilometer vor Berlin, im Alltag einer DDR-Kleinstadt, und das noch dazu als praktizierender Katholik. Als die Wende kam, war er 17, und das, sagt er selbst, war sein Glück. Was er nicht sagt: dass er wahrscheinlich sonst kaum hätte studieren können.

 

Wobei er das erst gar nicht wollte. Kurz bevor die Mauer fiel, begann er freiwillig eine Lehre als Werkzeugmacher in den Rathenower Optischen Werken. "Weil ich dachte: Dann habe ich wenigstens mal wirklich die Wochenenden frei", sagt er und grinst. Doch dann passierte etwas mit ihm. Er engagierte sich in einer Umweltgruppe. "Ich entschied: Ich will die Welt besser machen und dafür brauche das Abitur. Denn ich wollte Sozialpädagogik studieren und Streetworker werden." Dabei war er nicht schlecht als Werkzeugmacher, als Gesellenstück konstruierte er eine Fräsvorrichtung, die die Herstellung künstlicher Kniescheiben erleichterte – so gut, dass sie in die Produktion ging. Wieder so eine Sache, die er nicht selbst sagt, sondern andere über ihn erzählen. 

Maaz holte das Abitur neben der Lehre an der Abendschule nach, zog 1993 zum Zivildienst nach Berlin, natürlich bei der katholischen Caritas, und dann gleich weiter, natürlich auf die Katholische Fachhochschule Berlin. Und wieder passierte etwas mit ihm. "Ich merkte: Vielleicht bin ich doch nicht der Typ, um den ganzen Tag mit Menschen umzugehen", sagt Maaz. Und er emanzipierte sich, auch ein Stück von seiner eigenen Glaubenswelt: Nach dem Diplom in Sozialpädagogik wechselte er an die Humboldt-Universität zu Berlin, studierte Sozialwissenschaften, und irgendwann fand er am Schwarzen Brett eine Stellenanzeige: Wissenschaftliche Hilfskraft am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. "Die kriegst nur du", hat er sich gesagt und den Zettel gleich mitgenommen, damit kein anderer sich bewerben konnte. Er muss sich gut gemacht haben damals. Denn direkt nach dem Studium erhielt er ein Promotionsstipendium am dem Max-Planck-Institut. "Das", sagt Maaz heute, "war die Eintrittskarte." 

 

Es ist einer der emotionaleren Sätze, die er an diesem Novembermorgen in seinem Büro sagt. Am Bücherregal lehnen gerahmte Fotografien vom Himalaja, früher ging er Bergsteigen, aber nie bis ganz oben. Vielleicht ist er dazu zu vernünftig. Auf jeden Fall ist er einer, der sogar sich selbst analytisch betrachten kann. "Ich bin ein klassischer Fall für einen nicht geradlinigen Bildungsverlauf", sagt er, und der Enthusiasmus in seiner Stimme rührt, so scheint, weniger daher, dass er es geschafft hat. Er freut sich einfach, eine bildungswissenschaftlich interessante Biographie vorweisen zu können. Dass einer mit seiner Herkunft die Erforschung ungleicher Bildungschancen zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit macht, klingt nach einem Klischee. "Aber was soll ich sagen", sagt Maaz, "natürlich hat das eine auch mit anderen zu tun."

 

Überakademisierung? "Wir werden möglicherweise
sogar noch mehr Akademiker brauchen"

 

Deshalb ist er noch lange keiner, der es sich aufgrund seiner Vergangenheit einfach macht. Zwar plädiert auch der Arbeitersohn für mehr Anerkennung nicht-akademischer Karrieren, wie Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sie in praktisch jeder Rede und in fast jedem Interview fordert. Aber eine "Überakademisierung" kann Maaz deswegen nicht erkennen, im Gegenteil: "Wir werden möglicherweise sogar noch mehr Akademiker brauchen, wenn die Anforderungen im Berufssystem weiter komplexer werden." Wichtig sei, dass das Ausbildungssystem konkurrenzfähig bleibe und bestimmte Segmente nicht nur Abiturienten vorbehalten seien.

 

Auch bei anderen Themen bekommt der Wissenschaftler, den seine Kollegen aufgrund seines Gemüts und seiner Statur schon mal mit dem Bären "Balu" aus dem Dschungelbuch vergleichen, plötzlich Ecken und Kanten. Nein, so richtig kann er es den Kultusministern nicht glauben, wenn sie plötzlich die große Reform ihrer Konferenz versprechen, nachdem jahrelang kaum etwas vorangegangen ist. Deshalb, sagt Maaz, sei es so wichtig, dass der Nationale Bildungsrat jetzt bald komme. "Der kann einen wirklichen Neuanfang bringen, weil er uns als Gesellschaft ermöglicht, in wichtigen Bildungsfragen erstmals eine gemeinsame Linie zu finden." Ob bei den Bildungsstandards, bei der Vergleichbarkeit des Abiturs oder auch nur den je nach Bundesland unterschiedlichen Schulbezeichnungen: "Das kann man doch keinem mehr erklären."

 

Vielleicht rührt seine für seine Verhältnisse überraschende Resolutheit ja auch daher, dass er als Vater von sechs Jahre alten Zwillingen, die diesen Sommer eingeschult wurden, selbst von der staatlichen Kultuspolitik betroffen sind. Wobei auch wieder nicht so ganz: Die beiden gehen auf eine katholische Schule in Potsdam. Überhaupt: Wenn es um die eigenen Kinder geht, zeigt der sonst so analytische Forscher womöglich seine einzige Inkonsistenz. Bei der Pressekonferenz zum Nationalen Bildungsbericht im Sommer fragte ein Journalist, ob die Forscher nicht stärker für die gebundene Ganztagsschule plädieren sollten. Maaz reagierte auffallend zurückhaltend. Weil, wie er später erklärte, die Daten so eindeutig nicht seien. "Und weil ich selbst die Elternsicht habe und mitentscheiden möchte, was meine Kinder nachmittags machen." 

 

Maaz weiß, dass Politiker sich nicht
gern vor aller Augen belehren lassen

 

Oft ist die öffentliche Zurückhaltung aber auch Kalkül. Weil Maaz weiß, dass Politiker sich nicht gern vor aller Augen belehren lassen. Dass einige im Hintergrundgespräch aber durchaus offen für eine ehrliche Rückmeldung sind. Genau das ist Maaz’ Stil. Und der funktioniert. So gut, dass nicht nur er selbst sagt, die Politikberatung mache ihm Spaß. Auch sein Vorgänger als Sprecher der Bildungsbericht-Autoren, der DIPF-Direktor Marcus Hasselhorn, sagt: "Er ist wahrscheinlich der erste von uns Sprechern, der diese Aufgabe nicht als Bürde empfindet."

 

Seit 2006 erscheint der Bildungsbericht alle zwei Jahre, gerade beginnen die Arbeiten für die 2020er-Ausgabe. Es wird die dritte Ausgabe in Maaz’ Verantwortung sein. Die Sprecherschaft hat er sich nicht bewusst ausgesucht, oder höchstens zum Teil: Sie kam mit dem neuen Job als DIPF-Abteilungsdirektor, den er 2013 antrat. Aber Maaz ist von der Aufgabe zunehmend begeistert.

 

Neben hunderten von Statistiken und Analysen zu aktuellen Trends im Bildungssystem enthält der 360-Seiten-Band jedes Mal einem Schwerpunkt-Thema, 2020 soll das die Digitalisierung in der Bildung sein. Das Erstaunliche: In einer Welt der schnelllebigen Daten schafft es dieses trotz Website und Online-Extras im Grunde sehr analoge Medium Bildungsbericht, der Bildungspolitik Orientierung zu geben. Noch. Denn gerade vollzieht sich ein Generationswechsel unter den Autoren, auch die Bildungsminister sind alle paar Jahre neu. Funktioniert das Konzept noch? Müsste die Politikberatung nicht noch lauter werden, expliziter, drängender, um gehört zu werden? Und kann Maaz, will Maaz lauter, expliziter, drängender? 

 

Vielleicht verhält es aber auch genau umgekehrt: Je hektischer die Bildungspolitik wird, desto ruhiger muss Politikberatung agieren. Wie auch immer: Maaz, der immer alles so besonnen angeht, ist unter Zeitdruck. Bislang ist der Bildungsbericht nur bis 2024 finanziert. 

 

Dieser Artikel erschien zuerst im DSW Journal 4/2018 des Deutschen Studentenwerks. Fotos: Kay Herschelmann.

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Kommentare: 1
  • #1

    Wolfgang Kühnel (Montag, 25 November 2024)

    Im Jahre 2024 stellte derselbe Herr Maaz seinen 130-seitigen "Navigator Bildung Digitalisierung" vor (mit Ko-Autoren):
    https://www.forumbd.de/wp-content/uploads/2024/08/240828-FBD-Navigator-Bildung-Digitalisierung.pdf

    Auftraggeber ist das "Forum Bildung Digitalisierung", eine gemeinsame Aktion von 10 unternehmensnahen Stiftungen, darunter die von Bertelsmann, Telekom, Vodafone, Siemens, kurz gesagt: die Lobbyisten der Digitalisierung der Schulen.

    Aus dem Text (Seite 34): "Digitale Transformation in der Kultur der Digitalität zielt jedoch auf weit mehr ab als das Erreichen bestehender Bildungsziele mithilfe digitaler Medien. Vielmehr erfordert es ein neues Verständnis von Schule und Unterricht. Die Integration des Digitalen bedeutet demnach kein „Add-on“ im Schulsystem, das die Bedeutung digitaler Medien allein auf ihre Funktion als Werkzeuge reduziert. Sogenanntes Digitales Lernen, das als instrumentelle Auseinandersetzung mit digitalen Medien verstanden wird, ist im Idealfall das Ergebnis von Aushandlungsprozessen der Akteur:innen darüber, was Schule unter den Bedingungen von Digitalität ausmacht und welche Funktionen und welche veränderten sowie sich verändernden Aufgaben sich für Schulen ergeben."

    Da sollte man genauer lesen. Was steht da?
    Im Klartext: Was konkret geschieht (das "neue Verständnis"), soll das Ergebnis von "Aushandlungsprozessen" sein. Die "Akteure" sind dann z.B. ca. 700.000 Lehrer in Deutschland, zuzüglich Schuladministration, auch die Bildungswissenschaft, alle möglichen Interessengruppen usw. Vorgeschrieben wird nur: Die digitalen Medien müssen eine wichtige Rolle spielen, damit man von "digitalem Lernen" sprechen kann. Aber gleich im Anschluss werden 7 vorab gesetzte Themen definiert, die offenbar nicht auszuhandeln sind.
    Auf S. 36 heißt es dazu: "Gemeinschaftlichkeit stellt ein zentrales Merkmal der Kultur der Digitalität dar. Die Zugehörigkeit zu Gruppen spielt insbesondere für Heranwachsende der sogenannten Generation Global eine wichtige Rolle."

    Also das Cybermobbing unter Jugendlichen, das jetzt als ein wachsendes Problem wahrgenommen wird, verschwindet wie von Zauberhand, die "Kultur der Digitalität" sieht das nicht mehr vor. Davon ist in diesem "Navigator" nicht die Rede.

    Noch ein Satz von S. 37: "Echte Teilhabe ist eine wichtige Voraussetzung der Entwicklung von (digitalem) Well-Being und Resilienz als Grundlage erfolgreichen Lehrens und Lernens in der digitalen Welt."
    Wo doch alle wissen, dass mangelnde Resilienz von Schülern ein großes Problem darstellt. Da wird einfach "Teilhabe" mit einem "digitalen Well-Being" als Schlagwort aus dem Hut gezaubert. Sollen wir dieses Schönreden wirklich ernst nehmen? Und was sollen wir davon halten, dass Herr Maaz mit seiner Autorität sich so als Lobbyist einer in rosaroten Farben ausgemalten Digitalisierung (ohne Nachteile wie Cybermobbing) betätigt? Das scheint nicht zu dem "bodenständigen" Bild zu passen, das im Artikel von ihm gezeichnet wird. Welche wirklichen Ziele und Interessen stecken denn wohl dahinter? Man könnte Angst bekommen, dass solche wolkigen Formulierungen, die vielleicht niemand versteht, demnächst unser Leben bestimmen könnten. Der Text sollte von kundigen Leuten "gegen den Strich" gelesen und bewertet werden. Ist das mehr als ein Jonglieren mit vagen undefinierten Begriffen?