Deutschlands Wissenschaftsorganisationen halten per Kampagne die Wissenschaftsfreiheit hoch. Im wissenschaftspolitischen Alltag ist die Sache freilich etwas komplizierter.
Bild: Screenshot der ELI-ALPS-Website.
ES WAR DIE ganz große Geste: Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen hat am 18. März offiziell ihre Kampagne "Freiheit ist unser System. Gemeinsam für die Wissenschaft" gestartet. Ein halbes Jahr "Veranstaltungen, Reden, Debatten und Meinungsbeiträgen", um "die Wichtigkeit der Unabhängigkeit von Forschung und Lehre zu betonen", wie es in der begleitenden Pressemitteilung hieß, und um "sich gleichzeitig kritisch mit eigenen Entwicklungen auseinanderzusetzen sowie mögliche Gefahren für die Wissenschaftsfreiheit in den Blick zu rücken."
Die Allianz, das ist der Verband der zehn großen deutschen Wissenschaftsorganisationen von der Max-Planck-Gesellschaft über die Helmholtz-Gemeinschaft und die Hochschulrektorenkonferenz bis hin zur Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Wenn die Allianz etwas sagt, dann hat es Gewicht. Und so ist ihr Bekenntnis zur Wissenschaftsfreiheit eine Mischung aus Selbstvergewisserung und der Forderung an Politik und Gesellschaft, im Jahr 70 des Grundgesetzes dessen Artikel 5 ("Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei") nicht zu selbstverständlich zu nehmen, sondern seine Versprechen immer aufs Neue zu verteidigen. Soweit die Theorie.
Wo ist Fraunhofer?
Die wissenschaftspolitische Praxis ist allerdings mitunter komplexer, als es die Kampagnen-Rhetorik nahelegt. Vor allem dann, wenn es um die Wissenschaftsfreiheit im Ausland geht.
Beispiel Ungarn: Am 25. Februar haben die deutschen Wissenschaftsorganisationen einen Brief an Ungarns Minister für Innovation und Technologie, László Palkovics, geschrieben. Die Pläne der Budapester Regierung, der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ihre finanzielle und organisatorische Autonomie zu nehmen, gefährdeten deren wissenschaftlichen Erfolge, warnen die Organisationen. Die Akademie habe sich in den vergangenen Jahren "durch die Bildung unabhängiger Forschungsinstitute und strukturelle Modernisierungen auch zu einem erfolgreichen Kooperationspartner für eine Vielzahl deutscher Forschungseinrichtungen" entwickelt.
Palkovics will offenbar die 15 Institute der Akademie der Wissenschaft abtrennen und in eine eigene Stiftung überführen. Die Leitung der Stiftung soll dann zur Hälfte von der Akademie und zur Hälfte von der Regierung ernannt werden. Als Belohnung winkt Palkovics mit mehr Geld – und hält bis zum Umbau Zahlungen an die Akademie zurück. Die vorgesehenen Einschränkungen seien "mit dem Prinzip der Wissenschaftsfreiheit nicht vereinbar", kritisierten die Organisationen, die den Brief per Pressemitteilung öffentlich machten.
So weit alles klar. Bis der Blick auf die Unterzeichner fällt. Neun Organisationen. Die Allianz besteht aber aus zehn: Die Unterschrift von Fraunhofer, Europas größter Organisation für angewandte Forschung, fehlt. Die wollten nicht, ist von anderen Allianz-Mitgliedern auf Nachfrage zu hören.
Wieso denn das? Rückfrage bei Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer: Unterstützt er die Kritik der anderen Forschungsorganisationen an der Umorganisierung der ungarischen Akademie der Wissenschaften? Und wie schätzt Herr Neugebauer den Zustand der Wissenschaftsfreiheit in Ungarn ein?
Statt Neugebauer antwortet sein Kommunikationschef Janis Eitner. Sonst selten um eine klare Aussage verlegen, schickt Eitner eine gewundene Abhandlung, die im Wesentlichen ein Hoch auf die Wissenschaftsfreiheit im Allgemeinen ist ("ein elementarer Grundstein der Prosperität und des wirtschaftlichen Erfolgs unseres Landes"). Zur gemeinsamen Allianz-Kampagne und dem "Wertekosmos" des Grundgesetzes, schreibt Eitner, "stehen wir aus voller Überzeugung, und diese Sichtweise vertreten wir im nationalen wie auch im internationalen Raum." Aber: "Wir sehen allerdings von öffentlichen Nennungen einzelner Länder ab und gehen hier in den direkten Dialog mit den jeweiligen Wissenschaftsministern internationaler Partnerländer."
Geht Dialog nur ohne Kritik?
Eine bemerkenswerte Aussage: Fraunhofer mag Ungarn im Gegensatz zu seinen neun Allianz-Partnern nicht öffentlich kritisieren, weil es einzelne Länder nicht hervorheben will. Lieber setzt man auf den Dialog mit den zuständigen Wissenschaftsministern. Aber das tun die anderen neun doch auch, oder?
Womöglich spielt ein anderer Grund bei der fehlende Unterschrift ja auch eine Rolle. Die Fraunhofer-Pressestelle liefert ihn gleich im ersten Absatz ihrer langen Antwort: Man sei "im internationalen Wettbewerb ein renommierter Kooperationspartner für Industrie und Wissenschaft. Die Grundsätze unserer Internationalisierungsstrategie sind dabei die wissenschaftliche Wertschöpfung für Fraunhofer und positive Effekte sowohl für Deutschland und Europa als auch die Partnerländer." Kooperationen mit Forschungspartnern und Unternehmen weltweit eröffneten zudem "einen nachhaltigen Zugang zu den wichtigsten gegenwärtigen und zukünftigen Wissenschafts- und Wirtschaftsräumen".
Hat man bei Fraunhofer Sorge um diesen Zugang und die mit Ungarn laufenden Projekte? Ist diese Sorge am Ende größer als die Solidarität mit den anderen Allianz-Unterzeichnern und der ungarischen Akademie der Wissenschaften?
So haben vier Fraunhofer-Institute Ende 2017 zusammen mit ungarischen Partnern und mithilfe einer millionenschweren EU-Förderung das "Centre of Excellence in Production Informatics and Control" (EPIC CoE) gegründet. Mit an Bord sind die Budapester Universität für Technologie und Wirtschaft und das Institut für Informatik und Steuerung der ungarischen Akademie der Wissenschaften, koordiniert wird das Projekt vom Nationalen Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsbüro NKFIH. Minister Palkovics lobt derweil im Interview hier im Blog Fraunhofer-Chef Neugebauer. Er habe sich gefreut, "dass Fraunhofer als einzige Organisation den Brief Ende Februar nicht unterschrieben hat. Reimund Neugebauer kennt Ungarn seit langem, wir arbeiten hervorragend zusammen."
Man kann es insofern für inkonsistent von Fraunhofer halten, bei der großen Kampagnen-Geste dabei sein zu wollen, aber dann beim nicht weniger plakativen Protestbrief außen vor zu bleiben. Oder aber – mit Blick zum Beispiel auf das EPIC – für realitätsnäher.
Initiator der "Freiheit ist unser System"–Kampagne war übrigens die Max-Planck-Gesellschaft. So steht es in der begleitenden Allianz-Pressemitteilung, und darauf sind sie besonders stolz in der Münchner Generalverwaltung. Doch spielt nun ausgerechnet ein Max-Planck-Forscher die Hauptrolle in einem zweiten aktuellen Streit um eine mögliche politische Einflussnahme.
Vor zwei Wochen haben zwei deutsche und ein ungarischer Wissenschaftler ihren Rücktritt aus dem wissenschaftlichen Beirat des "ELI Attosecond Light Pulse Source (ELI-ALPS)" verkündet, einer fast fertiggestellten Laser-Großforschungseinrichtung in der ungarischen Stadt Szeged.
ELI-ALPS entwickle sich hervorragend und suche international seinesgleichen, schreiben Gerhard Paulus, Physiker an der Universität Jena, und seine Kollegen Reinhard Kienberger von der TU München und Gyula Faigel von der ungarischen Akademie der Wissenschaften. Doch sie könnten trotzdem nicht weitermachen.
Alles ganz normal?
Zum einen, so kritisierten sie intern, habe die Regierung ohne wissenschaftliche Begleitung mit 65 Millionen Euro nach eigenem Gutdünken zwei neue Forschungsprojekte am ELI-ALPS gestartet. Zum anderen habe der Minister jetzt auch noch ein Ein-Mann-Komitee mit der Evaluation der gesamten Einrichtung beauftragt, die alle wissenschaftlichen und organisatorischen Prozesse am ELI-ALPS umfassen soll. Ohne Mitwirkung des wissenschaftlichen Beirats wohlgemerkt. Auch das widerspreche den "internationalen Standards", warnen die drei Wissenschaftler in ihrem Brief, die zudem einen persönlichen Interessenkonflikt fürchten und die Strategie von ELI-ALPS gefährdet sehen.
Der Mann, der die Forschungsanlage angeblich im Alleingang evaluieren soll, heißt Ferenc Krausz und ist Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching. Der 56 Jahre alte Krausz ist einer der ganz Großen seiner wissenschaftlichen Disziplin: Als einer der ersten Forscher überhaupt hat er mit seinem Team einen Lichtpuls von weniger als einer Femtosekunde (das ist der Zeitraum, in dem das Licht 0,0003 Millimeter zurücklegt) erzeugt und gemessen, er zählt zu den Favoriten auf den Physik-Nobelpreis.
Ein solcher Lichtpuls wird auch "Attosekunden-Lichtpuls" genannt, womit der Zusammenhang zum ELI-ALPS klar ist. Die Anlage ist einer vom europaweit drei geplanten Standorten der Extreme Light Infrastructure (ELI), eigentlich sollte ein Konsortium mehrerer europäischer Staaten Träger von ALPS sein, doch bis heute ist nur die ungarische Regierung an Bord. Was den Betrieb vor erhebliche Anlaufprobleme stellt.
Laut Krausz ist genau das auch der Grund, warum er sich engagiere. ELI liege ihm seit seinen Anfängen "wissenschaftlich nahe und am Herzen", sagt er. "Dass es sich um eine Einrichtung in meinem Heimatland handelt, trägt zur persönlichen Bedeutung für mich zusätzlich bei."
Was aber sagt er zum Rücktritt seiner Kollegen aus dem Beirat und ihrem Vorwurf, sein Wirken als "Ein-Mann-Komitee" widerspreche wissenschaftlichen Standards? Fürchtet er nicht, sich zum Werkzeug einer ungarischen Regierung zu machen, die die Unabhängigkeit und Freiheit der Wissenschaft nun schon wiederholt in Frage gestellt hat?
Krausz antwortet, er sehe seine Mitwirkung als "kein politisches, sondern als rein wissenschaftliches Engagement". Die Darstellung der drei Kollegen "von einer Ein-Mann-Review" sei verkürzt, irreführend und entspreche "so nicht der Wahrheit. Ich bedauere sehr, dass Herr Kienberger und Herr Paulus, die ich als Wissenschaftler sehr schätze, sich im Besitz unvollständiger Informationen mit ihrer Kritik an die Medien wandten, anstatt vorher mit mir das Gespräch zu suchen."
Minister Palkovics springt Krausz im Interview bei. Die Vorwürfe beruhten auf einem Missverständnis. Eines, das Allen Weeks, der Direktor des ELI-Gesamtkonsortiums, in einer als Reaktion auf den Rücktritt der Beiratsmitglieder veröffentlichten Erklärung gerade aufgeklärt habe: "Er hat darin ausdrücklich begrüßt, dass ich als Minister mich kümmere."
Auch Behauptungen, er richte derweil schon selbst eigene Labore auf dem Gelände von ELI-ALPS ein, woraus der mögliche Interessenkonflikt abgeleitet wird, widerspricht Krausz. Und was das den Vorwurf des "Ein-Mann-Komitees" angehe: Minister Palkovics habe ihn gebeten, weitere Wissenschaftler für die Evaluation hinzuzuziehen und ihm überlassen zu entscheiden, wer bei der Arbeit am besten weiterhelfen könne. "Es ist keine unübliche Praxis, dass ein Wissenschaftler gebeten wird, ein Team aufzustellen, um einen solchen Auftrag durchzuführen."
Also alles ganz normal? So hatte Ungarns Regierung den neun Allianz-Organisationen (ohne Fraunhofer) auf ihr Protestschreiben vom 25. Februar sogar geantwortet, Vorbild für die Umgestaltung der Akademie und der Forschungsfinanzierung seien das deutsche Forschungssystem und die Max-Planck-Gesellschaft.
"Öffentliche Meinungsäußerungen einzelner MPG-Direktoren"
Das will die MPG dann doch nicht auf sich sitzen lassen. Die Reform werde dazu führen, dass künftig größtenteils Projektgelder flössen, wobei das Ministerium die direkte Kontrolle der Mittelvergabe ausübe, heißt es aus der Münchner Generalverwaltung: "Tatsächlich unterliegt die MPG jedoch keinerlei staatlicher Steuerung. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie alle Personal-, Sach- und Finanzfragen in großer Autonomie und ohne jede staatliche Einflussnahme trifft. Gerade das erscheint in Ungarn fraglich zu sein."
Krausz holt derweil zum Gegenschlag aus. Die drei zurückgetretenen Kollegen hätten, indem sie Informationen öffentlich gemacht hätten, gegen ihre Geheimhaltungsverpflichtung gegenüber ELI-ALPS verstoßen (Anmerkung JMW: Die Informationen sind mir gar nicht von den dreien zugespielt worden). Auch sei bei Gerhard Paulus das Beiratsmandat zum Zeitpunkt seines Rücktritts bereits abgelaufen gewesen. Im Übrigen sehe er gar nicht, "dass die Wissenschaftsfreiheit in Ungarn unter Druck geraten ist. Was ich sehe, ist der Versuch der ungarischen Regierung, das institutionelle Netzwerk der Forschungsinstitute, das derzeit weitgehend unter der Leitung und Verwaltung der Akademie steht, auf eine Basis zu stellen, die dieses Netzwerk im internationalen Vergleich noch konkurrenzfähiger macht."
Es sind vermutlich Sätze wie diese, deretwegen MPG-Sprecherin Christina Beck in Bezug auf Ferenc Krausz und ELI-ALPS sagt: Öffentliche Meinungsäußerungen einzelner Max-Planck-Direktoren gäben nicht in jedem Fall die Meinung der Leitung der MPG wieder." Im Falle Ungarns werde die Meinung von Max-Planck-Präsident Martin Stratmann durch die gemeinsame Stellungnahme der Allianz repräsentiert.
Und wahrscheinlich ist genau das ja die Lehre aus ELI-ALPS: Bekenntnisse wie die zur Kampagne "Freiheit ist unser System" können absolut sein, sie müssen sich nicht in die Niederung der Tagespolitik begeben. Doch bringt es die Wissenschaftsfreiheit eben auch (zum Glück!) mit sich, dass die Wirklichkeit uneindeutiger wird. Weil die Forscher in den Wissenschaftsorganisationen über ihr eigenes Engagement – auch das im Ausland – frei entscheiden. Selbst wenn das wiederum Fragezeichen verursacht. Eine für Max Planck kaum lösbare Situation, könnte man folgern. Oder etwa nicht?
Eines der Versprechen, die "Freiheit ist unser System" begleiteten, lautet: Die Organisationen wollen sich im nächsten halben Jahr auch "mit eigenen Entwicklungen" kritisch
auseinandersetzen. Womit eines jedenfalls klar ist: Die geschilderten Beispiele versprechen spannende Debatten.
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Gerhard Schreier (Mittwoch, 19 Juni 2019 20:04)
Es wäre dringend geboten, die Fraunhofer-Institute in die HAWs / FHs zu integrieren oder die öffentlichen Mittel dorthin umzuleiten. Es ist unsinnig, Ressourcen der angewandten Forschung in dieser Größenordnung außerhalb der Hochschulen zu investieren. Man könnte an den HAWs / FHs eine spezifische Rechtsform finden, die hinreichende Flexibilität gewährleistet. Zusätzliche Finanzmittel für Forschung und Entwicklung sind für die Entwiclung dieser Hochschulform dringend nötig und hier besser eingesetzt als an den meisten Fraunhofer-Instituten. Aber ob die Politik in ihrer aktuellen Verfassung dafür die Kraft aufbringt?