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Danke, Kretschmann!

Baden-Württembergs Regierungschef stellt die Bedeutung korrekter Rechtschreibung infrage – und macht damit, ohne es zu wollen, auf ein Problem aufmerksam, das Deutschlands Schulen und Hochschulen haben.

BADEN-WÜRTTEMBERGS GRÜNER MINISTERPRÄSIDENT Winfried Kretschmann fällt wieder einmal bildungspolitisch auf. Als 2018 das Grundgesetz für den Digitalpakt geändert werden sollte, gehörten er und seine CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann zu den heftigsten Gegnern zusätzlicher Bundeskompetenzen. Als 2019 der Nationale Bildungsrat gegründet werden sollte, waren beide erneut dagegen – und unterstützen Bayerns Regierungschef Söder (CSU) eifrig dabei, die Pläne zu Fall zu bringen. Soweit, so konsequent. 

 

Die jüngste Wortmeldung des gelernten Lehrers wird zwar keine konkreten politischen Folgen haben, ist aber auf ihre Weise trotzdem ähnlich brisant. Rechtschreibung sei im Unterricht nicht mehr so wichtig wie früher, zitierte ihn jetzt die Nachrichtenagentur dpa. "Jeder Mensch braucht ein Grundgerüst an Rechtschreibkenntnissen, das ist gar keine Frage", sagte Kretschmann demnach wörtlich. "Aber die Bedeutung, Rechtschreibung zu pauken, nimmt ab, weil wir heute ja nur noch selten handschriftlich schreiben." Es gebe "kluge Geräte", die Grammatik und Fehler korrigierten. "Ich glaube nicht, dass Rechtschreibung jetzt zu den großen, gravierenden Problemen der Bildungspolitik gehört."

 

Der Grundschulverband Baden-Württemberg stimmte ihm prompt zu, andere Lehrerverbände waren hingegen demonstrativ empört. Nach dem Motto: Sowas sagt man nicht als Landesvater. Am Ende ermutigt man die Jugendlichen noch in der Auffassung, korrektes Buchstabieren und Zeichensetzung seien im Computerzeitalter nur noch etwas für Spießer.  

 

Was Kretschmann sagt, sehen
viele Lehrer offenbar ähnlich

 

Tatsächlich sollten die Rechtschreibverteidiger Kretschmann aber sogar dankbar sein. Womöglich schaffen es ja die Äußerungen eines ehemaligen Biologie- und Chemielehrers, die längst überfällige Debatte über die Bedeutung korrekten Schreibens anzustoßen. Denn was Kretschmann sagt, sehen viele Lehrer, Deutschlehrer ausgenommen, offenbar ähnlich. Anders ist kaum zu erklären, mit wieviel Geduld, Verständnis (oder Resignation?) Schulen überall im Land hinnehmen, dass Klassenarbeiten und Hausaufgaben auch in oberen Klassenstufen bis hin zum Abitur vielfach vor orthografischen Fehlern nur so strotzen. Als sei es gleichgültig, ob im Geschichtsabitur oder in einer Chemieklausur alle Buchstaben und Kommas – und damit sind nicht die in den Formeln gemeint – an den richtigen Stellen stehen. Die Punkt- oder Notenabzüge, die früher selbstverständlich waren, fallen immer schmaler aus – und beginnen erst bei einer höheren Anzahl an Rechtschreibfehlern. Und auch keine Kultuspolitik sitzt den Schulen in den Nacken, es anders zu machen. 

 

Wobei selbst das auf eine gewisse Weise wieder konsequent ist. Denn zu den nicht häufig ausgesprochenen Wahrheiten gehört, dass viele Lehrer selbst nicht mehr richtig die Rechtschreibregeln beherrschen. Warum? Weil sie es erst selbst nicht in der Schule gelernt haben und weil das Thema Orthografie anschließend auch im Lehramtsstudium vielerorts und in vielen Fächern mit einem (geduldigen, verständnisvollen, resignierten?) Achselzucken behandelt wird. Wieso sollten diese Lehrer also bei ihren Schülern mit Nachdruck ahnden, was bei ihnen selbst auch nicht geahndet wurde?

 

Wer heute also über die miesen Rechtschreibfähigkeiten der Schulabgänger meckert, sollte eigentlich bei dem Stellenwert dieser Kompetenzen in den Curricula vieler Lehramtsstudiengänge ansetzen. Aber, wenn sogar Ministerpräsidenten, die früher einmal Lehrer waren, diese Situation nicht wirklich als Problem sehen, warum sollte sich dann etwas daran ändern?

 

Wer nicht korrekt schreiben kann,
verliert ein wichtiges Stück Souveränität

 

Bleibt eine Frage: Hat Kretschmann am Ende vielleicht sogar Recht? Übertreiben jene, die sich über das schlechte Deutsch in den Bewerbungsschreiben angehender Azubis aufregen? Sollten sich mal diejenigen Professoren lockermachen, die ihren Erstsemestern trotz allem noch Vorträge über die Bedeutung korrekten Schreibens halten? 

 

Die Antwort auf all diese Fragen muss meines Erachtens entschieden "Nein!" lauten. Korrekt lesen und schreiben ist eine Kulturtechnik genauso wie das kleine Einmaleins, die Prozentrechnung oder der Dreisatz. Solche Kulturtechniken verlieren durch die Digitalisierung nicht an Einfluss, im Gegenteil: Je weniger selbstverständlich sie im Alltag gebraucht werden, weil die kleinen digitalen Helferchen sie übernehmen, desto wichtiger ist es, dass wir sie noch selbst beherrschen. Sonst verlieren wir ein wichtiges Stück Souveränität über unser Leben. 

 

Hinzu kommt etwas Zweites: Wer korrekt schreibt, wird auch künftig bessere Chancen haben beim Start ins Erwachsenenleben. Weil das Beherrschen von Rechtschreibung, Zeichensetzung und korrekten Satzbaus eben mehr ist als die Fähigkeit, eine Rechtschreibprüfung laufen zu lassen. Fragen Sie mal in den Personalabteilungen nach. Hätte Kretschmann Recht, müssten die Bewerbungsschreiben dort dank der Digitalisierung in den vergangenen Jahren ungeahnte Qualitätssprünge gemacht haben.  

 

Und ich wage mich noch weiter aus dem Fenster: Menschen, die korrektes Deutsch beherrschen, hatten und haben privilegierte Positionen in der Gesellschaft. Diese Menschen erkennen an den schriftlichen Äußerungen anderer sehr schnell, ob diese es auch tun. Und schließen davon, ob mal will oder nicht, auf deren Persönlichkeit. Korrekte Rechtschreibung hat also auch etwas mit sozialer Inklusion zu tun. Wie gesagt: Vielleicht hat Kretschmanns skurrile, aber in die Zeit passende Äußerung das Potenzial, eine überfällige Debatte anzustoßen. Aber anders, als ihr Urheber sich das gedacht hat.

 

Seine Kultusministerin Eisenmann, die CDU-Spitzenkandidatin bei der nächsten Landtagswahl und damit seine Konkurrentin um den Ministerpräsidentenposten ist, hat Kretschmann diesmal übrigens nicht nur nicht beigepflichtet, sondern in deutlichen Worten widersprochen. Seit vergangenem Schuljahr gibt es sogar einen neuen "Rechtschreibrahmen" in Baden-Württemberg, gedacht vor allem für Nicht-Deutschlehrer. Vielleicht sollte Kretschmann das mal jemand sagen. 

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Kommentare: 11
  • #1

    Ilkay Müller (Dienstag, 28 Januar 2020 09:59)

    Ich korrigiere dauernd die Deutschfehler in studentischen Arbeiten (Lehramt) - vor allem die Grammatik (Akkusativ, Verwendung von Demonstrativpronomen statt Personalpornomen etc.). Das kostet sehr viel Zeit, die eigentlich gar nicht zur Verfügung steht. Oder eben woanders eingespart werden muss, etwa bei der Forschung. Und ehrlich: Die Studierenden sollten sich sprachlich korrekt ausdrücken können, wenn sie an die Universität kommen.

  • #2

    Chris (Dienstag, 28 Januar 2020 11:15)

    Manfred Spitzer hatte dazu ein passendes Bsp aus China, die mal meinten, die Schriftsprache nicht mehr zu lehren. Mit der gleichen Argumentation der digitalen Eingabemedien. Wenn mich richtig erinnere, sprang danach die Zahl derer, die nicht mehr handschriftlich schreiben konnten. Das war leider auch eines der wenigen sinnvollen Dinge, die er in seinem Vortrag erwähnt hatte.
    Nebenbei: Der Quantensprung ist etwas sehr, sehr kleines!

  • #3

    McFischer (Dienstag, 28 Januar 2020 13:44)

    Danke für den Beitrag - wobei ich Ihrer Position einfach mal keck widerspreche. Was Sie als eines Ihrer Argumente angeben ist schon richtig:
    "Menschen, die korrektes Deutsch beherrschen, hatten und haben privilegierte Positionen in der Gesellschaft. "
    Genau aus diesem Grund würde ich dann fordern, dass dieser Mechanismus nicht noch bedient werden sollte, sondern abgeschwächt gehört.
    Denn ganz ehrlich: Wir werden es niemals schaffen, allen Schülerinnen und Schülern bis zum Schulabschluss korrektes Schreiben beizubringen. Dazu ist mE die deutsche Sprache/Orthographie einfach zu schwierig. Ich kenne kaum Menschen in meinem akademisch geprägten Umfeld, die wirklich in der Lage sind, fehlerfreie Texte in deutscher Sprache zu verfassen, auch ich nicht. Also wird es ein Distinktionsmerkmal bleiben, die deutsche Rechtsschreibung weitgehend korrekt zu beherrschen - wenn wir es als ein solches ansehen. Wenn wir die Qualität von Menschen aber weniger danach beurteilen, dann gewinnen wir etwas, zum Beispiel die Zeit, allen Schülerinnen und Schülern einen guten (nicht perfekten!) Umgang mit der deutschen Sprache beim Schulabschluss zu vermitteln. Das erscheint mir in einer immer diverseren Gesellschaft deutlich wichtiger.

  • #4

    Johannes Klenk (Dienstag, 28 Januar 2020 14:48)

    Lieber Herr Wiarda,
    ich fände es sehr hilfreich, wenn Sie Herrn Kretschmanns Zitat in vollem Umfang wiedergeben würden (zum Nachlesen: https://twitter.com/i/web/status/1221720835381235714).
    Für mich macht das volle Zitat nicht den Eindruck, dass Winfried Kretschmann Rechtschreibung für unwichtig hält - er sieht aber mit der anhaltend starken Abhängigkeit des Bildungserfolgs von Herkunft und den Herausforderungen der Digitalisierung andere Themen, die dringender bildungspolitische Aktivität erfordern.

  • #5

    Andreas Wittke (Dienstag, 28 Januar 2020 14:57)

    Wir verlieren andauernd Souveränität, denn wer kann heute noch mit Falk Stadtplänen navigieren oder mit einem Feuerstein eine Grill anzünden? Welches Kind kann in Zeiten des Klettverschlusses eine Schleife oder welcher Mann Mann eine Krawatte binden?
    Dafür können wir aber superschnell in der Wikipedia nachschauen, können mit zwei Daumen schneller tippen, als manch Rentner mit Stift analog schreiben kann. Wir können für Fotos perfekt posen und können extrem lange Texte mit Emojis auf 240 Zeichen kürzen :-)

    Liebe Grüße
    Andreas Wittke

  • #6

    Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 28 Januar 2020 17:33)

    @Vielen Dank für den Hinweis, lieber Herr Klenk. Dieser Tweet vom Montag war mir noch nicht bekannt; ich habe mich auf die Berichterstattung in verschiedenen Zeitungen aufgrund der dpa bezogen. Allerdings erscheint mir auch die Langversion nicht weniger kritisch. Die Bedeutung von Rechtschreibung zu relativieren, ist meines Erachtens nie eine gute Idee, wie auch immer sie argumentativ eingebettet ist. Denn die soziale Exkursion und gerechtere Bildungschancen haben ja eben sehr viel mit der Vermittlung von Grundfertigkeiten zu tun, wie ich versucht habe, in meinem Kommentar auszuführen. Viele Grüße! Ihr J-M Wiarda

  • #7

    Jana (Mittwoch, 29 Januar 2020 14:06)

    ich bin Herrn Wiarda für diesen Beitrag und seinen Verweis auf die Bedeutung als Kulturtechnik sehr dankbar. Ich möchte vehement Herrn McFischer widersprechen. Die älteren Generationen beweisen, dass das Erlernen von Rechtschreibung und Grammatik (hier bezogen auf den schriftlichen Bereich) über viele soziale Schichten hinweg möglich ist bzw. war. Ihre Aussage würde bedeuten, dass die Kinder heute zu dumm und zu unfähig sind, das zu erlernen. Die deutsche Sprache war schon immer schwer bzw. an manchen Stellen unlogisch und eben nicht komplett mit Regeln versehen. Deshalb muss die Rechtschreibung den Kindern beigebracht und von ihnen geübt werden, um wirklich beherrscht zu werden. Dafür braucht es auch die entsprechende Kompetenz der zuständigen Lehrer (vor allem Grundschullehrer) und Zeit im Unterricht. Das Üben findet im Unterricht z. B. nicht ausreichend statt. Diktate von ungeübten Texten gibt es im Deutschunterricht auch nicht mehr, sind aber die einzige Möglichkeit zu prüfen, ob Kinder die Rechtschreibung beherrschen und wo noch Übungsbedarf besteht. Das bekommen derzeit aber nur aktuelle Eltern zu spüren und nicht unbedingt Bildungspolitiker, Ministeriumsmitarbeiter und Hochschullehrende (es sei denn, sie sind doch noch so jung, dass sie Kinder in der Schule haben).
    Unfähigkeit und/oder Laxheit der Lehrer sowie Zeitmangel darf jedenfalls nicht der Grund sein, den nachfolgenden Generationen das umfassende Beherrschen dieser Kulturtechnik zu verweigern. Diese drei Faktoren müssen dringend korrigiert werden. Das hat nichts mit der Digitalisierung zu tun und diese kann nicht als Erklärung für den laxen Umgang mit der Rechtschreibung herhalten. Das ist unverantwortlich.

  • #8

    Gast aus Niedersachsen (Mittwoch, 29 Januar 2020 15:25)

    @ Chris in Nr. 2: Ich finde in Herrn Wiardas Text nur das Wort "Qualitätssprünge", aber keinen Quantensprung. Dass letzterer eine sehr kurze Distanz überwindet, ist bekannt, sicher auch Herrn Wiarda.

  • #9

    Gast aus Niedersachsen (Mittwoch, 29 Januar 2020 15:32)

    Lieber Herr Wiarda,
    vielleicht ist es Ihnen nicht aufgefallen - Sie zitieren Herrn Kretschmann vermutlich aus zweiter Hand, einschließlich mehrerer Kommata, welche sich im Original (ich beziehe mich auf die Twittermeldung) nicht finden.
    Diesen Satz meine ich: "Aber die Bedeutung, Rechtschreibung zu pauken, nimmt ab, weil wir heute ja nur noch selten handschriftlich schreiben." Wer hat denn da wann nachgebessert? Abgesehen davon, dass die kretzmannsche Aussage "... die Beduetung Rechtschreiung zu pauken nimmt ab ...." schon krudes Deutsch ist.
    Viele Grüße!

  • #10

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 29 Januar 2020 16:26)

    @Gast aus Niedersachsen: Herzlichen Dank für Ihren Hinweis, genauso ist es: Ich habe, wie ich schrieb, die dpa aufgrund der Berichterstattung in verschiedenen Zeitungen zitiert. Inwiefern die Twittermeldung selbst nochmal eine redigierte Fassung ist (sie kam ja erst drei Tage später), kann ich nicht sagen. Was ich mir nicht vorstellen kann: dass das nicht bei Twitter enthaltene Zitat eine Erfindung der Journalistenkollegen ist. Dann hätte Kretschmann sicher explizit die Berichtigung verlangt. Auf jeden Fall eine spannende Genese – nur an der Kernkritik ändert das alles aus meiner Sicht nichts. Viele Grüße!

  • #11

    McFischer (Freitag, 31 Januar 2020 14:32)

    @Jana: Vielen Dank für Ihre Replik - und ja, man kann über dieses Thema streiten. Sie sprechen relativ viele Punkte an, Schulen, Lehrer, Komplexität der dt. Sprache etc.
    Ich will hier nur auf einen Punkt eingehen:
    "Die älteren Generationen beweisen, dass das Erlernen von Rechtschreibung und Grammatik (hier bezogen auf den schriftlichen Bereich) über viele soziale Schichten hinweg möglich ist bzw. war."
    Ich habe jetzt keine empirischen Daten dazu; aus eigener Erfahrung (auch im familiären Umfeld), würde ich der Aussage aber stark widersprechen. Ich kenne genug Personen in der Generation meiner Eltern und Großeltern, die eben bei Weitem nicht korrekt schreiben konnten - und sich oftmals gar nicht getraut haben, etwas zu schreiben (ohne Analphabeten zu sein). Sie waren 'Arbeiterkinder' und 'Arbeiter', keine Akademiker.
    Und ich würde dazu stehen, dass neben 'class' eben heute auch 'race' in Deutschland eine viel höhere Bedeutung bekommen hat. Die Gesellschaft hat sich verändert (Stichwort 'Diversity'), da kann man nicht einfach sagen, dass 'es früher ja auch ging' - was ja m.E. nicht einmal stimmt.
    Also quasi ein zweifacher Widerspruch von meiner Seite.
    (By the way: wie viele Deutsche - jung oder alt - würden 'Wiederspruch' statt 'Widerspruch' schreiben... ich vermute, nicht wenige...)