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"Wir alle haben in den letzten Tagen erlebt, wie dynamisch die Lage ist"

KMK-Präsidentin Stefanie Hubig über Schule in Zeiten von Corona, grundlegende Reformen in der Kultusministerkonferenz und die Frage, wie Deutschland endlich mehr Bildungsgerechtigkeit schafft.

Stefanie Hubig, 51, ist seit 2016 Ministerin für Bildung des Landes Rheinland-Pfalz. Vorher war die promovierte Juristin Staatssekretärin im Bundesjustizministerium. Im Jahr 2020 ist Hubig Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Foto: Ministerium/Georg Banek.

Frau Hubig, noch am Donnerstag wollten die Kultusminister generelle Schulschließungen vermeiden. Am Freitag machte dann ein Bundesland nach dem anderen wegen der Corona-Pandemie seine Kitas und Schulen dicht, Rheinland-Pfalz ebenfalls. Haben die Ministerpräsidenten sich durchgesetzt?

 

Nein. Die Expertise der Fachleue hat sich durchgesetzt. Diese Entscheidung ist sicher niemandem leichtgefallen und sie hat Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben. Aber die wichtigste Frage ist doch: Wie können wir eine Ausbreitung des Coronavirus eindämmen oder die Ausbreitung wenigsten verlangsamen? Und da richten wir uns nach den Empfehlungen der Expertinnen und Experten beim Robert-Koch-Institut, aus der Charité und aus anderen Institutionen. 

 

Glauben Sie, dass die ergriffenen Maßnahmen wirklich helfen werden?

 

Niemandem sind die Schulschließungen leicht gefallen. Wenn sie nicht notwendig wären, hätten wir sie nicht gemacht. Aber wir handeln verantwortungsbewusst. Wir richten uns wie gesagt nach den Expertinnen und Experten, und die sagen: Schulschließungen können helfen, die Verbreitung des Virus zumindest zu verlangsamen. Und wenn das so ist, dann muss man das auch machen. Ob uns das gelingt, wird man abschließend aber erst später beurteilen können. Wir alle haben in den letzten Tagen erlebt, wie dynamisch diese Lage ist.

 

"Man wird die Lage ständig
neu bewerten müssen"

 

Wie geht es nach Ende der regulären Osterferien weiter? Wie lange können die Kitas und Schulen geschlossen bleiben?

 

Es passiert hier gerade sehr viel in sehr kurzer Zeit. Deshalb wird man die Lage ständig neu bewerten müssen, und das tun wir. Vor allem kümmern wir uns jetzt aber zunächst um die akuten Fragen, und die lauten etwa: Wie stelle ich sicher, dass Lehren und Lernen trotz der regulär geschlossenen Schulen weitergehen kann? Wie gestalte ich die Notfallbetreuung in den Kitas und Schulen pädagogisch sinnvoll und wertig. Parallel dazu arbeiten wir aber auch an den verschiedenen Szenarien, die kommen können. 

 

Von welchen verschiedenen Szenarien sprechen Sie?

 

Wir hoffen, dass die Schulen nach den Osterferien wieder öffnen können. Aber wir können davon nicht sicher ausgehen. Deshalb müssen wir uns auch Gedanken machen für den Fall, dass die Schulen auch über die Osterferien hinaus weiter geschlossen bleiben und Vorsorge treffen. Ein solches Szenario wirft ganz neue Fragen auf. Zum Beispiel, wie dann Leistungsnachweise der Schülerinnen und Schüler erbracht werden könnten. Damit beschäftigen wir uns im Land und das sind auch Fragen, die wir auf KMK-Ebene besprechen müssen.  >>>


Die Kitas, Schulen und Hochschulen im ganzen Land sind dicht

Bis Freitagabend hatten alle Bundesländer nach und nach bis auf Mecklenburg-Vorpommern die generelle Schließung von Kitas und Schulen veranlasst. Die meisten bereits vom heutigen Montag an, die übrigen in den kommenden Tagen. Nachdem auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) am Sonnabend die Schließung verkündete, ist der Unterricht damit bundesweit ausgesetzt, vorerst bis zum Ende der regulären Osterferien.

 

In den meisten Bundesländern können nur Eltern, die in "kritischen Infrastrukturen" arbeiten, für ihre betreuungspflichtigen Kinder weiter eine Betreuung in Anspruch nehmen. Dies sollte zunächst an einigen wenigen Schulen und Einrichtungen organisiert werden.

 

Nach Warnungen von Virologen, dies könne durch die Neusortierung sogar die Verbreitung des Virus beschleunigen, sollen die Kinder nun in den meisten Bundesländern an ihrem angestammten Ort betreut werden – in stark ausgedünnten Gruppen. Die Lehrer sollen in den 

Schulen bleiben und für die Kinder Arbeitsbögen und digitale Lerngelegenheiten bereitstellen. 

 

Alle Bundesländer haben zudem beschlossen, den Start des neuen Semesters an den Hochschulen auf den 20. April zu schieben. Vielerorts bleiben bis dahin auch Mensen, Hochschulbibliotheken und weitere Einrichtungen geschlossen. Zahlreiche Hochschulen haben bereits angekündigt, den Prüfungsbetrieb bis dahin ebenfalls auszusetzen. 

 

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sicherte zu, dass das BAföG trotz Verschiebung des Semesterstarts normal weiter gezahlt werden soll – für alle Bezugsberechtigten in Schulen und Hochschulen, auch für diejenigen, die ihr Studium erst im April aufnehmen, und trotz bestehender Einreisesperren. "Niemand soll sich wegen der Corona-Pandemie um seine BAföG-Förderung Sorgen machen müssen" sagte Karliczek. Sobald Online-Lehrangebote zur Verfügung stündenhen, sei die Teilnahme daran jedoch "im Sinne der Förderungsvoraussetzungen verpflichtend".



>> Was sagen Sie den Schulabgängern und Abiturienten, die jetzt um Ihre Prüfungen fürchten?

 

Denen sage ich, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Die Abiturprüfungen werden stattfinden. Und wo das planmäßig nicht geht, wird man auf einen späteren Termin ausweichen müssen. Wir Länder haben uns im Zuge der letzten KMK-Sitzung außerdem darauf vereinbart, dass wir Prüfungen und Abschlüsse, die unter diesen besonderen Vorzeichen abgelegt werden – und dazu gehört nicht nur die allgemeine Hochschulreife – gegenseitig anerkennen werden. Keiner Schülerin und keinem Schüler soll ein Nachteil aus dieser besonderen Situation erwachsen.

 

Vergangene Woche sprach man noch verniedlichend von "Corona-Ferien". Sagt inzwischen zu den Schulschließungen auch kaum noch jemand. Doch apropos Ferien: Bevor es um das Virus ging, haben die Kultusminister monatelang über die künftige Aufteilung der Sommerferien-Termine gestritten. Mit welchem Ergebnis?

 

Wir haben ein rollierendes System mit 14 beteiligten Bundesländer, wobei jedes dieser Länder im Laufe der Jahre einmal früh, einmal spät dran ist. Dieses System hat sich bewährt, daran sollten wir festhalten. Ich bin davon überzeugt, dass wir auch für die Zeit nach 2025 eine gute Lösung hinbekommen.

 

"Es wäre fairer, wenn alle 16 Bundesländer
bei den Sommerferien rollieren"

 

Unter Berücksichtigung der Südländer Bayern und Baden-Württemberg, die als einzige feste Termin haben und darauf beharren, dass sich daran nichts ändert? 

 

Unter Berücksichtigung der Südländer. Wenn das bedeutet, dass die neue Lösung so ähnlich aussehen wird wie die bisherige, dann ist das eben so. 

 

Also war der ganze Streit nur ein Sturm im Wasserglas?

 

Keineswegs. Es war richtig, diese Diskussion zu führen. Die historischen Gründe für den Sonderweg Bayerns und Baden-Württembergs, die Pfingst- bzw. Ernteferien, in denen die Kinder ihren Eltern helfen mussten, sind heute nicht mehr relevant. Außerdem haben auch andere Bundesländer inzwischen Pfingstferien. Insofern war es an der Zeit zu fragen: Ist die Regelung, wie wir sie heute haben, noch angemessen? Wäre es nicht fairer, wenn alle 16 Länder rollieren? Die Antwort aus meiner Sicht ist: eindeutig ja.

 

Nur dass die Südländer sich querstellen.

 

Und deshalb sage ich eben auch: Wir alle haben Interesse an einer funktionierenden Ferienregelung, Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, auch die Tourismusbranche braucht die Planungssicherheit. 

 

Vom Zaun gebrochen hat den Streit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Im Herbst erteilte er dem von Bund und Ländern geplanten Nationalen Bildungsrat eine Absage, weil er einen zu großen Einfluss des Bundes auf die bayerische Bildungspolitik fürchtete, und brachte nebenbei den zünftigen Satz: Auch die Sommerferien bleiben bayerisch. Der Koordinator der SPD-Bildungsminister, Hamburgs Senator Ties Rabe reagierte…

 

…und wünschte den Bayern viel Spaß im Stau auf den bayerischen Autobahnen, ich erinnere mich.

 

Und er sagte auch, dieser Schuss Söders werde nach hinten losgehen, wonach es derzeit nicht aussieht. Im Gegenteil: Das Kalkül Söders, die Debatte weg vom Bildungsrat zu steuern, hat hervorragend funktioniert. Haben sich die SPD-Minister von dem viel wichtigeren Thema ablenken lassen?

 

Nein, haben wir nicht. Bei der Dezember-KMK haben wir intensiv über den Bildungsföderalismus diskutiert und über die Frage, wie ein Bildungsrat aussehen könnte, der den Bedenken Bayerns und anderer Länder Rechnung trägt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir sehr wohl einen Bildungsrat brauchen, wobei noch offen ist, ob der am Ende auch so heißt. Wir SPD-Ministerinnen und Minister sind dafür, die Unionsseite favorisiert die Bezeichnung "Wissenschaftlicher Beirat". Entscheidend ist, dass wir uns unmittelbar nach der Absage an den Nationalen Bildungsrat, wie der Koalitionsvertrag im Bund ihn vorsah, auf ein alternatives Gremium geeinigt haben. Und zwar einstimmig.

 

"Wir haben sehr viel drängendere Herausforderungen
als die Sommerferien- Regelung"

 

Und jetzt?

 

Jetzt arbeiten wir die Details aus. Bei der KMK-Sitzung vor dem Wochenende kam das zu kurz, wegen der besonderen Situation vor dem Hintergrund des Coronavirus. Aber meine Kollegen und Kolleginnen und ich werden weiter zum Bildungsrat und auch über den geplanten Bildungsstaatsvertrag beraten. Ich bin sicher, wir gehen da einen sehr konstruktiven Weg – abseits des öffentlichen Getöses. Dass die Sommerferien-Geschichte so ein großes Echo fand, liegt auch daran, dass die Öffentlichkeit ständig danach fragt. Ich spreche das Thema nicht aktiv an, denn ich bin tatsächlich der Meinung, dass wir sehr viel drängendere Herausforderungen haben.

 

So, wie sie von der neuen Bildungsrat-Eintracht nach dem Rauswurf des Bundes schwärmen, könnte man fast meinen, Sie wären Söder und ihren CDU-Kultusministerkollegen dankbar gewesen, dass sie die GroKo-Pläne gekillt haben?

 

Dieser Eindruck ist falsch. Richtig ist, dass alle Kultusminister, ob SPD, CDU oder andere, anfangs nicht glücklich waren mit dem, was da im Koalitionsvertrag stand. Dass es zum ersten Mal ein bildungspolitisches Gremium mit nahezu paritätischer Besetzung zwischen Bund und Ländern geben sollte, war schon außergewöhnlich für unseren Bildungsföderalismus. Doch dann haben wir uns auf SPD-Seite zusammengesetzt und die Frage nach dem Mehrwert für uns positiv beantwortet. Unsere Reaktion war also konstruktiv, wir hätten mitgemacht. Aber natürlich, als die Absage durch Herrn Söder kam, mussten wir reagieren. Und da haben wir gesagt: Den Kern der Idee wollen wir retten.

 

Was macht diesen Kern aus?

 

Ein wissenschaftliches Gremium, das die Politik berät, wie wir unter Wahrung des Bildungsföderalismus zu mehr bundesweiter Vergleichbarkeit und Qualität bei den Bildungsgängen kommen. Wir wollen und brauchen den Rat der Wissenschaft.

 

Die Beteiligung des Bundes gehört für Sie also nicht zu diesem Kern?

 

Nein, auch wenn ich persönlich damit – je nach Ausgestaltung – wahrscheinlich ein Stückweit besser hätte leben können als manche meiner Kollegen, weil ich die Zusammenarbeit von Bund und Ländern auch als eine Chance gesehen hätte. Beim Digitalpakt haben wir bewiesen, dass wir erfolgreich kooperieren können, ohne den Föderalismus zu gefährden. Jetzt werden wir ein Gremium bekommen, dessen Konstruktion die Länder allein bestimmen und einsetzen werden. Das ist gut so. Doch wir werden den Bund auch einbinden, das halte ich für richtig und wichtig. Da haben meine SPD-Kollegen und Kolleginnen und ich auch erst im Februar in einem Positionspapier deutlich gemacht. 

 

"Der Bildungsrat, wie wir ihn uns vorstellen,
arbeitet unabhängig von der Politik"

 

"Den Bund einbinden" kann alles und nichts heißen. Wie weit wollen Sie dabei gehen?

 

Auch das klären wir gerade. Vor allem die Frage, ob er ständig dabei ist oder abhängig von den konkreten Themen, die im Rat bearbeitet werden, zur Mitarbeit eingeladen wird. Letzten Endes spielt die Einbindung des Bundes aber auch deshalb nicht so eine große Rolle, weil der Bildungsrat, wie wir ihn uns vorstellen, ohnehin unabhängig von der Politik arbeiten und beraten soll. Das ist aus unserer Sicht sehr wichtig. In seine Empfehlungen soll auch das Wissen aus Anhörungen und von weiteren Expertinnen und Experten hinzuziehen. Politik spielt hier also eine untergeordnete Rolle.

 

Nun ja. Immerhin soll die Politik den Plänen zufolge das Arbeitsprogramm des neuen Gremiums mitbestimmen. 

 

Das ist auch richtig so. Immerhin ist es ein Rat, den die KMK einsetzen wird. Es bringt nichts, wenn Wissenschaftler Empfehlungen zu Themen abgeben, bei denen wir Minister sagen: Die bringen uns nicht weiter. Umgekehrt wird es sicher auch nicht so laufen, dass wir dem Bildungsrat eins zu eins vorschreiben, womit er sich beschäftigen soll. Sein Arbeitsprogramm wird im Dialog zwischen Politik und Wissenschaft entstehen, denn genau darum geht es ja: eine stärkere Verzahnung der beiden Seiten und das gemeinsame Entwickeln bildungspolitischer Perspektiven. 

 

Womit wir bei der grundsätzlichen Reform des Bildungsföderalismus wären. Was passiert eigentlich, wenn der seit mehr als zwei Jahren versprochene Bildungsstaatsvertrag scheitert? Wenn Sie und Ihre Kollegen sich nicht auf den großen Wurf einigen können, den alle fordern, aber viele zugleich für unwahrscheinlich halten?

 

Alle Länder sehen die Notwendigkeit und die Dringlichkeit. Wir werden alles daran setzen zu liefern. Es geht um eine Richtschnur in Sachen Mobilität, Vergleichbarkeit und bundesweit gleichwertigen Prüfungen, die uns über viele Jahre begleiten kann. 

 

"Mein Ziel ist, bis zum Ende meiner
KMK-Präsidentschaft ein Ergebnis zu haben"

 

Bis wann wollen Sie liefern? Der interne Zeitplan sieht den Beschluss schon für Juni vor.

 

Ich gehöre zu den Leuten, die sich Dinge so vornehmen, dass sie auch realisierbar sind. Mein Ziel ist auf jeden Fall, bis zum Ende meiner KMK-Präsidentschaft ein Ergebnis zu haben. Aber es gibt noch 15 andere Kultusministerinnen und Kultusminister. Und bei einigen Themen noch Diskussionsbedarf. 

 

Zum Beispiel bei den Passagen zu Abitur. Dort stehen jede Menge Platzhalter drin: für den Umfang der ländergemeinsamen Anteile bei den Abituraufgaben zum Beispiel, aber auch bei der Frage, ab wann die Neuregelungen eigentlich gelten sollen. 

 

Da sind wir dran. Auf der Ebene der Ministerialbeamten, aber auch in der Arbeitsgruppe auf Ebene der Amtschefs der Ministerien. Natürlich steckt die Tücke im Detail, und vor allem bei den sogenannten "Politischen Vorhaben" ist die echte Musik drin.

 

Die "Politischen Vorgaben", von denen Sie sprechen, ergänzen das Abkommen und sollen es konkretisieren. Da stehen auch die Abitur-Details drin. Debatten gibt es aber auch um das Kern-Abkommen. Vor allem um die Frage, ob es überhaupt ein Staatsvertrag werden soll oder etwas anderes.

 

Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich statt für einen Staatsvertrag für eine Ländervereinbarung eintrete. 

 

…die nicht durch alle 16 Parlamente müsste wie ein Staatsvertrag, was ein hohes Risiko des Scheiterns mitbrächte – wenn nur ein Landtag nein sagt.

 

Ich glaube, am Ende ist das, was drinsteht, entscheidend und nicht die juristische Form. Erst einigen wir uns auf den Inhalt und dann auf die Form. 

 

Ist beides voneinander zu trennen? Wenn Sie einen Staatsvertrag beschlössen, wäre die Verbindlichkeit automatisch höher. Und das, was drinsteht, könnte eine andere Wirkung entfalten.

 

Die Wirkung kommt wie gesagt vor allem aus den "Politischen Vorhaben", in denen wir die Intention des Abkommens und die weiteren Schritte ausbuchstabieren. Ich glaube, wenn dort Einigkeit besteht, wird man sich auch bei der Frage nach der Rechtsform des Hauptwerks schnell verständigen. 

 

"Es hilft wenig, wenn alle nur den einen großen Wurf
beim KMK-Abkommen akzeptieren und sonst gar nichts" 

 

Tatsächlich scheinen die meisten Ihrer Kollegen, auch auf der Unionsseite, die ursprünglich den Staatsvertrag favorisierten, aus pragmatischen Gründen auf die Linie einer Vereinbarung eingeschwenkt zu sein. Wenn tatsächlich diese juristisch weniger verbindliche Variante gewählt wird, wäre es umso wichtiger, klare Berichtspflichten als Teil des Abkommens zu vereinbaren. Eine Art Selbstverpflichtung der Länder, über die Umsetzung der Pläne öffentlich Rechenschaft abzulegen. Doch genau denjenigen Paragraphen im Entwurf, der das vorsieht, wollen drei Länder streichen, darunter auch das Ihre. Warum?

 

Zu den Details im Abkommen möchte ich mich an dieser Stelle noch nicht äußern, das sind interne Gespräche, Momentaufnahmen und Work in Progress. Vor einem möchte ich aber doch warnen: dass die Erwartungen an das Abkommen immer weiter in die Höhe schießen. Als Länder müssen wir alle ein Stückweit unsere Maximalpositionen aufgeben. Wir müssen einen Ausgleich finden zwischen den landesspezifischen Eigenheiten, die wir aus guten Gründen erhalten und nicht einfach allesamt aufgeben wollen, und der Notwendigkeit, ein Dokument vorzulegen, das bildungspolitisch Substanz hat. Das wird die große Kunst sein, und es hilft wenig, wenn alle, wie Sie gerade sagten, nur den einen großen Wurf akzeptieren und sonst gar nichts. 

 

Reden wir eigentlich die ganze Zeit nur über neue Regeln und Verfahrensgrundsätzen für die KMK, oder muss sich auch die KMK als Organisation selbst wandeln? Braucht zum Beispiel das Sekretariat der KMK, das die Zusammenarbeit der Minister koordiniert, nicht auch deutlich mehr Personal?

 

Wir haben uns als Kultusministerkonferenz schon stark verändert in den vergangenen anderthalb Jahren. Meine Wahrnehmung ist, dass wir Minister unsere Treffen inzwischen viel besser nutzen für engagierte Diskussionen, wir haben auch einen informellen Kaminabend etabliert, um Dinge abseits des Protokolls zu besprechen. Das beweist, dass meine Kollegen und ich an einem echten bildungspolitischen Diskurs interessiert sind und nicht nur irgendwelche Beschlüsse abnicken, die von unseren Ministerien von langer Hand vorbereitet wurden und längst durch alle Instanzen gegangen sind. 

 

Das klingt so, als müssten die Kultusminister sich gegenüber ihrer eigenen Bildungsbürokratie erst selbst ermächtigen.

 

Es ist wichtig, dass wir unsere Fachleute haben in den Ministerien und im KMK-Sekretariat. Aber ich finde schon, dass wir die Möglichkeit nutzen müssen, am Anfang stärker als bislang bildungspolitische Vorgaben zu machen, und auch am Ende, wenn die Beschlüsse vorbereitet auf dem Tisch liegen, im Zweifel nochmal zu sagen: Das überzeugt uns noch nicht, da müssen wir noch eine Runde weiterdrehen. Selbst wenn es dann manchmal länger dauert.

 

Das Problem der KMK ist auch, dass sie viele ihrer Beschlüsse gar nicht mehr kennt. Sie werden gefasst, und oft kontrolliert keiner, wer sie in den Ländern wie umsetzt. Der Überblick übers gesamtdeutsche Bildungssystem fehlte lange auch deshalb, weil jedes Land seine eigenen Statistikmethoden hatte, die eine deutschlandweite Statistik fast unmöglich machte und teilweise immer noch macht. Unnötige Kleinstaaterei?

 

Was die Statistiken angeht, sind wir längst entscheidende Schritte weitergekommen. Vor allem mit der jüngst vorgelegten Modellrechnung zum bundesweiten Lehrkräftebedarf, die wir jetzt regelmäßig jedes Jahr machen, haben wir gezeigt, dass wir liefern können. 

 

"Wir Minister müssen selbst auf die Umsetzung
der KMK-Beschlüsse achten – deutlich mehr als früher"

 

Sie haben allerdings mit drei Monaten Verspätung geliefert.

 

Aber in einem Umfang und einer Genauigkeit, wie es das vorher noch nie gegeben hat. Wir haben eine Statistikkommission, die auch den einzelnen Landesministerien sehr deutlich macht, wie wichtig ihre Aufgabe ist. 

 

Und was ist mit dem KMK-Sekretariat?

 

Natürlich gilt der Grundsatz: Je mehr Aufgaben die KMK kommt, desto mehr Personal muss perspektivisch auch ihr Sekretariat erhalten. Das ist überall so, aber gleichzeitig sind die finanziellen Möglichkeiten der Länder begrenzt. Deswegen ist mir die neue Dynamik jenseits der organisatorischen und der Ausstattungsfragen ja so wichtig: Wenn Sie sich als Ministerin mit den einzelnen Beschlüssen gedanklich und inhaltlich auseinandersetzen, dann werden Sie sie auch im Kopf behalten. Wenn Sie sie dagegen nur abhaken, weiß am Ende keiner mehr, was beschlossen wurde. Auch das Sekretariat kann unsere Beschlüsse nicht allein nachhalten, das müssen wir Minister selbst tun – und auf ihre Umsetzung achten. Deutlich mehr als in der Vergangenheit.

 

Sie haben die neue Lehrerbedarfs-Prognosen erwähnt. Können wir sicher sein, dass sich damit das Fiasko des gegenwärtigen Lehrermangels nicht wiederholen wird? Oder beginnt der altbekannte Kreislauf bald von Neuem: Als Reaktion auf den Mangel werden sehr viele Pädagogen ausgebildet, in ein paar Jahren herrscht Überschuss, es wird kaum noch ausgebildet, und irgendwann ist der Mangel von Neuem da? Natürlich zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie und Ihre Kollegen längst nicht mehr Minister wären…

 

Woher wissen Sie, dass ich dann nicht mehr Ministerin bin? Aber im Ernst: Ich glaube, wir alle haben aus der gegenwärtigen Krise gelernt, dass wir genügend Studienplätze brauchen, und zwar auf Dauer, und dass wir auf Dauer bedarfsgerecht einstellen müssen.

 

Waren nicht auch die Kultusminister, die vor Jahren Einstellungsstopps erließen, der Meinung, das sei "bedarfsgerecht" gewesen?

 

Schauen Sie nach Rheinland-Pfalz: Ich habe in diesem Schuljahr alle Planstellen mit grundständig ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern besetzen können. Der Quer- und Seiteneinsteiger spielen bei uns kaum eine Rolle. Warum? Weil wir nie Studienkapazitäten abgebaut haben, weil wir kontinuierlich ausgebildet haben, auch wenn wir zwischendurch mal ein paar Lehrkräfte ans Saarland oder anderswohin abgeben musste, das hat sicherlich auch mit unserer Lage zwischen mehreren großen Bundesländern zu tun. Jetzt setzen wir alles daran, dass die Absolventen unserer Hochschulen bei uns in Rheinland-Pfalz bleiben, und das gelingt uns auch. 

 

"In Rheinland-Pfalz habe ich alle Planstellen
mit ausgebildeten Lehrkräften besetzen können"

 

Sie waren also schlauer als die anderen?

 

Nein, auch anderswo arbeiten kluge Leute in den Ministerien. Das alles ist kein einfaches Geschäft. Zum Beispiel ist nicht nur die absolute Zahl der Schülerinnen und Schüler entscheidend, sondern auch, wo diese sich befinden. Der demografische Wandel führt zum Beispiel dazu, dass die Klassen auf dem Land viel kleiner werden, man also mehr Lehrkräfte für die gleiche Schülerzahl braucht. Hinzu kommen pädagogische Veränderungen, zum Beispiel die viel größere Rolle, die die Inklusion heute an den allgemeinbildenden Schulen spielt. Diese und andere Faktoren müssen Sie sechs Jahre und mehr im Voraus antizipieren. Unsere vergleichsweise günstige Situation in Rheinland-Pfalz hat übrigens schon viel mit der Arbeit meiner Vorgängerinnen zu tun, diese Art der vorausschauenden Planung hat bei uns Tradition.

 

Ihre direkte Vorgängerin Doris Ahnen ist jetzt Ihre Finanzministerin. Hilft Ihnen das?

 

Ich sage immer im Spaß, dass unsere Finanzministerin einen großen Vorteil hat: dass sie vorher Bildungsministerin war. Und einen großen Nachteil: dass sie vorher Bildungsministerin war. Sie weiß um die Bedeutung einer vernünftigen Unterrichtsversorgung, allerdings lässt sie sich auch an anderer Stelle nichts vormachen, das ist auch gut so. In diesem Sinne arbeiten wir sehr gut und sehr gerne zusammen.  

 

Selten tobte der Abwerber-Wettbewerb zwischen den Ländern so heftig wie heute. Vergangene Woche hat auch Mecklenburg-Vorpommern bekanntgegeben, die Lehrergehälter drastisch anzuheben. Wie weit soll sich diese Schraube eigentlich drehen?

 

Ich persönlich finde, dass die Bezahlung nicht das allein Entscheidende ist. Wir sehen zum Beispiel, dass auch Länder, die ihrer Förderlehrkräfte nach A 13 besolden, die freien Stellen kaum besetzen können. In Rheinland-Pfalz heben wir die Beamtengehälter binnen drei Jahren um zehn Prozent an, doch für ebenso wichtig für die Attraktivität unserer Schulen halte ich, dass wir die kleinsten Klassen an den Grundschulen haben und dass die gesellschaftliche Wertschätzung von Lehrern bei uns im Bundesland sehr hoch ist.  

 

Vorhin haben Sie den Digitalpakt als Beispiel dafür genannt, dass Bund und Länder längst erfolgreich zusammenarbeiten. Man könnte es allerdings genau andersherum deuten: Bislang ist kaum ein Digitalpakt-Euro in den Schulen angekommen.

 

Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Klar hätten wir es uns einfacher machen und das Geld einfach bedingungslos an die Schulträger auskehren können, um dann zu gucken, was passiert. Wir haben uns aber als Bund und Länder gemeinsam dafür entschieden, dass die Träger und Schulen sich zunächst Gedanken machen sollen, wo sie das Geld pädagogisch am sinnvollsten einsetzen können. Und dass sie medienpädagogische Konzepte vorlegen müssen, um Mittel zu beantragen. Das dauert etwas länger. Aber wir beobachten gerade, wie die Kurve der Anträge steil nach oben geht. 

 

"Wenn wir Bildungspolitiker darauf
eine abschließende Antwort wüssten"

 

Wie groß ist der Rückstand der deutschen Schulen in Sachen Digitalisierung wirklich?

 

Ja, auf den ersten drei Plätzen steht Deutschland nicht gerade im internationalen Vergleich. Aber wir holen auf und dank des Digitalpakts hat die Entwicklung nochmal an Fahrt aufgenommen: gut so. 

 

Weniger Fahrt aufgenommen hat Deutschland bei der Bildungsgerechtigkeit. 

 

Ja leider, die jüngste Pisastudie stellt fest, dass die Schere eher wieder auseinandergeht. 

 

Woran liegt das?

 

Eine schwierige Frage. Wenn wir Bildungspolitiker eine abschließende Antwort darauf wüssten, dann wäre es nicht so, wie es ist. In Rheinland-Pfalz sind wir das Land, wo die soziale Herkunft am wenigsten den Bildungserfolg bestimmt. Doch auch wir müssen noch stärker die Schulen in herausfordernden Lagen unterstützen. Gerade haben wir zusammen mit der Wübben-Stiftung ein Projekt aufgelegt, in dem wir Schulen und Schulleitungen fitmachen und darin stärken wollen, mit der zunehmenden sozialen Diversität ihrer Schülerinnen und Schüler umzugehen. Aber auch damit ist es nicht getan. Die Kollegien an besonders betroffenen Schulen, die wir anhand eines Sozialindex klassifiziert haben, bekommen Supervision und Coaching, Entlastungsstunden und ein Extrabudget für Unterrichtsmaterialien oder für Nachbarschaftsprojekte, wie etwa Elterncafés. Über die Eltern erreichen wir die Kinder. 

 

Gerade hat der Deutsche Philologenverband die Ergebnisse einer Umfrage unter Gymnasiallehrern veröffentlicht. Insgesamt sind die mit ihrer Arbeit recht zufrieden, aber was sie sorgt…

 

…ist die Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler. Ich weiß. Ich kann aber nur sagen: Die Schülerschaft ist ein Abbild der Gesellschaft und wie sie sich verändert hat. Es ist entscheidend, dass der Umgang mit Vielfalt im Studium eine größere Rolle spielt, im Referendariat genauso und in den angebotenen Fortbildungen. An den Grundschulen, den integrierten Gesamtschulen, den Förder- und Berufsschulen und den Realschulen plus, wie sie bei uns im Land heißen, ist die Herausforderung übrigens noch größer als an den Gymnasien. 

 

"Lehrer müssen auch
lernen, sich abzugrenzen"

 

Reicht es da, an die Ausbildung und den guten Willen der Lehrkräfte zu appellieren? Braucht es nicht auch ganz andere Berufsgruppen an den Schulen?

 

An den Realschulen plus und den Integrierten Gesamtschulen sorgen wir dafür, dass jede Schule auch Sozialarbeiter hat. An zwei Grundschulen läuft ein Modellprojekt mit Gesundheitsfachkräften – auch in diese Richtung denken wir. Die Schulpsychologie haben wir auch gestärkt und personell aufgestockt. Zugleich denke ich aber, dass auch die Lehrerinnen und Lehrer jenseits der Vermittlung von Unterrichtsstoff weitere, ja, teilweise auch neue Aufgaben haben: die pädagogische Begleitung ihrer Schülerinnen und Schüler, die Kontaktpflege mit den Eltern und in den Sozialraum außerhalb der Schule hinein. Lehrer müssen aber auch lernen, sich abzugrenzen, was ihnen manchmal schwerfällt, weil sie so engagiert sind. Sie müssen sagen: Bis hierhin bin ich zuständig und jetzt gebe ich ab ans Jugendamt, an Psychologen oder Psychiater. Womit wir beim Thema multiprofessionelle Teams wären. 

 

Ihre Vorgänger als KMK-Präsidenten, Helmut Holter aus Thüringen und Alexander Lorz aus Hessen, haben im Laufe ihrer Arbeit Spaß an der Aufgabe gefunden – so dass ihnen der Abschied von der Präsidentschaft sichtlich schwer fiel am Ende. Wird Ihnen das auch so gehen?

 

Bei mir hat es gar nicht so lange gedauert, ich hatte von Anfang an Lust auf diese tolle Aufgabe – gerade in der heutigen Zeit, wo wir so große Themen auf dem Tisch liegen haben. Umgekehrt ist die ganze Koordinierungsarbeit, die vielen Termine, Sitzungen und Reisen, die Sie als Präsidentin zusätzlich zu Ihrem normalen Job als Ministerin haben, enorm umfangreich. Ich kann mir vorstellen, dass man nach dem Jahr schon spürt, was man gemacht hat. 

 

Der Philologenverband schlägt trotzdem vor, dass die KMK ihr Oberhaupt künftig auf drei Jahre wählt, um schlagkräftiger und sichtbarer zu sein.

 

Das würde mehr Kontinuität bringen, doch könnten Sie als Landeskultusminister dann definitiv nicht mehr Ihrer Hauptaufgabe gerecht werden. Übrigens halte ich auch nichts vom dem Vorschlag, deshalb einen ehemaligen Kultusminister zum Präsidenten zu berufen. Um die nötige Wirkung im Kreis Ihrer Kollegen entfalten zu können, brauchen Sie die Rückkopplung ins eigene Land. Sonst wären Sie am Ende womöglich drei Jahre lang Präsidentin, aber komplett wirkungslos.


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