Alle 16 Länder einigen sich bei den Prüfungen auf gemeinsame Linie – auch Bildungsministerin Prien zieht ihre Pläne zurück, die Prüfungen in ihrem Bundesland ausfallen zu lassen.
GESTERN DIE ANSAGE, heute die Kehrtwende: Schleswig-Holstein will jetzt doch Abiturprüfungen durchführen – und alle anderen 15 Länder ebenfalls. Darauf haben sich die 16 Kultusministerinnen und -minister am Nachmittag in einer Telefonschalte geeinigt. Damit kassiert Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) ihre Ankündigung vom Vortag.
Die KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD) sagte in einer ersten Stellungnahme: "Ich freue mich, dass wir uns in einer so schwierigen Situation innerhalb der Ländergemeinschaft auf einen gemeinsamen Beschluss geeinigt haben." Hubig, die zugleich Bildungsministerin in Rheinland-Pfalz ist, das einzige Bundesland, das bereits den größeren Teil der schriftlichen Prüfungen hinter sich hat, fügte hinzu: "Wir haben klare Vorgaben für unsere Schülerinnen und Schüler. Für sie ist es besonders wichtig, dass sie jetzt Planungssicherheit haben, gleichzeitig steht ihre Gesundheit für uns an erster Stelle."
Die Kultusministerkonferenz habe ihren Beschluss vom 12. März bekräftigt, "wonach die Länder die erreichten Abschlüsse des Schuljahres 2019/20 auf der Basis gemeinsamer Regelungen gegenseitig anerkennen werden". Die 16 Minister betonten in ihrer neuen gemeinsamen Erklärung, dass "alle Schülerinnen und Schüler keine Nachteile aus der jetzigen Ausnahmesituation haben werden und dass sie noch in diesem Schuljahr ihre Abschlüsse erwerben können".
"Zum jetzigen Zeitpunkt" sei keine Absage von
Prüfungen nötig, befinden die Länder gemeinsam
Die Prüfungen, insbesondere die schriftlichen Abiturprüfungen, fänden zum geplanten oder zu einem Nachholtermin "bis Ende des Schuljahres statt, soweit dies aus Infektionsschutzgründen zulässig ist". Schülerinnen und Schüler müssten eine ausreichende Zeit zur Vorbereitung erhalten. "Die Prüfungen können auch in geschlossenen Schulen stattfinden, sofern es keine entgegenstehenden Landesregelungen gibt." Die Länder könnten ausnahmsweise auf zentrale Elemente aus dem Abitur-Aufgabenpool verzichten und diese durch dezentrale Elemente ersetzen.
Am Ende des gemeinsamen Beschlusses steht dann der entscheidende Satz: "Zum heutigen Zeitpunkt stellen die Länder fest, dass eine Absage von Prüfungen nicht notwendig ist. Die Länder stimmen sich eng in der KMK über das weitere Vorgehen ab."
Die Kehrtwende, die Karin Prien damit innerhalb von 24 Stunden hingelegt hat, ist bemerkenswert. Noch gestern am späten Nachmittag hatte sie im Interview gesagt: "Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen schätzen die Lage ganz ähnlich ein wie ich. Wir sollten dann auch dieselben Schlussfolgerungen aus ihr ziehen." Womit sie meinte: Die Abschlussprüfungen bei Abitur und weiteren Schulabschlüssen streichen – und "eine geeignete Formel zu finden, mit der wir die vorhandenen Leistungen auf die Abschlussnote umrechnen werden". Sie wolle sich dafür einsetzen, sagte Prien weiter, "dass wir in der Kultusministerkonferenz dafür noch in dieser Woche gemeinsame Regeln beschließen." Die gemeinsamen Regeln haben die Kultusminister nun in der Tat vereinbart – aber andere als von Prien intendiert.
Prien: "Zwei meiner Ziele
habe ich erreicht"
Was ist seit gestern passiert? Teilnehmer der KMK-Telefonschalte berichten übereinstimmend von einer extrem hitzigen Stimmung. Der Zorn vieler Minister auf Prien sei wegen ihres Alleingangs groß gewesen, sie habe den Bildungsföderalismus, obwohl es Alternativen gegeben habe, in schwierige Fahrwasser gebracht, "großer Mist" sei das gewesen. Der Druck auf die schleswig-holsteinische Ressortchefin sei enorm gewachsen. Trotzdem waren einige verwundert, wie schnell sie dann zurückgerudert sei. Offensichtlich habe ihr im eigenen Kabinett der Rückhalt für ihre Initiative gefehlt, mutmaßen einige ihrer Kollegen. Andere sagten, es tue ihnen Leid für die schleswig-holsteinischen Abiturienten, die jetzt ein Wechselbad der Gefühle erlebten.
Prien selbst sagte mir auf Anfrage, auch in ihrem Bundesland werde nun Abitur geschrieben, und zwar wie geplant direkt im Anschluss an die Osterferien vom 21. April an. Auf die Frage, ob sie mit ihrer Initiative gescheitert sei, verwies Prien auf drei Ziele, die sie im Sinne der schleswig-holsteinischen Abiturienten gehabt habe: Klarheit vor den am Freitag beginnenden Osterferien, wie es weitergeht; ein bundesweit abgestimmtes Vorgehen – und möglichst der Verzicht auf die Prüfungen in einer kaum planbaren Ausnahmesituation. "Zwei dieser Ziele haben wir dankenswerterweise gemeinsam erreicht. Dafür danke ich den Kolleginnen und Kollegen."
Nach jetzigen Stand sollen auch die Prüfungen für die übrigen Schulabschlüsse nun doch auch in Schleswig-Holstein stattfinden, sagte Prien. Angesprochen auf den Ärger, den ihr Vorschlag bei ihren KMK-Kollegen ausgelöst hatte, sagte die Ministerin: Sie habe gestern einen "Vorschlag zur Diskussion" unterbreitet. Es sei verständlich, dass die anderen Minister sich dadurch unter Druck gesetzt gefühlt hätten. "Manchmal hilft ein solcher Druck, um gemeinsam Ergebnisse zu erzielen."
In einer Pressemitteilung äußerte sich Prien etwas später auch noch zur Sitzung der Kieler Landesregierung am Nachmittag. Nachdem ihr der Gesundheitsminister Heiner Garg heute mitgeteilt habe, "dass es nach jetzigem Stand doch vertretbar sein dürfte, unter Einhaltung besonderer Regeln zum Infektionsschutz, Prüfungen in den Schulen stattfinden zu lassen", habe das Kabinett beschlossen, das Abitur regulär stattfinden zu lassen.
Rabe: Wichtiges Zeichen, dass die
KMK in der Krise funktioniert
Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann, die die CDU-geführten Kultusminister koordiniert, begrüßte den gemeinsamen Schwur von heute Nachmittag. "Wir brauchen Einheitlichkeit, Fairness und gerechte Bedingungen für alle Schülerinnen und Schüler", sagte sie. Der Beschluss zeige, dass die Länder zu einem "kooperativen Föderalismus" und abgestimmten und geregelten Verfahren in der Lage seien. "In diesem Zusammenhang bin ich froh, dass Schleswig-Holstein von seinen bisherigen Plänen abgewichen ist."
Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, auf SPD-Seite Eisenmanns Pendant in der Länderkoordination, betonte, es liegt auch im Interesse der betroffenen Schüler "dass sie kein Abitur light bekommen, sondern einen Abschluss, der überall uneingeschränkt anerkannt wird – ohne rechtliche Zitterpartien." Die heutige Entscheidung sieht Rabe als Stärkung der KMK. "Dass wir in dieser angespannten Situation einen so klaren Beschluss hinbekommen haben, ist ein wichtiges Zeichen, dass die KMK in dieser Krise sogar zu größerer Einigkeit und Geschlossenheit gefunden hat als zu normalen Zeiten", sagte er.
Der Deutsche Philologenverband, der Prien heute Vormittag für ihre Initiative kritisiert hatte, lobte die KMK für ihre Einigkeit. "Damit wird soviel an Chancengleichheit und struktureller Ähnlichkeit für die Abiturprüfungen in allen Ländern geleistet, wie das zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist", teilte der DPhV auf Twitter mit. Die Ablehnung eines "Bundeszentralabiturs" erweise sich als richtig, ebenso richtig sei aber die Forderung nach mehr Vergleichbarkeit. "Denn für die Durchführung der Abiklausuren in den Ländern zu veränderten Terminen können nun auch die vorhandenen Länderabiklausuren herangezogen werden."
Die bundesweite Online-Petition "Abi 2020 Umdenken: Durchschnittsabitur" läuft währenddessen weiter. Inzwischen hat sie fast 108.000 Unterzeichner erreicht, Hauptforderung: "Keine Abitur-Klausuren in 2020".
Nachtrag am 27. März:
Heute hat Bildungsministerin Karin Prien einen Offenen Brief an die Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein geschrieben. Den Wortlaut finden Sie hier.
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Oliver Locker-Grütjen (Mittwoch, 25 März 2020 15:56)
Abitur 2020?
Und dann?
Warum drehen wir nicht die Zeit etwas zurück, stellen die Beschleunigung in Frage (viele Fremdsprachen bereits im Kindergarten, frühere Einschulung, G8, kürzere Studienzeiten) und nutzen die Krise zumindest zur bildungspolitischen Entschleunigung. Somit werden wir in diesen schweren Zeiten sicherlich vielen Schülern, Studierenden aber auch Eltern gerecht(er).
Will sagen: ein Jahr der Entschleunigung, Wiedereinführung des Zivildienstes, aber für Männer und Frauen (dies wieder wie ehedem zur Unterstützung der Gesundheits- und Pflegedienste), soziales oder ökologisches Jahr zur Verpflichtung und Horizonterweiterung, Studieren in einem flexibleren Korsett ohne den Zwang, mit 20 Jahren fertig sein zu müssen und niemals jenseits des Tellerrandes gesehen zu haben.
Nur ein Gedanke: Nicht alles war früher schlechter…
Dr. Oliver Locker-Grütjen
Schwarzenbergstraße 2a
45472 Mülheim an der Ruhr