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Krise, Ruck, Aufbruch

Nächste Woche beginnt das Sommersemester? Von wegen! An vielen Hochschulen läuft es seit Wochen. Welche Erfahrungen sie mit Präsenz-Verbot und Komplett-Digitalisierung über Nacht gemacht haben: ein Erfahrungsbericht aus Lübeck von Muriel Helbig.

DAS FRÜHJAHR 2020 an der Technischen Hochschule Lübeck im Zeitraffer. 12. Februar: Der physische Austausch mit unseren chinesischen Partnerhochschulen wird für das Sommersemester abgesagt, rund 60 Studierende sind betroffen. 7. März: Das Gesundheitsamt bestätigt die erste Infektion mit Covid-19 an der TH Lübeck. 9. März: Alle Kontaktpersonen sind in Quarantäne, die Hochschule bleibt offen. 12. März: Die Präsenzlehre wird bundesweit verboten. Montag, 16. März: Die Vorlesungszeit an der TH Lübeck beginnt. 5000 Studierende strömen in die Studiengänge. Unsere Lehrende wollen sie erreichen. Aber unseren gewohnten Hochschulalltag gibt es nicht mehr.

 

In dieser "Woche 1" des Verbots der Präsenzlehre Mitte März geht es zunächst darum, die Gesundheit der Hochschulmitglieder zu gewährleisten. Wir organisieren die form- und fristlose Absage von Prüfungen? 500 Beschäftigte werden mehr oder minder planvoll ins Homeoffice geschickt. Reiserückkehrer dürfen die Gebäude nicht betreten. Wir schließen die Türen ab – ohne eigenen Schlüssel oder Termin kommt keiner mehr rein. Wir sind uns sofort einig: Dafür öffnen wir unsere virtuellen Tore umso weiter. Wir arbeiten mit Hochdruck an der Umstellung auf digitale Lehre. Um das zu schaffen, halten wir den Digitalisierung-Expertinnen und Experten an unserer Hochschule zunächst den Rücken frei: Fragen und Anforderungen sollen eine Woche lang zurückgestellt werden, wir versprechen allen Lehrenden: Dann kommen wir auf Euch zu.


Muriel Helbig, 45, ist seit 2014 Präsidentin der Technischen Hochschule Lübeck. Die promovierte Psychologin gehört zum Sprecherkreis der Fachhochschulen in der Hochschulrektorenkonferenz (HKR) und ist seit 2020 Vizepräsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD)Foto: TH Lübeck.


Aber wir haben uns vertan. Es geht schneller. In Woche 2 berichten alle Fachbereiche übereinstimmend, mindestens 80 Prozent der Veranstaltungen – mit Ausnahme von praktischen Übungen – seien umgestellt und hätten begonnen. Ein Studiengang wird sogar pünktlich zum Vorlesungsbeginn und damit innerhalb von Tagen komplett digital angeboten. Die Lehrenden nutzen unser Lernmanagement-System Moodle mit verschiedenen Erweiterungen: virtuelle 
Programmierumgebungen 


und Wikis, Screencasts und Lehrvideos, digitale Sprechstunden oder Skripts mit wöchentlichen Tests. Mit BigBlueBotton und Jiitsi führen wir innerhalb weniger Tage zwei neue Systeme für die digitale Lehre und für Webkonferenzen ein. Wir bieten zunächst zweimal täglich für alle Lehrenden per Webkonferenz Sprechstunden an zu Fragen rund um die Digitalisierung der Lehre an. Die Themen reichen von technischer Unterstützung bis zu didaktischen Fragen. Mit zunehmender Expertise der Lehrenden haben wir die Frequenz der allgemeinen Sprechstunden auf einmal täglich reduziert und bieten nun zusätzlich individuelle Termine an – beides wird sehr gut angenommen. Die Lehrenden nutzen darüber hinaus den kollegialen Austausch und helfen sich gegenseitig über die Fachbereichsgrenzen hinweg. Wovon wir immer geträumt haben, wird plötzlich wahr: Ein digitaler Ruck geht durch die Hochschule. 

 

In Woche 4 fangen wir wieder an,
an die Zukunft zu denken

 

In Woche 3 wird dieser Ruck noch spürbarer. In fächerübergreifenden Webkonferenzen mit Studierenden und Studiengangsleitungen fallen Begriffe wie "Euphorie" und "Aufbruchstimmung". Unsere Expertinnen und Experten für digitale Lehre werden in den Himmel gelobt, fast scheint man erstaunt, dass sie nicht nur kompetent, sondern auch noch hilfsbereit, freundlich und nahbar sind. Die Studierenden freuen sich, dass so schnell Angebote geschaffen wurden. Sie bemerken zwar, dass manche Lehrende besser mit den digitalen Medien umgehen könnten als andere, aber "wir loben alle, die es versuchen".

 

In Woche 4 denken wir schon wieder an die Zukunft. Wie geht es weiter, wird gefragt, und: Wie retten wir diese neu geschätzten digitalen Elemente in Lehre, Studium und Arbeit in die Nach-Corona-Zeit? Wenn diese Stimmung hält, dann haben wir innerhalb von einer Woche an unserer Hochschule eine digitale Revolution geschafft. 

 

Das ist keine Lübecker Geschichte. So oder so ähnlich lief es für Studierende und Lehrende an vielen Hochschulen in Deutschland. Es gab nicht viel Zeit zum Überlegen. Wir mussten einfach loslegen, parallel zur kompletten Reorganisation auch des privaten Lebens. Vielleicht war aber sogar das ein Vorteil.

 

Eine erste Bilanz oder:
Fünf Lehren nach Woche 5

 

Nun, in Woche 5, können wir erste Lehren ziehen. Basierend auf unseren Erfahrungen an der TH Lübeck lassen sich vor allem fünf Punkte als erster Zwischenstand festhalten:

 

(1) Wir haben digitales Lehren, Studieren und Arbeiten schätzen gelernt. Nun sollten wir darin besser werden. Denn die Umstellung ist nicht rein technischer Natur, es geht auch um "digitale soft skills" wie etwa die Frage nach der Aktivierung der Studierenden. Wichtig wird sein, dass nicht jeder das Rad für sich neu erfindet, sondern freiwillig und wertschätzend auf vielfach vorhandene Expertise, Erfahrung und Lösungen zurückgreift – und dass Lehrende sich aktiv weiterbilden. 

 

(2) Wir schätzen – und das war nie ein Widerspruch zur Digitalisierung – den persönlichen, direkten Kontakt. Einiges können (und wollen!) wir nicht digitalisieren. Dazu zählen praktische Übungen, Exkursionen und ähnliches, aber beispielsweise auch die Einführungsveranstaltungen in das Studium, die für internationale Studierende umso relevanter sind, und manche Gremienarbeit.

 

(3) Der Aufenthalt im Homeoffice hat sich bis zu einem gewissen Umfang auch für Arbeitsplätze als praktikabel erwiesen, bei denen wir es uns vorher nicht hätten vorstellen können, beispielsweise im Drittmittelcontrolling, in der Personalsachbearbeitung, im Führen von Teams.

 

(4) Unsere internationalen Kontakte haben gehalten – und mehr als das. Die chinesischen Partner schicken uns Atemmasken und Briefe der Unterstützung, die amerikanischen optimistisch bereits die Namen der Studierenden, die bald kommen wollen. Bleibt zu hoffen, dass Studierende nach den erfahrenden Beschränkungen durch die Corona-Pandemie zukünftig vielleicht sogar noch stärker die Chance eines Auslandsaufenthaltes schätzen und nutzen werden.

 

(5) Mein persönliches Highlight: Wie wichtig unsere Studierenden ihren Lehrenden sind. Sie haben ihre Lehre digitalisiert, vor allem jedoch ihre Studierenden nicht alleine gelassen. Sie haben Kontakt gehalten, waren erreichbar – auch über Themen des Studiums hinaus. Unseren Lübecker Leitspruch: "Gute Lehre ist unser Fundament" könnten wir direkt ergänzen mit: "Unsere Studierenden liegen uns am Herzen".

 

Was Hochschulen und Studierende jetzt
brauchen: noch mehr Flexibilität

 

Also läuft alles rund? Nicht ganz. Wir schieben eine Bugwelle an unerledigten Aufgaben vor uns her, nicht nur in Studium und Lehre. Personalentscheidungen, Drittmittelanträge, Tagungen wurden verschoben. Wir wissen nicht genau, wie gut wir unsere Studierenden tatsächlich erreicht haben, wie konsequent sie in dieser Ausnahmesituation tatsächlich studieren konnten, wie erfolgreich unsere Kompetenzvermittlung war. Was wir jetzt benötigen, ist noch mehr Flexibilität, dazu kluge und nachvollziehbare Entscheidungen. Und den Mut zur Wahrheit: Ganz ohne alle Nachteile für Studierenden wird es nicht gehen. Wie sollen wir beim besten Willen beispielsweise garantieren, dass alle ausgefallenen Prüfungen zum Wunschtermin nachgeholt werden können?

 

Daher ist es sinnvoll, das Sommersemester 2020 für all diejenigen anzurechnen, die es sich wünschen. Und es wäre sinnvoll, die Vorlesungszeit im Sommer zunächst wie geplant zu beenden und nicht zu verlängern – unabhängig davon, ob der Hochschulalltag nach dem 20. April mit Präsenzlehre oder ohne stattfindet. Um uns etwas mehr Planungssicherheit in Zeiten der Corona-Pandemie zu geben, sollten wir stattdessen im Herbst eine zusätzliche und zum Sommersemester zählende Vorlesungs- und Prüfungszeit anbieten, um Ausfälle aufzufangen. Das bedingt großzügige Bewerbungs- und Übergangregelungen ins nächste Semester, beim Wechsel des Studienganges oder beim Eintritt in einen Bachelor- oder Masterstudiengang. 

 

Das Wintersemester 2020/2021 muss flexibel beginnen können. Jetzt Einheitlichkeit beim Vorlesungsbeginn durchzusetzen, käme für viele Hochschulen einem politisch indizierten, wochenlangen und vollständigen Verbot der Lehre gleich – härter als zu „Corona-Zeiten.“ Dieser Ein-Starttermin-für-alle-Vorschlag ist zum Glück vom Tisch, was nicht heißt, dass einheitliche Vorlesungszeiten wie beispielsweise in Hessen nicht grundsätzlich eine gute Idee sein könnten. Aber das ist ein dickeres Brett.

 

Zumindest für die TH Lübeck gilt: Wenn wir die oben beschriebene Flexibilität zugestanden bekämen, dann wären wir im Sommersemester 2021 nicht nur wieder im Lot, sondern um Welten weiter. Dann wären wir eine blended university: digital und persönlich für unsere Studierenden da.



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Kommentare: 2
  • #1

    T. Schmelter (Montag, 20 April 2020 18:15)

    Der Beitrag beschreibt die Situation sehr trefflich.

  • #2

    U. Wenkebach (Freitag, 24 April 2020 15:12)

    Stimme voll und ganz zu. Ich freue mich, eine Hochschulleitung (und besonders eine Präsidentin) zu haben, die mit voller Kraft und Effizienz die Neu-Orientierung dieser TH wirklich gut meistert. Viele Studierende und auch Lehrende haben (hier unter Druck) neue Kommunikationsformen finden müssen, die sie sicher in die "nach Corona Zeit" mitnehmen und die unsere Lehre weiter verbessern werden. Videokonferenzen haben sich jetzt schon einen Platz in meinem "Kommunikationsportfolio" erobert, was vorher nicht der Fall war.