· 

Geht noch mehr?

Sachsen öffnet die Kitas und Grundschulen für alle gesunden Kinder an allen Tagen – ein Vorbild für andere Bundesländer?

DEUTSCHLANDS KITAS und Schulen sollen ihre Tore weitaus schneller öffnen, als viele, vor allem auch die Kitas und Schulen selbst, sich das noch vor ein, zwei Wochen haben vorstellen können. Die meisten Landesregierungen setzen mit großer Eile die weitreichenden Beschlüsse um, die die Regierungschefs am Mittwoch vereinbart haben. Doch mit jedem Schritt nach vorn wird die Zerrissenheit des Bildungssystems deutlicher.

 

Die neue Corona-Normalität, die sich für Kinder, Eltern, Lehrkräfte und ErzieherInnen abzeichnet, ist in den meisten Bundesländern eine des auf wenige Stunden oder Tage begrenzten Präsenzunterrichts. In den Kitas wiederum werden die Betreuungsquoten hochgefahren, damit möglichst bald wieder alle Kinder profitieren, doch der Trade-Off zwischen mehr Kindern und längeren Betreuungszeiten ist vielerorts kaum zu bewerkstelligen. Die Kita- und Schulleitungen beschweren sich – zu Recht – über die Holterdipolter-Zeitpläne mancher Bildungsministerien, über unklare Ansagen und die Überforderung, die durch die Rückkehr so vieler Kinder in schneller Folge entsteht. Die Eltern beschweren sich – ebenfalls zu Recht – dass ihnen die paar Tage Präsenzunterricht kaum helfen. Im Gegenteil: Das mühselige Stückchen Planbarkeit, dass sie sich zwischen Home Office, Homeschooling und Kinderbetreuung aufgebaut haben, gerät ins Wanken, wenn jetzt das eine Kind jeden Montag zur Schule muss, das andere aber am Dienstag und womöglich das dritte nur halbtags in die Kita-Notbetreuung gehen kann. Was sollen sie ihren Arbeitgebern sagen? Wie sollen sie dieses Hin und Her auf Dauer bewerkstelligen können?

 

Denn von Dauer, so steht zu befürchten, wird diese neue Corona-Normalität vielerorts sein – solange bis ein Impfstoff verfügbar ist. So lange müssten, warnen viele Virologen, die kleinen Gruppen aufrechterhalten werden, die Abstandsgebote, all die Einschränkungen beim Transport zur Schule und in den Pausen, die die Kultusminister, und für die Kitas ganz ähnlich die Jugendminister, in ihre Hygienekonzepte geschrieben haben.

 

Auffällig ist allerdings, dass die Kehrseite dieser neuen Realität, die von den Familien verlangt wird, bislang von der Politik nicht einmal in Angriff genommen wird. Wenn Mütter und Väter wegen der Corona-Beschränkungen nicht mehr richtig arbeiten können, wenn besonders die Frauen massive finanzielle und Karrierenachteile erleiden, das muss der Schaden zumindest teilweise durch ein für das Dauer der Krise gezahltes Corona-Elterngeld ausgeglichen werden. Ein Elterngeld, das den Familien ermöglichen würde, den neuen Corona-Alltag zu bewältigen, ohne sich darüber völlig zu zerreiben.

 

Sind die zeitlichen Einschränkungen von
Präsenzunterricht und Kitas wirklich unvermeidbar?

 

Dass die Öffnung der Kitas und Schulen die pädagogische Seite des Problems ein Stückweit lösen wird, dass die Interessen der Kinder endlich eine größere Rolle spielt, ist gut. Doch was nicht angeht: dass die Politik einerseits den Familien zur Eindämmung der Infektion weiter enorme Einschränkungen zumutet, sie andererseits aber mit den Folgen dessen im Stich lässt. 

 

Es gäbe freilich noch eine zweite Möglichkeit. Die Bildungsjournalistin Susanne Vieth-Entus deutet sie heute im Tagesspiegel an. "Was bringt es", schreibt sie, "Klassen wegen des Sicherheitsabstands zu dritteln, wenn dieselben Kinder dann doch im Pulk vor der Schule und an der Bushaltestelle zusammenrücken? Anspruch und Wirklichkeit sollten in Einklang gebracht werden." Und dann schreibt Vieth-Entus noch: Das "kulante Angebot aus der ersten Zeit der Krise", auf alle Lehrer und Erzieher jenseits der 60 zu verzichten, "muss für alle, die keine weiteren Krankheiten zurückgenommen werden. Schließlich gilt es in anderen gefährdeten Berufsgruppen auch nicht."

 

Es sind kontroverse Vorschläge, und doch sind sie richtig und sollten in zwei Stufungen nicht nur in Berlin umgesetzt werden: Die älteren Pädagogen sollten tatsächlich kurzfristig in den Präsenzunterricht und in die Betreuung zurückkehren, womit nicht nur ihre jüngeren Kollegen ein Stückweit entlastet würden – sondern sich auch die personellen Kapazitäten für mehr Schul- und Kitastunden merklich erhöhten. Auch gegenüber anderen Berufsgruppen würde das, wie Vieth-Entus zu Recht andeutet, ein Stückweit mehr Gerechtigkeit bedeuten.

 

Und was die Lockerung des Abstandsgebots in den Schulen angeht: Hierüber wird zu reden sein, sobald das Abstandsregeln für die Gesellschaft insgesamt gelockert werden. Das nächste Mal wollen Bund und Länder darüber am 5. Juni sprechen. Es ginge nicht an, dass für Schulen dann Sonderregeln gelten. 

 

Österreich, die Schweiz und Sachsen: Inspirationen
für ein Umdenken in der Corona-Bildungspolitik

 

Wenn schon Sonderregeln, dann umgekehrt: Denn auch wenn längst noch nicht geklärt ist, wie ansteckend kleinere Kinder tatsächlich sind, so gibt es viele ernstzunehmende Studien und Forscher, die von einer weitaus geringeren Gefahr als bei den Größeren ausgehen. Erst gestern berichtete der Spiegel von der Arbeit österreichischer Epidemiologen, die die Verbreitung des Virus in Österreich rekonstruiert haben – über die Zuordnung von rund einem Viertel aller bekannten Infektionen zu verschiedenen Ausbruchsherden, sogenannten Clustern. Das Ergebnis: Die Forscher der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) fanden kein einziges dieser 169 Cluster in Schulen oder in Kitas – auch vor den Schulschließungen nicht. Kein einziges Mal sei ein Kind als Infektionsquelle vorgekommen, wird eine Forscherin zitiert.

 

In der Schweiz wiederum hat das Bundesamt für Gesundheit angesichts der verschiedenen Studien bereits festgelegt: Die Rückkehr zur weitgehenden schulischen Normalität bei Unter-10-Jährigen sei ab sofort vertretbar. Wegen ihrer geringen Rolle im Infektionsgeschehens und weil es bei kleinen Kindern unwahrscheinlich sei, dass die Abstands- und Sicherheitsmaßnahmen einhalten könnten, sollten sie sich insbesondere in den unteren Klassen der Pflichtschulen "möglichst normal im Klassenverbund, auf Schulweg und auf den Pausenhöfen verhalten und bewegen können".  

 

So steht es in den sogenannten "COVID-19-Grundprinzipien" zur Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts an Pflichtschulen. Und weiter: Weil die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei den Über-10-Jährigen zunehme, sollten bei ihnen mit steigendem Alter mehr Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden, die diese aber ja auch besser einhalten könnten. Als Reaktion hat zum Beispiel das Volksschulamt Zürich beschlossen: Die Gruppengrößen dürfen maximal 15 Schüler betragen. Es werden in den Grundschulen 12 bis 15 Wochenstunden gegeben, was wie in anderen Schulformen etwa der Hälfte der üblichen Präsenzzeit entspricht. 

 

Doch auch in Deutschland gibt es Beispiele, wie man es anders machen kann: Sachsen lässt vom 18. Mai wieder alle Kinder in die Kitas und Grundschulen – jeden Tag, allerdings in strikt voneinander getrennten Gruppen. Den Plänen zufolge muss sowohl innerhalb als auch im Außenbereich der Einrichtungen gewährleistet sein, dass die Kinder verschiedener Gruppen keinen Kontakt zueinander haben. Die gleichen Regeln gelten für Grundschulen, zitiert die Freie Presse Kultusminister Christian Piwarz (CDU). Man habe sich für dieses Modell entschieden, sagte Piwarz, weil es ein Höchstmaß an Betreuung bei gleichzeitiger Einhaltung des Gesundheitsschutzes ermögliche. Von der Idee, die Kinder in Kleingruppen zu betreuen, sei man abgekommen, weil dies einen Regelbetrieb über Monate nicht gestattet hätte. Mit der Öffnung wolle man Druck von den Familien nehmen. In den einzelnen Gruppen oder Grundschulklassen sollen keine besonderen Regeln gelten. Es falle kleineren Kindern schwer, Abstandsregeln einzuhalten.

 

Andere Bundesländer sollten sehr genau darauf schauen, was in der Schweiz, in Sachsen und anderswo passiert, auch ob dort die Infektionszahlen jetzt wieder schneller als anderswo steigen – und es als Gradmesser nehmen für ihre eigenen Bemühungen um Bildungsgerechtigkeit und die Entlastung der Familien. Vor allem dann, wenn das Wissen über die Rolle von Kindern in der Pandemie weiter wächst: Bald werden die Ergebnisse der ersten deutschen Kinder-Großstudie vorliegen, durchgeführt in Baden-Württemberg. Sollte auch sie bestätigen, worauf mittlerweile eine Vielzahl von Studien hindeutet, dann muss die Politik ihre Corona-Strategie und Kitas und Schulen erneut überdenken. In jedem Fall wäre es ein Fehler, die jetzt gemachten Hygiene- und Abstandspläne, die Festlegung der neuen Corona-Normalität an Kitas und Schulen für die nächsten Monate schon in Stein zu meißeln. 



Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    B.K. (Sonntag, 10 Mai 2020 07:08)

    Das Statement

    "Das "kulante Angebot aus der ersten Zeit der Krise", auf alle Lehrer und Erzieher jenseits der 60 zu verzichten, "muss für alle, die keine weiteren Krankheiten zurückgenommen werden. Schließlich gilt es in anderen gefährdeten Berufsgruppen auch nicht""

    halte ich für kurz gegriffen. Der große Unterschied ist, dass in den meisten anderen Berufen stark risikominimierende Sicherheitsmaßnahmen (Abstand, Masken, physische Barrieren) etc. realistisch ergriffen werden können, während dies bei z.B. Grundschullehrern kaum möglich ist bzw. politisch nicht gewünscht ist (Maskenpflicht für Kinder, Erlaubnis selbst Maske zu tragen). D.h. hier würden Risikogruppen deutlich höher gefährdet als z.B. bei Büroarbeit, Tätigkeiten im Einzelhandel etc. Insofern ist es m.E. richtig, dass der Dienstherr seinen Fürsorgepflichten nachkommt.