Was macht das Coronavirus mit unserer Gesellschaft? Inwiefern ist es gerechtfertigt, den Schutz vor der Pandemie vor alles Andere zu setzen? Und: Wird die Politik ihrer Verantwortung gerecht? Die Philosophen Holger Burckhart und Michael Quante suchen angesichts wachsender gesellschaftlicher Spannungen gemeinsam nach Antworten.
Herr Burckhart, Sie sind Philosoph und Diskursethiker; Herr Quante, Ihr Schwerpunkt ist die Praktische Philosophie. Bevor Sie Ihre disziplinären Brillen aufsetzen, möchte ich Sie beide ganz persönlich fragen: Wie viel Angst macht Ihnen die Corona-Pandemie – um sich selbst und die Menschen, die Sie lieben?
Michael Quante: Ehrlich gesagt, um mich selbst nicht besonders viel. Wir gehören zwar vom Alter und anderen Faktoren her ein Stückweit zur Risikogruppe. Aber wir leben auf dem Land, wir konnten uns die ganze Zeit frei bewegen, wir haben keine kleinen Kinder, um die wir uns sorgen müssten. Das ist sicherlich aber auch Teil des Problems für viele von uns: dass die Gefahrenlagen sehr abstrakt bleiben, die Einschränkungen und Verbote aber sehr konkret spürbar wurden.
Holger Burckhart: Da geht es mir ähnlich. Persönlich hatte ich eigentlich nie Angst, weil ich davon ausgehe, dass man durch sein eigenes diszipliniertes Verhalten den Selbstschutz signifikant erhöhen kann. Viel stärker berührt mich, was die Kontaktbeschränkungen in vielen Familien ausgelöst haben mögen: an Stress, an möglichen Gewaltausbrüchen aus dem Frust über die Isolation heraus. Diese Sorge vor den sozialen Auswirkungen des Virus hat mich die ganze Zeit über umgetrieben, und sie verstärkt sich gerade. Denn je stärker die Einschränkungen gelockert werden, desto mehr werden die gesellschaftlichen Konflikte aufbrechen: zwischen denen, die schnell zurück wollen zur Normalität, zumindest möglichst nah an sie heran, und den anderen, die jede schnelle Öffnung ablehnen als große Gefahr für sich und die anderen. Wir erleben ja an vielen Orten diese Spannungen, die sich auch in Aggressionen entladen, das kann zu einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft als Ganzes führen.
Quante: Und dabei haben wir noch gar nicht über Deutschland hinausgesehen. Die Ungleichheiten werden sich nicht nur in unserer Gesellschaft verstärken. International drohen in den nächsten zwei, drei Jahren politischen Verwerfungen, in manchen lateinamerikanischen Ländern zum Beispiel. Die ökonomischen und gesundheitspolitischen Konsequenzen einer solchen Entwicklung lassen sich noch gar nicht erfassen. Ich hoffe, dass es in den nächsten anderthalb Jahren einen Impfstoff geben wird, dass es uns gelingt, die medizinische Seite der Pandemie in den Griff zu bekommen. Aber gesellschaftlich wirkt das Virus weltweit wie ein Brandbeschleuniger, es verstärkt die bestehenden Ungerechtigkeiten, Egoismen und Nationalismen.
Michael Quante, 58, ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie
an der Universität Münster. Von 2012 bis 2014 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Seit 2016 ist Quante auch Prorektor seiner
Universität.
Foto: WWU/Peter Wattendorff.
Holger Burckhart, 64, ist Philosoph und seit 2009 Präsident der Universität Siegen. Vorher war er Professor für Anthropologie und Ethik in den Rehabilitationswissenschaften an der Universität zu Köln. Über viele Jahre fungierte er als Vizepräsident für Lehre und Studium der
Hochschulrektorenkonferenz (HRK).
Foto: Universität Siegen.
Sie haben beide nur wenige Sätze über die gesundheitlichen Gefahren des Virus verloren – und viele über seine gesellschaftlichen Auswirkungen. Dabei hat in der öffentlichen Debatte bis vor kurzem das Ziel, die Infektionskurve abzuflachen, alle Warnungen vor den Folgen der Eindämmungsversuche überstrahlt. Es wurde fast nur auf die Zahlen der an COVID-19 Erkrankten und Gestorbenen geschaut.
Quante: Jetzt muss ich doch nochmal was Persönliches sagen. Tatsächlich fühle ich mich unwohl, wenn ich beim Einkaufen oder beim Spazierengehen beobachte, dass andere sich nicht an die Abstands- und Hygieneregeln halten, wenn da eine Gruppe junger Menschen, die offensichtlich nicht in einem Haushalt leben, zusammen herumlaufen. Das ist aber nur meine persönliche Perspektive, so wie alle Menschen eine haben, ihre ganz persönliche Einstellung zu Risiken, zu Fragen von Gesundheit und Krankheit. Deswegen möchte ich nicht den Fehler machen, das Coronavirus und seine Auswirkungen nur aus meiner persönlichen Lebenswelt zu betrachten, denn die ist so ganz anders, so viel privilegierter als zum Beispiel die einer alleinerziehenden Mutter in einer 55-Quadratmeter-Stadtwohnung ohne Balkon. Auch Kleinkünstler oder Gastwirte haben ganz andere Sichtweisen auf gesellschaftliche Abstandsregeln und Kontaktverbote als ein verbeamteter Hochschullehrer, wie ich es bin. Das muss ich konstatieren und in meinen Schlussfolgerungen vorsichtig sein.
"Das ist kein Unwetter, kein Sturm, den man
fühlen und deshalb fürchten kann; aber gerade
seine Unsichtbarkeit und unser Nichtwissen über
es macht das Virus so gefährlich."
Welche Schlussfolgerungen sind das?
Quante: Es war nachvollziehbar und vollkommen angemessen, in den ersten Wochen alles auf die Primärziele auszurichten. Die waren: möglichst viele Leben retten, die Infektionsketten unterbrechen, kein exponentielles Wachstum bei den Neuinfektionen entstehen lassen. Nach der ersten Vollbremsung müssen wir jetzt aber langsam weiterfahren und schauen: Welche Eindämmungsmaßnahmen waren effektiv und wo gab es Nebeneffekte, an die keiner gedacht hat. Niemand konnte vorher alles überblicken und abschätzen. Jedes vorsichtige Taktieren und Lavieren der Politik, wie wir es im April gesehen haben, war keine Orientierungsschwäche, sondern lag in der Natur der Sache. Genauso ist es vertretbar, dass jetzt auch neue Stimmen in der Debatte laut werden und das Bild komplexer machen: die der Juristen, die vor dem Aufgeben verfassungsrechtlich garantierter Freiheiten warnen zum Beispiel. Am Anfang wollte sie vielleicht keiner hören, aber jetzt müssen wir ihre Einwände sehr ernstnehmen.
Burckhart: So ist es: Die Debatte über den Erreger musste am Anfang so erregt geführt werden, um jedem einzelnen klar zu machen: Das ist kein Unwetter, kein Sturm, den man fühlen und deshalb fürchten kann; aber gerade seine Unsichtbarkeit und unser Nichtwissen über es macht das Virus so gefährlich. Das war anfangs ein rein instrumentelles Handeln der Erzeugung gesellschaftlichen Bewusstseins, der Bekämpfung des Virus mit allen Mitteln und bei allen Ungewissheiten, die das wissenschaftlich bedeuten musste. Mein Eindruck ist: Diese erste Phase haben wir als Gesellschaft sehr erfolgreich bewältigt. Aber damit sind wir an dem Punkt angelangt, auf den Wolfgang Schäuble neulich hingewiesen hat: Jetzt können und müssen wir den Diskurs öffnen, mir müssen nach den langfristigen sozialen Folgen des Shutdowns fragen, den psychologischen, den wirtschaftlichen, denen für unser Bildungswesen. Und wir müssen als Gesellschaft unsere Ziele neu justieren und gewichten. Genau das forderte Schäuble, und genau das ist passiert mit den Lockerungsbeschlüssen der vergangenen Woche.
Sie reden beide von einem neuen Abwägen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und medizinischen Notwendigkeiten im Angesicht der Pandemie. Doch es gibt viele Menschen, die eine Fortsetzung der harten Eindämmungsmaßnahmen fordern, die sagen: Mit einem Virus lässt sich nichts abwägen, nichts verhandeln. Ein Virus kennt keine Kompromisse, keinen Mittelweg.
Quante: Ein Argument, das politisch nachvollziehbar ist. Doch würde ich auch hier immer fragen: Wer sagt das? In welcher Lebenssituation befindet sich eine Person, die so argumentiert? Meine Antwort: Es geht nicht darum, das Virus von irgendetwas zu überzeugen, sondern uns als Menschen gegenseitig zum Begründen unserer Positionen aufzufordern, uns gegenseitig eine Ernsthaftigkeit abzuverlangen in der Anerkennung anderer Sichtweisen. Der Epidemiologe kann immer sagen: Meine Perspektive ist wichtig. Aber das darf auch der Künstler, der Priester, der Philosoph, der Ökonom oder der Jurist, denn wenn wir deren Positionen nicht ebenso berücksichtigen, erleiden wir am Ende auch Schiffbruch, nur auf andere Weise.
Burckhart: An die Stelle des instrumentell-technischen Diskurses unter Virologen muss der verständigungs- und handlungsorientierte Diskurs der Bevölkerung und Ihrer Repräsentanten treten, davon sind Virologen ein Teil, ebenso wie Politik, Wirtschaft, Bildung, Gewerkschaften.
"Wir treffen täglich Entscheidungen, die
potenziell Schäden an Leib und Leben auslösen,
und wir können auch gar nicht anders.""
Aber ist diese Relativierung nicht gefährlich? Was entgegnen Sie einem Virologen der warnt: Wenn ihr jetzt Millionen Schüler zurück in die Schulen lasst, riskiert zehntausende Neuansteckungen und neue Tote?
Quante: Das ist in bestimmter Weise eine unmögliche Debatte, aber ich finde auch, dass es unaufrichtig ist, sie so zu führen. Wir tun es bei anderen politischen Weichenstellung ja auch nicht. Wenn der Bundestag beim Arbeitsschutz eine bestimmte Neuregelung nicht beschließt, weil sie zu teuer ist, dann nimmt er damit womöglich statistisch gesehen ein höheres Unfallrisiko in Kauf. Wenn an einer bestimmen Gefahrenstelle keine Radaranlage aufstellt wird, weil vielleicht kein Geld für ein weiteres Gerät ausgegeben werden soll, riskiert man, dass dort mehr Verkehrsteilnehmer zu Schaden kommen. Wir treffen täglich Entscheidungen, die potenziell Schäden an Leib und Leben auslösen, und wir können auch gar nicht anders. Jetzt bei Corona so zu tun, als gebe es nur diesen einen Weg, und jeder, der sich gegen ihn stellt, verantworte damit zusätzliche Tote, ist falsch.
Was wäre denn richtig?
Burckhart: Richtig wäre zu fragen, welche Risiken können wir aus welchen Gründen eingehen, welche Risiken muten wir anderen zu und welche uns selbst? So habe ich Wolfgang Schäubles Zwischenruf verstanden: als Warnung vor Totschlagargumenten und Diskussions-Stoppern.
Quante: Sie haben die Schulen erwähnt: Wenn wir jetzt die Bildung nicht wieder hochfahren, riskieren wir auf Umwegen anderswo ebenfalls Tote, durch häusliche Gewalt zum Beispiel, Holger Burckhart hat es angesprochen. Wenn wir in den Krankenhäusern Operationen verschieben, um Kapazitäten für Corona freizumachen, erhöhen wir die Risiken schwerer Krankheitsverläufe bei Leuten, die nicht unter COVID-19 leiden. Nein, so kann und darf man eine Debatte nicht führen. Die Anerkenntnis, dass jede Entscheidung in der Coronakrise dazu führt, dass es möglicherweise verkürzte Lebenszeiten oder Tote gibt, ist nicht das Ende einer Debatte, sondern ihre Voraussetzung, ihre Startbedingung.
Burckhart: Die Aufgabe von Politik und von Menschen in Verantwortung, übrigens auch für Menschen wie uns in Hochschulleitungen, ist deshalb das Herstellen von Transparenz anstelle von Diskussionsverboten. Wir müssen klarmachen, dass jede Öffnung ein Risiko bedeutet, das wir beschreiben und abwägen müssen. Wir dürfen nichts schönreden. Wir dürfen aber umgekehrt auch nicht die Angst erzeugen, dass wir dem Virus alternativlos ausgeliefert seien. Es geht um Bewusstmachung von Risiken und Eigenverantwortung: Was kann jeder von uns tun, um sich und andere zu schützen, ohne sich dem Virus zu ergeben oder sich alle Entscheidungen von ihm diktieren zu lassen. Das ist zu wenig, das wäre zu schwach für das, was wir Menschen eigentlich können.
Quante: Ich möchte bei dieser Abwägung für Aufrichtigkeit plädieren: Faktisch wäre meine persönliche Lebensführung – Stichwort Sport, Ernährung, Stressbelastung – kaum zu erklären, wenn ich gleichzeitig behaupten würde: Gesundheit ist das einzige und wichtigste Ziel in meinem Leben. Das stimmt einfach so nicht. Und ich behaupte mal, das ist bei den meisten Menschen ähnlich. Wir leben immer in einer Balance zwischen verschiedenen Aspekten, die für uns Lebensqualität und ein erfüllendes Leben ausmachen, und zu diesen Aspekten gehört die Gesundheit, aber eben nicht nur. Gleichzeitig kennen wir alle den auch philosophisch interessanten Effekt, dass die Gesundheit, wenn sie akut bedroht ist, alles Andere zu überstrahlen scheint. Sie bedeutet, glaube ich, für uns die Ermöglichung aller anderen sinnvollen Erlebnisse und Tätigkeiten. Daraus kann ich aber nicht folgern, dass sie immer das höchste oder einzige Gut ist. Warum man jetzt in der Krise so tut, als sei das anders, kann ich psychologisch verstehen, aber als Grundlage politisch funktionierenden Handelns taugt das nicht wirklich.
"Dieses Abwägen, diese offene Diskurskultur will
uns keiner verwehren, aber wir müssen sie uns selbst
als Gesellschaft zurückerobern."
Aber was taugt dann?
Quante: Wir müssen die notwendigen Risikoabwägungen gesellschaftlich organisieren. Das passiert ja gerade. Die Politik beschließt Lockerungen und gibt damit den einzelnen Menschen den Spielraum selbst zu entscheiden, welchen Risiken sie sich aussetzen wollen. Vorhin habe ich gehört, dass bei uns in Nordrhein-Westfalen jetzt auch wieder Ausflugsschiffe losfahren. Ich persönlich werde mich dem Risiko, da an Bord zu gehen, ganz sicher nicht aussetzen. Auf der anderen Seite wäre es der reinste Paternalismus, wenn ich der Meinung wäre, deshalb dürften sich auch andere Menschen nicht dafür entscheiden, obwohl sie womöglich für sich die Risiken anders bewerten.
Burckhart: Und genau das ist es, was wir in den vergangenen acht Wochen erlebt haben: eine Verselbstständigung von Politik hin zu einem gewissen Paternalismus. Der war wie gesagt anfangs berechtigt im Kampf gegen das Unbekannte und die Furcht vor der drastischen Ausbreitung des Virus. Jetzt aber geht es um das Abwägen, auf politischer Ebene und bei jedem einzelnen von uns. Wenn die Politik das Fahren auf Ausflugschiffen erlaubt, tut sie das, weil sie das Risiko einer Virusverbreitung dadurch als verhältnismäßig gering ansieht. Und weil sie damit von uns zugleich verantwortliches Handeln einfordert. Wenn sie die Schulen nur rollierend und behutsam öffnet, steckt dahinter der Gedanke, dass Kinder weniger Verantwortung für den Selbst- und Fremdschutz übernehmen können als Erwachsene. Dieses Abwägen, diese offene Diskurskultur will uns keiner verwehren, aber wir müssen sie uns selbst als Gesellschaft zurückerobern.
Die Politik handelt also klug mit dem, was sie vergangene Woche an Lockerungen beschlossen hat?
Burckhart: Ich finde: ja. Im Einräumen sorgfältig ausgewählter Freiheiten bei gleichzeitig starker Betonung der sozialen und infektionshygienischen Verantwortung. Es liegt jetzt an uns, wir haben die Chance, wieder selbst unser Leben zu gestalten. Aber das große Risiko, das durch unsere individuellen Entscheidungen entsteht, müssen auch andere tragen. Die nächsten Tage werden zeigen, ob es uns gelingt, zwischen Appellen und Verordnungen einen vernünftigen Mittelweg zurückzugewinnen. Wir haben nach mehr Freiheiten und Partizipation gerufen, und die Partizipation haben wir jetzt bekommen, verbunden mit der Pflicht zur Übernahme von Verantwortung.
Machen Sie doch mal konkret, was das für Ihre Universität bedeutet.
Burckhart: Die Erwartung, dass wir als Hochschulleitung jetzt schnell möglichst viel öffnen sollen, wächst. Dass wir da unter Druck stehen, ist allerdings nicht neu, das hat uns seit Beginn der Krise begleitet. Schon als wir auf digitale Lehre umstellen mussten, gab es die einen, die Verantwortung ergriffen und geräuschlos losgelegt haben, und andere, die sagten: Ihr verhindert meine gewohnte Präsenzlehre, also müsst ihr jetzt auch bis ins Detail sagen, wie es anders gehen soll. Das ist die Bandbreite der Einzelfälle, wie sie Ihnen im Mikrokosmus wahrscheinlich jeder Bildungseinrichtung begegnen. Die Hochschule dichtzumachen, getrieben von einem unsichtbaren Gegner, war eine besondere Führungsaufgabe. Eine noch viel schwierigere ist jetzt, sie wieder zu öffnen, wenn die einen es nicht abwarten können, die anderen aber sagen: Das kommt gar nicht in Frage, ich habe meine Lehrveranstaltung digital angefangen und will sie auch digital zu Ende bringen.
"Ich glaube nicht an die These, dass das Vertrauen in die Wissenschaft Ausdruck von Orientierungslosigkeit ist, dass die Leute aus Angst dem hinterherrennen, der jetzt am lautesten schreit. Sondern ich erkenne ein Grundvertrauen in rationales, methodisch geprüftes Wissen."
Was folgt daraus?
Burckhart: Bislang hatte ich den 4. Mai als Horizont. Seit dem 4. Mai ist es der 5. Juni, weil bis dahin die Abstandsregeln verlängert wurden. Und mindestens solange ist es ausgeschlossen, dass sich an Universitäten mit bis zu 40-, 50.000 Studierenden wie in Berlin, Köln oder München alle gleichzeitig auf dem Campus bewegen, zum Campus hin und wieder weg. Fußballstadien sind ja auch aus guten Gründen für Zuschauer geschlossen. Die Hygiene-Regeln diktieren, dass pro Raum maximal 20 Prozent der Kapazität zur Verfügung steht, das ist bei einem Radius von 1,5 Meter um jede Person eine ganz einfache Rechnung. Ein normaler Präsenzbetrieb ist also völlig ausgeschlossen, insofern wird das Semester digital bleiben, aber Präsenz ermöglichen – die aber immer verantwortbar bleiben muss vom Umfang her und die Infektionswege rekonstruierbar lässt. Ich nenne das „Präsenz digital gestalten“ – was heißen kann, dass Veranstaltungen zum Beispiel an Patienten oder in Laboren, die nur in Präsenz funktionieren, stattfinden. Vielleicht auch ein paar kleine Seminare, denn Diskurs lebt ja auch von Körperlichkeit, wie jemand sein Argument vorträgt, wie der Körper spricht, aber das war es dann auch.
Das Wissenschaftsbarometer hat kürzlich ergeben, dass die Bevölkerung der Wissenschaft in einem Maße Vertrauen schenkt wie noch nie. Ist das mehr als das Klammern an Autoritäten in der Krise?
Quante: Das ist eine Frage, die mich sehr umtreibt zurzeit: Welche Rolle sollte die Wissenschaft für die Demokratie eigentlich einnehmen? Ich glaube nicht an die These, dass das Vertrauen in die Wissenschaft Ausdruck von Orientierungslosigkeit ist, dass die Leute aus Angst dem hinterherrennen, der jetzt am lautesten schreit. Sondern ich erkenne ein Grundvertrauen in rationales, methodisch geprüftes Wissen, in die Stimme der wissenschaftlichen Vernunft, so wie ich anstatt der oft beschrienen Politikverdrossenheit auch ein Grundvertrauen in die Führungsqualität deutscher Politik wahrnehme. Das kennt man aus anderen Lebensbereichen auch: Wenn es einem wirklich schlecht geht, dann kommen wieder die wirklich belastbaren Relationen zum Vorschein. Mit anderen Worten: Unser Land hat einen hohen Bildungsstand, das Gefühl, dass die Wissenschaft ein hohes Gut ist, war nie weg. Es wird uns in der Not nur wieder bewusster.
Gleichzeitig erleben wir, dass Virologen bedroht werden, sich plötzlich massiver Kritik ausgesetzt sehen. Wie passt das zu dem angeblich so großen Vertrauen?
Quante: An der Stelle müssen wir genau unterscheiden: Reden wir über die Wissenschaft oder über einzelne Wissenschaftler als Personen? Wissenschaftler sind Menschen, keine Maschinen, sie füllen ihre Rolle mal besser, mal schlechter, mal kompetenter, mal weniger klug aus. Sie präsentieren ihre Wissenschaft und sich selbst. Das kann manchmal nerven, doch manches, was nervt, muss übrigens trotzdem gesagt werden. Hinzu kommt: Natürlich stehen die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen immer in einem Wettbewerb, jeder bringt erstmal seine Perspektive zu Gehör, weil er nur für diese Perspektive kompetent ist. In einem nächsten Schritt werden die etwas reflektierteren Forscher dann sagen: Ich bin zwar beispielsweise Jurist, aber natürlich müssen wir auch auf die Kolleginnen und Kollegen aus Fach X hören. Das passiert ja jetzt auch gerade, wir erleben öffentlich das Einüben eines interdisziplinären Diskurses für gesellschaftliche Zwecke. Das sind Lernerfahrungen für uns alle. Ich würde also das Auftreten einzelner Personen in Medien stark unterscheiden wollen von der allgemeinen Frage, ob unsere Gesellschaft Wissenschaft als unverzichtbar für die Demokratie hält.
"Ich gönne allen Menschen in Deutschland das hohe Maß
an Sicherheit, das sie bei allen Lockerungen in der
Pandemie genießen, aber wir sollten zugleich den Blick
für das Andere und die Anderen nicht verlieren."
Burckhart: Dass die Gesellschaft sich die Relevanz der Wissenschaft neu bewusst wird, zeichnete sich schon in der Klimadebatte ab. Diese Entwicklung ist jetzt personalisierter geworden durch konstante Medienauftritte einzelner Personen, die auch zu konträren Positionen in der öffentlichen Debatte führen. Aber das macht Wissenschaft ja geradezu aus. Dass das in der öffentlichen Wahrnehmung, auch unter Mitwirkung der Medien, oft als persönliche Auseinandersetzungen dargestellt wird, geht an der Wirklichkeit wissenschaftlicher Diskurse vorbei. Das außergewöhnliche Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik bei gleichzeitig hohem Vertrauen in der Öffentlichkeit ist übrigens etwas, das wir nicht in allen Gesellschaften so beobachten können.
Wie läuft es anderswo?
Burckhart: Wenn die Menschen in den Favelas und Ghettos ärmerer Länder in deren öffentlichem Diskurs vollkommen untergehen, weil sie in der Wahrnehmung der politisch Handelnden gar nicht vorkommen, weil entsprechende Warnungen der Wissenschaft ungehört verhallen, dann wird klar: Wir reden hier in Deutschland und Europa auf einem sehr hohen Level gesellschaftlicher Kompatibilität. Weshalb wir diese Pandemie, Michael Quante sagte es am Anfang, auch als Beispiel nehmen müssen, wie ungerecht die Chancen auf Gesundheit und ein glückliches Leben verteilt sind. Ich gönne allen Menschen in Deutschland das hohe Maß an Sicherheit, das sie bei allen Lockerungen in der Pandemie genießen, aber wir sollten zugleich den Blick für das Andere und die Anderen nicht verlieren.
Trotzdem haben Sie beide auf die drohende gesellschaftliche Spaltung hingewiesen zwischen denen, bei denen die Angst vor dem Virus im Vordergrund steht, und denen, die aus Angst vor den Folgen seiner Bekämpfung nach immer neuen Lockerungen rufen. Wie bekommen wir beide zusammen? Wo liegt die Synthese?
Burckhart: Für mich legt die Synthese in der Transparenz. Indem wir vom einzelnen Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit im Umgang mit den Risiken verlangen. Wenn du zum Beispiel wegen einer Vorerkrankung nicht zur Arbeit gehst, aber dann gleichzeitig Sonntag auf ein Ausflugsschiff mit vielen anderen Leuten steigst, was mutest du dir selbst damit zu, aber auch anderen? Das sind die Fragen, die wir kommunizieren müssen. Und wenn wir uns als Gesellschaft entscheiden, bestimmte Freiheiten einzuschränken, dann müssen wir auch gemeinsam die Folgen dieser Einschränkungen für die einzelnen tragen. Umgekehrt müssen wir uns bei allen Lockerungen fragen, was sie für wen bedeuten. Insofern konnte ich das sichtliche Mühen der Kanzlerin um das Bewusstmachen dieser Risiken und Abwägungen sehr gut nachvollziehen. Diese Diskursspannung müssen wir in die Gesellschaft hineintragen, und als Verantwortliche vor Ort müssen wir sie in unseren Systemen und Institutionen realisieren und die Menschen dabei mitnehmen.
Quante: Es gibt die Interessenskonflikte und die unterschiedlichen Perspektive beim Umgang mit der Pandemie, und es wird sie weiter geben. Deshalb müssen wir gesellschaftliche Formen und Foren der Perspektivübernahme entwickeln, wo die einen sehen, dass die anderen auch einen wichtigen Punkt haben. Es geht nicht darum, die Stimmungen in Talkshows aufeinanderprallen zu lassen, sondern sich gemeinsam zu fragen: Wie bekommen wir eine verantwortbare Lösung hin, in der die berechtigten Anliegen aller Beteiligten so gut wie möglich berücksichtigt sind? Das ist eine Führungsaufgabe der Politik und in allen Institutionen. Es ist auch eine Aufgabe der Medien, denn ohne die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme verkommt Demokratie zu einem Kräftespiel, wo nur der Stärkere sich durchsetzt.
Abbildung CDC: "SARS-CoV-2", CC0.
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