Auch im Wintersemester wird Präsenzlehre an den Hochschulen Mangelware sein. Wir sollten uns jetzt Gedanken über eine faire Verteilung der Kapazitäten machen. Ein Gastbeitrag von Anja Steinbeck.
Anja Steinbeck, 54, ist seit 2014 Rektorin der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Vorher war sie über viele Jahre Professorin für Bürgerliches Recht an der Universität zu Köln. Foto: HHU.
GERADE MAL 24 MONATE ist es her, da war die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Anwesenheitspflicht für Studierende ein Zankapfel in Nordrhein-Westfalen. Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft, Isabel Pfeiffer-Poensgen, wollte das von der Vorgängerregierung eingeführte Verbot von Anwesenheitspflichten abschaffen. Gegner sahen darin eine nicht gerechtfertigte Bevormundung der Studierenden. Doch bei genauem Hinsehen konnten Lehrende schon nach alter Rechtslage trotz des grundsätzlichen Verbotes in Ausnahmefällen eine Pflicht zur Anwesenheit festsetzen, bei Exkursionen zum Beispiel oder bei Laborpraktika. Die von Pfeiffer-Poensgen eingeführte Regelung hat jetzt wiederum viele Ausnahmen, so dass die alte und die neue Rechtslage gar nicht so stark voneinander unterscheiden.
So wenig ergiebig der Disput schon vor der Corona-Pandemie war, so zeigt er sich seit Beginn des digitalen Sommersemesters in einem völlig veränderten Gewand. Und auch die laufenden Planungen für das Wintersemester 2020/21 folgen einer anderen Logik: Es wird nicht mehr gefragt, wer anwesend sein muss, sondern wer anwesend sein darf. Kaum jemand geht davon aus, dass wir ein "normales" Wintersemester haben werden. Bilder, auf denen Studierende in überfüllten Hörsälen auf den Treppen sitzen, wird es nicht geben. Selbst wenn bis zum Semesterbeginn ein Medikament gefunden oder Impfstoff entwickelt wurde, werden aufgrund der notwendigen, umfassenden Tests und längeren klinischen Phasen weiterbesondere Hygienemaßnahmen zu befolgen sein und Abstandsregelungen gewahrt werden müssen.
Acrylglasscheiben zwischen den Plätzen und
wochenweise wechselnde Zugangsberechtigungen?
Diese absehbare Situation verlangt nach Ideen, wie die Gesundheit der Studierenden und Lehrenden gewährleistet werden kann: Schutzschilde für alle, Acrylglasscheiben zwischen den Plätzen oder ein rollierendes System – die erste Woche A-J, dann K-Q und in der dritten R-Z? Außerdem wird man die Frage stellen müssen, ob ausgewählte Gruppen von Studierenden bevorzugt behandelt werden sollen, wenn es um die Zuteilung von großen Hörsälen geht. Meine Antwortet hierzu lautet: Erstsemester first. Warum? Weil es für Studienanfänger besonders wichtig ist, soziale Kontakte mit Kommilitonen zu knüpfen. Sie sind mehr als andere darauf angewiesen, Lehrende nicht ausschließlich auf dem Bildschirm zu sehen, eine Universität real zu betreten und sie kennenlernen zu können.
Und wer sollte im kommenden Wintersemester nach den Erstsemestern noch priorisiert werden? Hier lohnt tatsächlich wieder ein Blick in die alte Debatte um die Anwesenheitspflicht: Physische Präsenz darf nicht verlangt werden in einer Vorlesung mit Frontalunterricht und hunderten von Studierenden. Angewendet auf die neue Corona-Wirklichkeit bedeutet das: Große Lehrveranstaltungen lassen sich am ehesten rein online abhalten, wegen des Abstandsgebots ginge es auch gar nicht anders. Die Art der Lehrveranstaltung gibt also einen weiteren Maßstab für die Priorisierung. Vielfach kann der Lernerfolg auch im Wege des Selbststudiums – und erst recht mittels digital angebotener Vorlesungen – erreicht werden, das ist eine Erfahrung dieses digitalen Sommersemesters.
Die traurige Pointe jahrelanger
hochschulpolitischer Diskussionen
Diejenigen aber müssen einen Präsenzvorrang haben, die auf die Infrastruktur eines Campus angewiesen sind. Wenn Studierende lernen sollen, mit gefährlichen Chemikalien umzugehen oder Zähne zu ziehen, dann muss das vor Ort geschehen.
Eine dritte Gruppe, die bei einer Vergabe der beschränkten Hörsaalkapazitäten bevorzugt behandelt werden sollte, sind Studierende, die kurz vor ihrem Abschluss stehen und zur Vorbereitung auf Prüfungen an Seminaren, Übungen oder Vertiefungsveranstaltungen teilnehmen möchten.
Es ist die – traurige – Pointe nach jahrelangen hochschulpolitischen Diskussionen: Die Anwesenheit wird im Wintersemester von der Pflicht zu einem Recht. Und dieses Recht werden wir fair verteilen müssen.
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McFischer (Donnerstag, 04 Juni 2020 10:09)
Ja, ja, die Diskussion um die Anwesenheitspflicht... ein echter Dauerbrenner, jetzt unter neuen Vorzeichen.
Ich war immer ein großer Befürworter. Nicht für jedes Format - die klassische Vorlesung geht natürlich auch ohne. Aber seminaristische Veranstaltungen, zu denen die Studierenden mal kommen, mal nicht, funktioneren einfach nicht. Da leiden dann alle drunter, wenn z.B. jemand die ersten drei Sitzunge mit den theoretischen Grundlagen verpasst hat und dann in der 5. Sitzung ein Referat ohne diese Kenntnisse hält.
Bernd Hebbering (Donnerstag, 04 Juni 2020 14:35)
Genau!
Anna Schulze (Donnerstag, 04 Juni 2020 20:25)
Sehe ich nicht so. Die Dozierenden lassen diebLeute in Seminaren meistens nur Referate an Referate halten, ohne selbst eine Sitzung zu gestalten. Meistens bleibt auch kein Raum für Diskussionen. Viele Studierenden nehmen aus diesen Veranstaltungen nichts mit.
Ich finde sogar teilweise, dass Diskussionen über Zoom oder WebEx fruchtbarer sind, da lebendiger.