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Im Ergebnis: dilettantisch

Der Bundestag soll morgen über die Notbremse im Infektionsschutzgesetz abstimmen. Dabei geht es auch um den Umgang mit Bildungseinrichtungen. Doch die unbestimmten Formulierungen im Textentwurf lassen entscheidende Fragen offen. Ein Gastbeitrag von Sibylle Schwarz.

SCHON LANGE GILT, dass bei einem Krankheitsausbruch die jeweils zuständige Behörde (überwiegend Gesundheitsämter) die notwendigen Schutzmaßnahmen trifft, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder sogenannte "Ausscheider" von Bakterien oder Viren festgestellt werden. Im Zuge der Corona- Pandemie wurde im Dezember 2020 in einem neu eingefügten Paragraphen 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) aufgezählt, was solche Schutzmaßnahmen sein können. 

 

Jetzt soll wieder eine Einfügung erfolgen, und zwar im diesmal hinzukommenden Paragraph 28b eine "Notbremse" (bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen). Denn durch unterschiedliche Auslegungen der gemeinsam von den Ländern in der regelmäßig stattfindenden Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Maßnahmen soll eine Lücke im Schutz vor weiteren Infektionen entstanden sein.


Was Bundestag und Bundesrat beschlossen haben:
siehe Aktualisierung und Bewertung vom 25. April unten


Schule ist allerdings Ländersache. Daher beschlossen die Landesregierungen bislang "Corona"-Landesverordnungen mit Regelungen unter anderem zu Schule. Das soll sich mit der Bundesnotbremse, die der Bundestag am morgigen Mittwoch beschließen soll, ändern. In Absatz 3 befasst sich der neue Paragraph 28b mit Bildungseinrichtungen. 

 

Sein Satz 2 bestimmt dabei, dass die Durchführung von Präsenzunterricht ab dem übernächsten Tag untersagt sei, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 200 überschreitet. So stand es zumindest im Regierungsentwurf. Die Koalitionsfraktionen haben sich inzwischen auf einen Schwellenwert von 165 verständigt. 

 

Und Satz 5 sagt, wann diese Bestimmung wieder außer Kraft tritt. Abschlussklassen und Förderschulen, so besagt Absatz 3 weiter, können davon ausgenommen werden. 

 

Für Kindertageseinrichtungen, Kinderhorte und die erlaubnispflichtige Kindertagespflege gilt der Schwellenwert 200 (bzw. 165) ebenfalls – nicht jedoch die in Satz 5 festgelegte Regel zum Außerkrafttreten. Eine Notbetreuung kann von den nach Landesrecht zuständigen Stellen eingerichtet werden.


Sibylle Schwarz ist Rechtsanwältin und kümmert sich in der Wiesbadener Kanzlei "else.schwarz" vor allem um Schul- und Verwaltungsrecht.

Foto: Marco Stirn.



Weiter hinten im Infektionsschutzgesetz finden sich Straf- und Bußgeldvorschriften. So soll nach dem dann neuen Paragraph 73 Absatz 1a Nr. 11k ordnungswidrig handeln, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen Paragraph 28b Absatz 3 Satz 2 Präsenzunterricht durchführt.

 

Heiße Nadel oder einfach Desinteresse

an Kindern und Jugendlichen?

 

Eine "Bundesnotbremse" in wenigen dürren Zeilen. Die Ausführungen in der Gesetzesbegründung sind zum neuen Absatz 3 (Bildungseinrichtungen) hingegen dreimal so umfangreich. Danach sollen Prüfungen kein Unterricht sein, Tätigkeiten in Laboren auch nicht. Für den eingeschränkten Notbetrieb dürften insbesondere Kinder von Eltern in Frage kommen, die notwendigerweise nicht in ihrer Wohnung arbeiten können. Aber es gilt ausschließlich der eigentliche Gesetztext. Die Gesetzesbegründung ist nur eine mögliche Auslegungshilfe des Gesetzes. Und das ist ein Problem.

 

"Die Rechtslage muss für den Betroffenen erkennbar sein, damit er sein Verhalten darauf einrichten kann", hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden und eingefordert, dass förmliche Gesetze bestimmt bzw. genau sein müssen. Wer aber das förmliche Bundesgesetz in Paragraph 28b Absatz 3 zu Bildungseinrichtungen liest, versteht nicht, was gefordert, geboten oder verboten ist. Die "Bundesnotbremse" ist mit der berühmten heißen Nadel gestrickt worden. Oder es zeigt sich darin das Desinteresse des Bundes an einer großen Personengruppe.

 

Für die ungefähr 3,7 Millionen betreuten (Klein-) Kinder blieb nur die Verweisung "gilt entsprechend" wie in Schulen übrig. Für beinahe drei Millionen Studierende war nicht einmal Zeit oder Wille zu formulieren: "ist die Durchführung von Präsenzunterricht und Vorlesungen in Präsenzform untersagt". Und den Jugendlichen in einer halben Million Ausbildungsverträgen und in praktischer Ausbildung in Betrieben hat gefälligst die Erwähnung mit dem einen Wort "Berufsschulen" zu reichen. 

 

Handwerklich

unzureichend

 

"Gilt entsprechend" bedeutet mitgemeint. Doch obwohl in vielen bisherigen Entscheidung zu Corona von den Oberverwaltungsgerichten dem Gesetz-/Verordnungsgeber Einschätzungs- und auch Gestaltungsspielraum eingeräumt worden ist, sind Zweifel angebracht: Hat der Gesetzentwurf den "gegebenen Sachverhalt" von Kindern, (Privat-) Schüler*innen, Studierenden, Auszubildenden und Prüflingen ausreichend gesehen, um danach (rechtmäßig) einschätzen und gestalten zu können? Die Antwort: Paragraph 28b Absatz 3 IfSG ist handwerklich unzureichend. Unbestimmt. Im Ergebnis: dilettantisch.

 

Ab einer "100er- Inzidenz" ist die Öffnung beispielsweise von Spaßbädern und Seilbahnen untersagt. Präsenzunterricht bleibt trotz der Überschreitung des Schwellenwerts einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 möglich. Denn die Lösung solle im Testen liegen, womit sich Satz 1 befasst. 

 

Beim Lesen des Satz 1 ("sind bei Teilnahme am Präsenzunterricht zweimal in der Woche zu testen") kommt unweigerlich die Frage auf: Und was ist bei Nicht-Teilnahme? Denn im Verlaufe der Pandemie wurde verordnet, dass die Schulpflicht im Präsenzunterricht und im Distanzunterricht erfüllt werde und dass die Grundlage der Leistungsbewertung alle im Präsenzunterricht und auch im Distanzunterricht erbrachten Leistungen sind. 

 

Doch Paragraph 28b Absatz 3 Satz. 1 formuliert lediglich: "sind bei Teilnahme am Präsenzunterricht zu testen". Soll Wechsel zwischen Präsenzunterricht (dann mit vorherigem Test) und Distanzunterricht nun passé sein? Würde damit beinahe hinterrücks die Pflicht zum alleinigen Präsenzunterricht (wieder) eingeführt? Wie sich dies auf eine in vielen Bundesländern mögliche Befreiung vom Präsenzunterricht auswirkt, ist ebenfalls unklar. Soll damit eine Wahlmöglichkeit für Präsenzunterricht geschaffen werden, und wer eben diese Wahl trifft, habe sich vorher testen zu lassen?

 

Wobei der Wortlaut wiederum nur von "Test" spricht und nicht von einem negativen Ergebnis. Die jüngste hessische Verordnung formuliert wesentlich genauer: "Am Präsenzunterricht und an der Notbetreuung dürfen nur Schülerinnen und Schüler teilnehmen, die zu Beginn des Schultages über einen Nachweis verfügen, dass keine Infektion mit dem SARS-CoV2-Virus vorliegt,…". 

 

Auch hier kann die Begründung zum neuen Infektionsschutzgesetz etwas erhellen, aber der eigentliche Gesetzeswortlaut ist knapp und damit zu unbestimmt – schon wieder. Wegen der Knappheit könnten folgende Fragen aufkommen: Kein Test vor Prüfung, denn Prüfungen sind kein Unterricht? Oder Vorlesung in Präsenzform ist kein Präsenzunterricht? Mitgemeint oder doch nicht?

 

Möge es jeder/jede auslegen, wie beliebt.


Paragraph 28b Absatz 3 IfSG (neu)*

¹ Schülerinnen und Schüler sowie das Lehr-personal an allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen sind bei Teilnahme am Präsenzunterricht zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit Coronavirus SARS-CoV-2 zu testen.

² Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellen-wert von 200, so ist ab dem übernächsten Tag für Schulen, Berufsschulen, Hochschulen, außer-schulische Einrichtungen der Erwachsenen-bildung und ähnliche Einrichtungen die Durchführung von Präsenzunterricht untersagt. 

³ Die nach Landesrecht zuständigen Stellen können nach von ihnen festgelegten Kriterien eine Notbetreuung einrichten. Für Einrichtungen nach § 33 Nummer 1 und 2 gelten Satz 2 und Satz 3 entsprechend. Für das Außerkrafttreten dieser Maßnahmen gilt Absatz 2 mit der Maßgabe entsprechend, dass der relevante Schwellenwert bei 200 liegt.

Abschlussklassen und Förderschulen können von der Untersagung nach Satz 2 ausgenommen werden.

 

*Hervorhebungen im Text zur besseren Lesbarkeit von der Autorin, nicht vom Gesetzgeber. Es handelt sich um die vom Bundeskabinett beschlossene Fassung.




Nachtrag vom 25. April:

Bundestag und Bundesrat haben das geänderte Infektionsschutzgesetz beschlossen, und nachdem der Bundespräsident es unterzeichnet hat und es im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde, ist es am Freitag in Kraft getreten.

 

Im beschlossenen Paragraph 28b finden sich in Absatz 3 weiterhin die Regelungen zu Bildungseinrichtungen. Die Vorschrift ist jedoch deutlich umfangreicher als zuvor. Aus vormals sechs Sätzen wurden neun.

 

Satz 3 aus dem Entwurf wurde zu Satz 5 im geltenden Gesetz und ist ohne inhaltliche Änderung weiterhin die Vorschrift zur Notbetreuung.

 

Der frühere Satz 4 ist nun Satz 9. Für Kindertageseinrichtungen, Kinderhorte und die erlaubnispflichtige Kindertagespflege mussten die Verweisungen aufgrund der umfangreichen Ergänzungen angepasst werden. Immerhin enthält das geltende Gesetz eine Verweisung zum Außerkrafttreten. Warum bei dieser Gelegenheit nicht sogleich auch "Kita" formuliert wurde, erschließt sich nicht. 

 

Für Schulen wurde in Satz 1 hervorgehoben, dass die bisherigen Schutz- und Hygienekonzepte fortgelten sollen. Die Durchführung von Präsenzunterricht ist untersagt, wenn der Schwellenwert 165 (ursprünglich 200) überschreitet. Auch mit geringer Vorstellungskraft kann unter Präsenzunterricht gleichermaßen Vorlesung in Präsenzform und damit eine Regelung für Hochschulen verstanden werden.

 

Der hinzugekommene Satz 2 erklärt ab einem Schwellenwert von 100 die Durchführung von Präsenzunterricht nur in Form von Wechselunterricht für zulässig, und zwar nicht nur für Schulen, sondern auch für Hochschulen. Bachelorstudiengänge an der Uni im Wechselunterricht. Wie soll das aussehen? 

 

Ein Test bei Studierenden vor (Vorlesungs-) Teilnahme sieht das neue Gesetz nicht vor. Der Wortlaut des Satz 1 lässt kein "mitgemeint" zu.  Teilnahme am Präsenzunterricht ist nur zulässig für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte, die getestet worden sind. 

 

Satz 4 gibt Rätsel auf. Abschlussklassen können von der Untersagung nach Satz 3 ausgenommen werden. Gibt das Wort Abschlussklassen auch die Auslegung "Abschlussjahrgang an Hochschule" her? Eher nicht mitgemeint – wobei die Wissenschaftsminister bereits angekündigt haben, dies anders zu interpretieren.

 

Es ist mehr Text im neuen Absatz 3. Eine differenzierte Regelung der doch sehr unterschiedlichen "Bildungssituationen" fehlt nach wie vor. Eine gute Nachricht immerhin gibt es für Lehrkräfte. Die im Entwurf für "entgegen Präsenzunterricht durchführt" angedachte Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße findet sich im geltenden Gesetz nicht mehr. Es steht nur allgemein für jeden/jede "unter Strafe", das Virus zu verbreiten.


Paragraph 28b Absatz 3 IfSG (neu)*

 

(3) ¹ Die Durchführung von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen ist nur zulässig bei Einhaltung 

angemessener Schutz- und Hygienekonzepte; die Teilnahme am Präsenzunterricht ist nur zulässig für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte, die zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 getestet werden. ² Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100, so ist die Durchführung von Präsenzunterricht ab dem übernächsten Tag für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, Hochschulen, außerschulische Einrichtungen der Erwachsenenbildung und ähnliche Einrichtungen nur in Form von Wechselunterricht zulässig. ³ Überschreitet in  einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 165, so ist ab dem übernächsten Tag für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, Hochschulen, außerschulische Einrichtungen der 

Erwachsenenbildung und ähnliche Einrichtungen die Durchführung von Präsenzunterricht untersagt. ⁴ Abschlussklassen und Förderschulen können durch die nach Landesrecht zuständige Behörde von der Untersagung nach Satz 3 ausgenommen werden. ⁵ Die nach Landesrecht zuständigen Stellen können nach von ihnen festgelegten Kriterien eine Notbetreuung einrichten. ⁶ Für das Außerkrafttreten der Untersagung nach Satz 3 gilt Absatz 2 Satz 1 und 2 mit der Maßgabe entsprechend, dass der relevante Schwellenwert bei 165 liegt. ⁷ Für die Bekanntmachung des Tages, ab dem die Untersagung nach Satz 3 in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt gilt, gilt Absatz 1 Satz 3 und 4 entsprechend. ⁸ Für die Bekanntmachung des Tages des Außerkrafttretens nach Satz 6 gilt Absatz 2 Satz 3 entsprechend. ⁹ Für Einrichtungen nach § 33 Nummer 1 und 2 gelten die Sätze 3 und 5 bis 7 entsprechend.

 

 

*Hervorhebungen im Text zur besseren Lesbarkeit von der Autorin, nicht vom Gesetzgeber. Es handelt sich um die vom Bundestag und Bundesrat beschlossene Fassung.



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