Anja Karliczek verspricht eine Bafög-Reform. Ist das mehr als ein Wahlkampfmanöver? Jahrelang taten die Ministerin und ihr Haus beim Thema Ausbildungsförderung vor allem eines: die Probleme wegreden.
Foto: Screenshot des digitalen Bafög-Portals.
UM VERSPRECHUNGEN, VERTRÖSTUNGEN UND AUSREDEN waren das BMBF und seine Chefinnen nie verlegen, wenn es um das Bafög geht.
110.000 zusätzliche Schüler und Studierende würden bald die Ausbildungshilfe erhalten, kündigte 2016 die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) an. Damals stiegen die Bedarfssätze und die Einkommensgrenzen nach jahrelanger Wartezeit erstmals wieder. Als das Statistische Bundesamt 2017 dennoch einen weiteren deutlichen Rückgang bei den Bafög-Geförderten meldete, kommentierte Wanka: Die Zahl sei wegen der günstigen Konjunktur- und Einkommensentwicklung "noch nicht so deutlich angestiegen wie ursprünglich erwartet." Das sei doch erfreulich.
Anfang 2019 dann, da hatte das Bafög gegenüber 2012 schon mehr als 200.000 seiner einst knapp einer Millionen Bezieher verloren, beschloss das Bundeskabinett die nächste Novelle. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sprach von einer "Trendumkehr" und "über 100.000" mehr Geförderten bis 2021. Als das Statistische Bundesamt anderthalb Jahre später für 2019 erneut 47.000 Empfänger weniger meldete, sah Karliczek eine "Momentaufnahme aus dem vergangenen Jahr – aus der Zeit vor der Pandemie".
Jetzt liegt die Statistik für 2020 vor: Zum achten Mal in Folge weniger Bafög-Bezieher, diesmal ein Rückgang um 41.000 auf nur noch 639.000. Womit ihre Zahl seit 2012 um insgesamt ein Drittel gesunken ist. In seiner Pressemitteilung kam das BMBF denn auch nicht mehr auf die einst prognostizierten zusätzlichen 100.000 Empfänger bis 2021 zu sprechen (was inzwischen fast 200.000 zusätzliche Bezieher bedeuten würde). Stattdessen führte Karliczek ins Feld, dass ja der durchschnittliche Förderbetrag pro Empfänger gestiegen sei, was sie sehr freue, weil es die Attraktivität des Bafög noch einmal unterstreichen "sollte". Außerdem sei die Zahl der im monatlichen Durchschnitt geförderten Studierenden im Gegensatz zu den Schülern sogar leicht gestiegen: von 317.000 auf 321.000.
Was laut Deutschem Studentenwerk aber allein an der Covid-bedingten Verlängerung der Förderungshöchstdauer liegt. Die tatsächliche Zahl der 2020 geförderten Studierenden sei dagegen ebenfalls weiter kräftig zurückgegangen.
Das Bafög bildet die Lebenswirklichkeit
vieler junger Menschen nicht mehr ab
Die Wahrheit ist: Die Ausbildungshilfe erreicht viele junge Menschen schon lange nicht mehr, weil ihre Konditionen deren Lebenswirklichkeit nicht mehr abbilden. Nur haben es das BMBF und seine Ministerinnen lange nicht eingestehen wollen. Weswegen es im Gegensatz zu Karliczeks Darstellung sehr wohl "ungewöhnlich", ja dramatisch ist, dass seit Jahren dreistellige Bafög-Millionenbeträge ungenutzt in den Bundeshaushalt zurückfließen.
Pünktlich vor der Wahl ergriff die Ministerin jetzt doch die Flucht nach vorn. In der Augsburger Allgemeinen verkündete sie vor wenigen Tagen und wohl schon in Kenntnis der neuen, zu dem Zeitpunkt noch unveröffentlichten miesen Empfänger-Zahlen: "Wir brauchen in der neuen Wahlperiode eine Weiterentwicklung des Bafög". Als Beispiele erwähnte sie eine mögliche Anhebung der Altersgrenze für den Bezug oder die Ausweitung der Förderung auch auf eine Zweitausbildung. Sogar einen "Notfallmechanismus für Krisenfälle" könne bei so einer Reform aufgenommen werden.
Letzteres wäre übrigens genau das, was Karliczek bislang immer als nicht in die Bafög-Systematik passend abgelehnt hatte. Mit dem Ergebnis, dass für Studierende in Corona-Notlagen erst eine eigene, befristete Überbrückungshilfe installiert werden musste, mit Anlaufschwierigkeiten, Förderlücken und enormen Antragsaufwand. Immerhin konnte sie locker aus den liegen gebliebenden Bafög-Geldern gespeist werden.
Trotz Karliczeks Ansage bleibt vieles unklar. Zunächst einmal, wie ernst sie es tatsächlich mit einer grundlegenden Reform meint. Ihre Rhetorik deutet zwar auf mehr hin als die üblichen kleinen Schönheitsreparaturen, kombiniert mit dem Drehen an Fördersätzen und Einkommensgrenzen. Doch wäre es nicht an der Zeit, dieses willkürliche Drehen alle paar Jahre einmal grundsätzlich zu beenden und die Sätze automatisch an die Preisentwicklung zu koppeln? Und was ist mit der Abhängigkeit der Bafög-Förderung in den meisten Fällen vom elterlichen Einkommen, ist die wirklich noch angemessen?
Vor allem aber ist offen, ob Karliczek ihre ganz offensichtlich wahltaktisch motivierte Ankündigung überhaupt selbst noch wird einlösen müssen. Denn dazu müsste sie erstmal Ministerin bleiben in einer neuen Bundesregierung. Fest steht: Noch mehr Hinhaltesprüche und eine erneutes Lavieren dieser oder einer neuen BMBF-Spitze haben weder das Bafög noch seine Empfänger verdient.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
Kommentar schreiben