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"Wir dachten, wir hätten über den Digitalpakt die richtigen Weichen gestellt"

Bis 2021 saß Margit Stumpp im Bundestag und war bildungspolitische Sprecherin der Grünen. Jetzt unterrichtet sie wieder als Berufsschullehrerin. Wie blickt sie aufs politische Berlin und die Bildungspläne der Ampel-Koalition? Ein Interview.

Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp, 59, unterrichtet heute wieder als Berufsschullehrerin für Informations- und Medientechnik sowie technische Physik. Foto: privat.

Frau Stumpp, Sie waren vier Jahre lang Bundestagsabgeordnete. Als grüne Fraktionssprecherin für Bildungs- und Medienpolitik haben Sie sich unter anderem stark in der Debatte um den Digitalpakt engagiert. In der Bundestagswahl 2021 haben Sie dann Ihr Mandat verloren, weil Ihr Listenplatz zu weit hinten lag. Was machen Sie jetzt?

 

2017 ist mein Leben in die Bundespolitik gekippt, 2021 ging es für mich wieder in die schulische Realität. Ich bin zurück an der Technischen Schule in Heidenheim und habe meine alte Rolle als Lehrerin für Informations- und Medientechnik wieder. Und wie vor meiner Bundestagszeit bin ich erneut auch für die Netzwerkbetreuung meiner Schule zuständig. 

 

Kommen Ihnen die Jahre in der Bundespolitik inzwischen vor wie Erinnerungen aus einer anderen Welt?

 

Ich bin emotional und gedanklich noch mittendrin in der Welt der Bundespolitik. Als Abgeordnete habe ich viele Anliegen aus der Praxis ins Parlament getragen, für neue Lösungen geworben und Anträge gestellt. Manches davon kam ins grüne Wahlprogramm, und einiges hat sich dann tatsächlich auch im Ampel-Koalitionsvertrag wiedergefunden. Jetzt erlebe ich die praktischen Auswirkungen der von mir mitgeprägten Politik vor Ort, und das setzt bei mir die nächsten Überlegungen in Gang. Was hat sich gebessert? Und umgekehrt: Wo ist der Bedarf zum politischen Handeln jetzt noch größer geworden? Hinzu kommt, dass ich auf der Nachrückerliste stehe für den Bundestag. Insofern lebe ich ein Zwitterleben. Ich bin Lehrerin und Politikerin. 

 

Wie läuft das im Alltag mit Ihren Kolleginnen und Kollegen an Ihrer Schule? Müssen Sie sich da oft rechtfertigen für das, was die Politik entschieden hat?

 

Das war schon in meiner Zeit vor dem Bundestag so. Ich bin seit vielen Jahren auch kommunalpolitisch aktiv, derzeit wieder als Fraktionsvorsitzende im Kreistag. Was insofern wichtig ist, weil der Landkreis zugleich der Schulträger ist. Klar kommen da oft Fragen: Muss das alles so kompliziert sein? Warum baut ihr immer neue bürokratischen Barrieren auf? Solche Sachen. Und ich bin dankbar für diesen Realitäts-Check. Zumal ich als Lehrerin ja mindestens genauso unglücklich bin wie meine Kolleginnen und Kollegen, wenn nichts vorangeht – obwohl wir doch dachten, wir hätten über den Digitalpakt zum Teil die richtigen Weichen gestellt. 

 

"Es ist in der deutschen Bildungspolitik

immer dasselbe. Wir haben kein Erkenntnis-,

sondern ein Umsetzungsproblem."

 

Was genau macht Sie unglücklich?

 

Es ist in der deutschen Bildungspolitik immer dasselbe. Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Der Bund versucht dauernd, neue Anstöße zu geben, weil ihm das Grundgesetz nicht mehr erlaubt. Gegen die Anstöße ist nichts zu sagen, sie waren gerade in der Pandemie wichtig, als wir zusätzliche Pakete zum Digitalpakt geschnürt haben. Dafür, dass ärmere Schülerinnen und Schüler Tablets oder Laptops bezahlt bekommen haben zum Beispiel. Vor allem aber haben wir als damalige Opposition erfolgreich darauf gedrängt, einen Kardinalfehler des Digitalpakts zu beheben: dass er die Finanzierung von System-Administratoren nicht zugelassen hat. Wenn die Lehrkräfte immer Sorge haben müssen, dass die digitale Infrastruktur ihrer Schule nicht funktioniert, bereiten sie ihren Unterricht jedes Mal doppelt vor. Das war eine unsinnige Überforderung. Doch das Kernproblem haben wir in der vergangenen Legislaturperiode dann doch nicht angepackt: Der Bund darf nur befristete Programme finanzieren, dabei haben wir eine nationale Bildungskrise, die von Dauer ist und schon vor der Pandemie bestand.

 

Was macht diese Bildungskrise aus?

 

Das System Schule ist erschöpft. Die Digitalisierung in den Schulen hätte vor 30 Jahren eingeleitet werden müssen, wir hängen Jahrzehnte hinterher. Gleichzeitig hatten wir schon vor Corona eine soziale Schieflage beim Bildungserfolg, weil wir zwar immer über individuelle Förderung gesprochen haben, sie uns aber aus Mangel an Personal und Ausstattung nie wirklich gelungen ist. Und diese soziale Schieflage verstärkt sich jetzt weiter. 

 

Wie meinen Sie das?

 

Ich bin davon überzeugt: Von den Kindern, die 2020 und 2021 eingeschult wurden oder bereits schulpflichtig waren, werden sehr viele für den Rest ihrer Schullaufbahn einen zusätzlichen Förderbedarf haben. Nicht so sehr in Hinblick auf ihre Lernlücken, die lassen sich irgendwann aufholen. Ich meine die sozialen und psychologischen Folgen des Distanzunterrichts und der Unterrichtsausfälle. Trotzdem arbeitet der Bund immerzu nur mit zeitlich befristeten Hilfsprogrammen, und deren Abwicklung liegt dann auch noch bei den einzelnen Schulen und den Schulleitungen. Und so geht das weiter: Die Lehrkräfte sollen sich mit Methodik und Didaktik in der Digitalisierung aussetzen, fordern Politik, Medien und Öffentlichkeit. Völlig zurecht! Nur dass diese Lehrkräfte in den vergangenen zwei Jahren schon so viele zusätzliche Aufgaben gestemmt haben. Und anstatt dass die Politik Wege sucht, wie sie mehr Ressourcen, und zwar auf Dauer, in die Schulen geben kann, werden jetzt überall die Haushalte zusammengestrichen, auch in der Bildung, auch im Bund. Das ist fatal. Nicht nur, weil ohnehin und ständig das notwendige Geld fehlt, sondern auch, weil sich die Lehrkräfte durch die ständigen Über-Forderungen und die dazu im Widerspruch stehenden kontraproduktiven Kürzungen  nicht wertgeschätzt fühlen. 

 

"Wer ein Programm wie die Sprach-Kitas
abschafft, sorgt dafür, dass die Probleme in
spätere Lebensphasen verschleppt werden."

 

Es ist eine grüne Bundesfamilienministerin, unter deren Verantwortung ein erfolgreiches Programm zur Kita-Sprachförderung 2023 gestrichen wird – obwohl der Ampel-Koalitionsvertrag sogar dessen Verstetigung versprochen hatte.

 

Das ist entsetzlich. An der Stelle ist Parteizugehörigkeit kein Schutzschild , da werden Zusagen gebrochen. Und das nach all den Sonntagsreden, dass Bildung unsere wichtigste Ressource sei. Alle Studien belegen, wie stark der Bildungserfolg von den sprachlichen Fähigkeiten der Kinder abhängt. Je früher vorhandene Defizite aufgefangen werden, desto geringer ist der pädagogische Aufwand später, und desto größer werden die Lebenschancen für die Kinder und Jugendlichen. Wer ein Programm wie die "Sprach-Kitas" abschafft, sorgt dafür, dass die Probleme in spätere Lebensphasen verschleppt werden. Und die Fachkräfte, die sich in den Schulen täglich mit den Folgen unzureichender Sprach-Frühförderung auseinandersetzen müssen, fühlen sich zusätzlich brüskiert.

 

Wenn Sie das mit der Befristung so stört: War der Digitalpakt als Ganzes ein Fehler?

 

Er wurde zunächst sehr wohlwollend aufgenommen, genau wie seine Ergänzungspakete. Aber weil das Kooperationsverbot dem Bund für die Mitfinanzierung in der Bildung so hohe Hürden setzt, sind auch die organisatorischen Strukturen, um sie zu überwinden, ungeheuer kompliziert. Meine Schule gehörte unter den Berufsschulen schon immer zu den digitalen Vorreitern, weil die Arbeitgeber in unserer Region das so fordern. Und da wirkt sich der Digitalpakt plötzlich sogar kontraproduktiv aus, weil er das Stück Gestaltungsfreiheit, das wir vorher hatten, noch weiter eingeschränkt hat. 

 

"Digital gut ausgestattete Schulen
bremst der Digitalpakt."

 

Wie kann das sein?

 

Ganz konkret: Vor dem Digitalpakt konnten Schulen wie wir Geräte selbst beschaffen. Jetzt fordern viele Kämmereien, ihre Schulen könnten dieselben Geräte nutzen und man könne deren Bestellungen bündeln, weil es heißt, dadurch ließen sich größere Rabatte erzielen. Das kann ich so nicht bestätigen, aber was ich sehe: Die Bestellungen erreichen manchmal so große Volumina, dass sie nach europäischem Recht ausgeschrieben werden müssen. Mit all den kleinteiligen Regularien, die das mit sich bringt. Praktisch läuft das dann so: Die Schulen leisten die Vorarbeit, sie spezifizieren die Geräte, die sie brauchen. Schon die Bündelung aller Bestellungen in einer rechtlich korrekten Ausschreibung ist ein Kraftakt. Und dann stellt sich heraus, dass es die großen Mengen, die mehrere Schulen auf einmal brauchen, am Markt gar nicht gibt , weil zum Beispiel Computer-Chips gerade so knapp sind. Woraufhin die Spezifikationen geändert werden müssen, die Ausschreibung wird wiederholt, und am Ende sitzen Sie immer noch ohne die Geräte da, die laut Medienentwicklungsplan schon seit anderthalb Jahren im Einsatz sein sollten. Mit anderen Worten: Zumindest digital gut ausgestattete Schulen bremst der Digitalpakt. Zumal das Warten auf ihn zuvor schon einen gewissen Investitionsstau verursacht hatte. Dasselbe dürfte angesichts der vielen Regularien und Ausschreibungsmodalitäten für alle kleinen Kommunen und Landkreise gelten, die sich als Schulträger keine großen Verwaltungen leisten können.

 

Was folgt für Sie daraus?

 

Die Ampelparteien müssen endlich die Vorhaben angehen, die sie in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben. Wir brauchen eine andere Form der Kooperation von Bund und Ländern, vor allem im Bereich der Bildungsinfrastruktur. Richtig wäre, dass der Bund nicht ein Zehntel der Kosten wie derzeit trägt, sondern ein Drittel. Ein weiteres Drittel die Länder, das letzte Drittel die Kommunen.

 

Ist so eine Forderung angesichts der Finanzlage des Bundes realistisch?

 

Sie wäre realistisch, wenn wir uns auf Bildung als die gesamtgesellschaftliche und gesamtpolitische Aufgabe verständigen, von der immer alle reden. Das Minimum wäre aber, dass die vorhandenen Bundesgelder verstetigt werden und nach anderen, einfachen Vergaberegeln fließen. Das berührt die Bildungshoheit der Länder in keinster Weise. Aber nur dann kommen die Mittel rechtzeitig und auch genau dort an, wo sie gebraucht werden.

 

"Jetzt erfülle ich meine Aufgabe
wieder an dem Platz, an dem ich mich befinde.
Und wer weiß, was die Zukunft bringt. "

 

Dienen die komplizierten Regeln nicht auch genau dazu? Dass die Länder nicht einfach das Geld einsacken, ohne es an die Schulträger und Schulen weiterzugeben?

 

Wenn das Geld dauerhaft fließen soll, lassen sich die Vorschriften genau auf diesen Punkt fokussieren, weil das Drumherum entfällt. Im Übrigen sind natürlich auch die Länder gehalten, den Schulen mehr Freiheiten zu geben. Die Digitalisierung bedeutet, dass auf die Kommunen eine Riesenwelle neuer Dauerausgaben zukommt. Früher reichte es, alle 30 oder 40 Jahre neue Tische und Stühle anzuschaffen, jetzt müssen die Schulträger alle paar Jahre in neue Hardware investieren. Und für deren Administration brauchen Sie zusätzliches und unbefristetes, qualifiziertes Personal, denn IT-Systeme sind anspruchsvoll, in Schulen allzumal. Doch die Kommunen halten sich zurück mit dem Einstellen teurer Fachleute, weil sie mit Blick auf den Digitalpakt sagen: Der läuft nach ein paar Jahren aus, und was ist dann? Wo ist die Anschlussfinanzierung? Müssen wir als Schulträger dann alles allein weiterzahlen? Das können wir nicht. Wie gesagt: Wir haben ein erschöpftes System, und wenn die Ressourcenfrage nicht grundsätzlich und auf Dauer geklärt wird, dann können wir auch keine Strukturen schaffen.

 

Was treibt Sie eigentlich mehr an? Schüler unterrichten oder große Politik machen?

 

Wenn es um den Spaßfaktor geht, dann macht die Arbeit mit interessierten Schülerinnen und Schülern natürlich viel mehr Spaß. Da gehen Sie abends nach Hause und wissen, dass Sie etwas Sinnstiftendes getan haben. Umgekehrt können Sie als Bundestagsabgeordnete eine viel grundsätzlichere Wirkung erzielen – zumal wenn wie jetzt Ihre Partei zur Regierungskoalition gehört. Aber es ist, wie es ist. Ich bin nicht Bundestagsabgeordnete geworden, weil mir der Beruf als Lehrerin keinen Spaß gemacht hat, sondern weil ich nachhaltig etwas verändern wollte. Jetzt erfülle ich meine Aufgabe wieder an dem Platz, an dem ich mich befinde. Und wer weiß, was die Zukunft bringt. 



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Kommentare: 1
  • #1

    David J. Green (Dienstag, 09 August 2022 22:56)

    Alle Achtung an Frau Stumpp, dass sie vor der Zeit als Abgeordnete einen regulären Beruf ausgeübt hat, und nach Ablauf des Mandats nicht zu fein war, um zum bisherigen Beruf zurückzukehren. Im heutigen Politikbetrieb gibt es – insbesondere auch in meiner Partei, der SPD – viel zu viele, die A) erwarten, nachher „standesgemäß“ von der Partei versorgt zu werden, meistens aus öffentlichen Mitteln, und/oder B) scheinbar gar nichts außer Politik können.