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"Unsere Ambitionen haben sich nicht erledigt"

Der parlamentarische Staatssekretär im BMBF, Jens Brandenburg, über die Hängepartie bei der Forschungsförderung, die Verhandlungen mit den Ländern zum "Startchancen-Programm" und grundlegende Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik.

Jens Brandenburg. Foto: Bundesregierung/Guido Bergmann.

Herr Brandenburg, der BMBF-Haushalt soll nächstes Jahr nur leicht wachsen, um 0,9 Prozent, aber immerhin. Gleichzeitig häufen sich schon jetzt die Berichte über widerrufene Förderzusagen, die Titel Ihres Ministeriums für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung sinken nächstes Jahr um etliche Millionen. Was passiert da gerade?

 

Wir erleben eine Ausnahmesituation. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben auch auf unseren Haushalt erhebliche Auswirkungen. Hinzu kommt die unseriöse Finanzplanung der Vorgängerregierung: Sie hat jede Menge nicht im Haushalt hinterlegter Versprechungen hinterlassen. Vor allem die Erhöhung der Zuschüsse für die außeruniversitären Forschungsorganisationen im Pakt für Forschung und Innovation um drei Prozent pro Jahr, jedes Jahr bis 2030. 

 

Die Sie allein 2023 etwa 227 Millionen Euro zusätzlich kosten – mehr, als das BMBF insgesamt als Aufschlag erhält.

 

Das schränkt unseren Handlungsspielraum erheblich ein. Wobei wir, wenn es bei der Finanzplanung der Vorgängerregierung geblieben wäre, gar keinen gehabt hätten. Dann hätte das BMBF keine Aufwüchse, sondern von Jahr zu Jahr weniger Geld erhalten. Das konnten wir drehen, sodass wir rund vier Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung investieren werden.

 

Wie kommen Sie auf diese Zahl?

 

Die ursprüngliche Finanzplanung der Vorgängerregierung sah für das Jahr 2023 einen Etat von 19,9 Milliarden Euro vor. Wir haben dafür gesorgt, dass er auf rund 20,6 Milliarden Euro ansteigt, also um rund 186 Millionen Euro gegenüber letztem Jahr. Bis 2026 sogar kontinuierlich auf 21,2 Milliarden Euro. Dieser Anstieg gegenüber der Planung der Vorgängerregierung summiert sich auf rund vier Milliarden Euro.

 

Halten wir also fest: Auch der Ampel-Regierung ist das BMBF 2023 lediglich 186 Millionen mehr wert als im Jahr 2022.

 

Weshalb auch zur Wahrheit gehört, dass die Haushaltslage zwar besser, aber trotzdem herausfordernd ist. Das heißt: Wir schauen uns an, was wir wie bezahlen können. Dabei bleibt leider nicht aus, dass wir manche Dinge künftig nicht mehr ohne Weiteres bezahlen können oder strecken müssen. Grundsätzlich wollen wir Vorhaben daran knüpfen, dass wir sie konkret im Haushalt hinterlegen können. Das mag kurzfristig wenig populär sein, gehört aber zu einer nachhaltigen Politik.


"Abwarten ist keine Option", so lautet das Motto auf seiner Abgeordneten-Website: 
Jens Brandenburg, Jahrgang 1986, studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und promovierte dort auch. Bevor er 2017 für die FDP in den Bundestag einzog, arbeitete Brandenburg für eine Unternehmensberatung. Im Dezember 2021 wurde er parlamentarischer Staatssekretär im BMBF. Unter anderem berichtet er in dieser Funktion dem Parlament zu den Bildungsvorhaben und zur Haushaltsplanung des Ministeriums. 

Foto: Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0.



Moment! Als der Ampel-Koalitionsvertrag Ende 2021 öffentlich wurde, konnte man bei seiner Lektüre den Eindruck bekommen: An finanziell nicht gedeckten Versprechungen mangelte es auch darin nicht. Und das war vor dem Ukraine-Krieg.

 

Der Koalitionsvertrag ist die politische Leitschnur für diese Legislaturperiode. Jetzt müssen sich alle Ressorts auf die Zeitenwende einstellen, ohne die Abarbeitung des Koalitionsvertrags aus dem Blick zu verlieren. Deshalb bin ich froh, dass es uns beispielsweise gelungen ist, von 2023 an die versprochene Dynamisierung des Zukunftsvertrags Studium und Lehre zu finanzieren. Das gibt den Hochschulen in dieser schwierigen Lage deutlich mehr Planungssicherheit.

 

Auf Kosten zum Beispiel der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramme?

 

Das sollte man nicht gegeneinander aufrechnen, zumal das Bild, das zum Teil in den sozialen Medien gezeichnet wurde, nicht zutrifft. Weder kürzen noch streichen wir bewilligte Projekte. Alle bereits laufenden Förderungen gehen selbstverständlich im bewilligten Umfang weiter. 

 

"Bewilligungen
erfolgen schriftlich"

 

Viele betroffene Wissenschaftler*innen berichten übereinstimmend, mündlich gemachte Bewilligungen seien zurückgenommen worden. 

 

Bewilligungen erfolgen schriftlich. Es ist ein Problem, dass wir in der Wissenschaft in einen Modus hineingekommen sind, bei dem nach einer einmal bewilligten Projektförderung oftmals automatisch mit der Genehmigung eines Folgeprojekts gerechnet wird. Weil es in den Jahren steigender Haushalte vielfach tatsächlich so war und viele sich daran gewöhnt hatten. Insofern verstehe ich die Enttäuschung aller betroffenen Forscherinnen und Forscher sehr gut. Ich möchte deshalb noch einmal um Verständnis bitten angesichts der neuen Ausnahmesituation, in der wir uns befinden. 

 

Auch wenn die Betroffenen den Eindruck haben, dass es besonders bestimmte Fächer und Disziplinen betrifft? Eine Forscherin der Freien Universität zitierte neulich aus einem Brief des BMBF an einen Projektträger, das Deutsche Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR): Es gehe darum, mit "aktuell geringeren zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln und neuen Schwerpunktsetzungen hin zu Forschungsaktivitäten, die einen schnellen Impact erzeugen". Also weg aus den Sozial- und Geisteswissenschaften, hin zu großen Forschungsorganisationen wie Fraunhofer oder Helmholtz – und zur geplanten Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), für dessen Budget Ihr Ministerium ebenfalls noch händeringend Geld zu suchen scheint?

 

Es gibt keine Schwerpunktsetzung der Hausleitung hin zu Forschungsaktivitäten mit einem "schnellen Impact". Zudem mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) auch eine Forschungsförderorganisation von dem dauerhaften Zuwachs über den Pakt für Forschung und Innovation profitiert, die ganz stark die Geistes- und Sozialwissenschaften unterstützt. Und zwar wissenschaftsgeleitet, mit gleichen Chancen für exzellente Projekte aller Disziplinen. Das halte ich für ein starkes politisches Zeichen – genau wie die fortgesetzte Finanzierung der Exzellenzstrategie. 

 

Wenn Sie von der notwendigen Priorisierung der knappen Mittel sprechen, dann geht es aber doch genau um das, was in dem BMBF-Schreiben ans DLR steht: das Verfolgen bestimmter wissenschaftspolitischer Ziele auf Kosten anderer.

 

Wir werden in Zukunft nicht jede Frage mit mehr Geld beantworten können. Dieses in der Vergangenheit beliebte Politikmodell, mit zusätzlichen Millionen und Milliarden politische Konflikte und strukturelle Probleme zu lösen, kann nicht mehr funktionieren. 

 

"Natürlich brauchen die Forschenden zeitnah Planungssicherheit. Wir werden das daher sehr kurzfristig noch im Juli entscheiden und kommunizieren."

 

Was sind denn die konkreten forschungspolitischen Prioritäten des BMBF in den nächsten Jahren?

 

Da gibt uns der Koalitionsvertrag mit seiner Missionsorientierung in der Forschung klare Linien vor und diese erweisen sich gerade im Licht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als vorausschauend: Wir werden zusätzlich in die Forschung zur globalen Gesundheit investieren, in die Lebenswissenschaften. Darüber hinaus in die Klimaforschung, unter anderem mit Blick auf grünen Wasserstoff als klimaneutralen Energieträger, und, um ein weiteres Beispiel zu nennen, in die Stärkung unserer technologischen Souveränität. Deren Bedeutung wird uns durch die russische Aggression gerade sehr deutlich. 

 

Wann werden die Forschenden zum Rechtsextremismus oder zu den gesellschaftlichen Folgen von Corona erfahren, ob ihre Projekte bewilligt werden? Diese hängen zum Teil seit Wochen in der Luft, viele Projekte sollten zum 1. Juli starten. Oder anders gefragt: Wann haben Sie fertig angeschaut, was Sie noch bezahlen können?

 

Wir lassen nichts unversucht, trotz der schwierigen Haushaltlage möglichst viele Projekte zu diesen wichtigen Themen zu fördern. Natürlich brauchen die Forschenden zeitnah Planungssicherheit. Wir werden das daher sehr kurzfristig noch im Juli entscheiden und kommunizieren.

 

Dann lassen Sie uns über ein Thema reden, das zurzeit oft hinten herunterfällt, obwohl die Ampel-Koalition gerade hier neue Maßstäbe setzen wollte – finanziell, aber auch inhaltlich: die Zusammenarbeit mit den Ländern in der Bildungspolitik. Haben sich die bildungspolitischen Ambitionen der selbsternannten "Chancen"-Koalition bereits erledigt, sind sie zerronnen wie die Haushaltsträume während der Koalitionsverhandlungen?

 

Nein, unsere Ambitionen haben sich nicht erledigt. Im Gegenteil: Wir haben uns verabredet, dass es in der Bildungspolitik kein reines "Weiter so" geben darf. Dass wir das Thema Bildungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen in den Vordergrund stellen wollen. Dass wir dafür deutlich mehr Geld investieren müssen. Weil wir zusätzlich davon überzeugt sind, dass wir als Gesellschaft all den Herausforderungen, über die wir eben gesprochen haben, vom Klimawandel bis hin zum Erreichen technologischer Souveränität, nur mit guter Bildung begegnen können. Es geht uns um jede und jeden Einzelnen, unabhängig von der Herkunft. Wir setzen an vielen Stellen an: mit dem "Startchancen-Programm", mit einer großen BAföG-Reform, die konzeptionell über die bereits umgesetzte Erhöhung der Freibeträge um über 20 Prozent hinausgehen wird, mit einem Digitalpakt 2.0. Und mit einer Exzellenzinitiative für berufliche Bildung, die mir persönlich ein Herzensanliegen ist und bei der wir in Kürze einen ersten Entwurf vorlegen werden. Es geht bei alldem nicht darum, einfach mehr Geld in Bildung zu investieren, sondern mit dem Geld auch mehr als bislang zu erreichen. 

 

Wie meinen Sie das?

 

Wir müssen die Wirkungen dessen, was wir tun, generell und regelmäßig evaluieren. Um unsere Programme daraufhin anzupassen. Das ist ein Paradigmenwechsel. Als jemand, der seit sieben Monaten im Amt und im BMBF ist, bedaure ich außerordentlich, dass für viele der von uns übernommenen Programme viel zu wenig objektive und unabhängige Wirkungsanalysen durchgeführt wurden. Das erschwert eine evidenzbasierte politische Entscheidungsfindung.

 

"Das Corona-Aufholprogramm war wichtig,
nur wird zu Recht auf die vielen verpassten Gelegenheiten zur Überprüfung seiner Wirksamkeit hingewiesen. Es einfach zu verlängern, ergäbe daher keinen Sinn." 

 

Die größte bildungspolitische Neuerung wäre die Einführung des eben von Ihnen erwähnten "Startchancen-Programms", mit dem Sie laut Ampel-Koalitionsvertrag 4.000 Brennpunktschulen bundesweit erreichen wollen. Die Kultusminister der Länder werden langsam ungeduldig und weisen darauf hin, dass im Haushalt 2023 kein einziger Euro dafür eingeplant sei. Und fordern deshalb eine Verlängerung und Aufstockung des Bundesprogramms "Aufholen nach Corona" über Ende 2022 hinaus, damit keine Förderlücke entsteht.  

 

Das sind genau die alten Rituale, von denen ich eben sprach. Es wird immer pauschal nach mehr Geld vom Bund gerufen. Allein im Corona-Jahr 2021 hat der Bund über 200 Milliarden Euro an zusätzlichen Krediten aufgenommen, während die Länder mitten in der Krise in der Summe sogar einen Überschuss erzielt haben in ihren Kernhaushalten. Und was das Corona-Aufholprogramm angeht: Das war sicher wichtig, nur wird in der Öffentlichkeit zu Recht auf die vielen verpassten Gelegenheiten zur Überprüfung seiner Wirksamkeit hingewiesen. Es einfach zu verlängern, ergäbe daher keinen Sinn. Genau deshalb haben wir uns mit dem "Startchancen-Programm" ein anderes und nachhaltigeres Instrument vorgenommen: gezielte und dauerhafte Investitionen in ausgewählte Schulen, wo sie die größte Wirkung entfalten und all das unter einer engen wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation. >>


In eigener Sache


>> Aber ist es vertretbar, wenn das Aufholprogramm Ende 2022 ausläuft, die "Startchancen" frühestens 2024 beginnen und es in dem Jahr dazwischen gar keine Bundesunterstützung für Brennpunktschulen gibt?

 

Niemand hält die Länder davon ab, im Rahmen ihrer Zuständigkeit selbst weiter zu investieren. Außerdem arbeiten wir mit hoher zeitlicher und inhaltlicher Dringlichkeit an der Ausgestaltung des neuen Programms. Wir werden bis Ende September erste Eckpunkte dazu vorlegen. Sie können sich vorstellen, dass die Umsetzung nicht trivial ist. Eben weil wir nicht einfach noch einen Fördertopf öffnen, sondern es grundsätzlich anders machen wollen, anstatt die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Der Koalitionsvertrag spricht beim "Startchancen-Programm" von drei Säulen: einem Investitionsprogramm, einem Chancen-Budget für die Schulen und einer Förderung der Schulsozialarbeit. Für die Investitionen bietet sich ein Sondervermögen an, während das Chancen-Budget vermutlich über eine separate Umverteilung von Umsatzsteuerpunkten laufen müsste. Eines kann ich Ihnen versichern: Es handelt sich um ein Leuchtturmprojekt der Ampel-Koalition. 

 

Was ist denn der Ampel so ein Leuchtturmprojekt noch wert in Zeiten der Zeitenwende? In den Koalitionsverhandlungen ging man intern für alle drei Programmsäulen von mittelfristig rund drei Milliarden Euro aus. Pro Jahr.

 

Es wäre zu früh, jetzt schon konkrete, auf die Jahre aufgeteilte Zahlen zu nennen. Klar ist, dass es sich um ein Instrument von einer Größenordnung handelt, die wir nicht aus dem regulären Haushalt des Ministeriums herausschneiden können. Sie haben es gesagt: Wir haben uns vorgenommen, etwa 4.000 allgemein- und berufsbildenden Schulen zu erreichen. Also jede zehnte Schule in Deutschland. Das ist auch notwendig, um die geplante Wirkung in der Fläche zu entfalten. 

 

Sie wollen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Zu denen zählte, dass die Bundesgelder immer über den sogenannten Königsteiner Schlüssel an die Länder gingen. Alle also pro Kopf der Bevölkerung in etwa dasselbe erhielten – unabhängig davon, wie viele bildungsbenachteiligte Kinder es tatsächlich gibt. Beim Laptop-Programm führte das dazu, dass nach Bayern pro armen Kind etwa viermal so viel Geld überwiesen wurde wie nach Bremen. 

 

Die Verteilung der Mittel gehört genau zu den Fragen, die wir jetzt mit den Ländern besprechen. Für den Erfolg des Programms ist am Ende nicht die entscheidendste Frage, ob wir den Königsteiner Schlüssel anwenden. Solange die Länder intern über einen Sozialindex diejenigen Schulen auswählen, an denen die meisten sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen lernen – und diese dann fördern. 

 

"Bei der Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft hinken wir hinterher, und diese Schieflage hat sich durch die flächendeckenden Schulschließungen noch verschärft. Das beunruhigt mich sehr."

 

Sie könnten auch die Verteilung der Gelder zwischen den Bundesländern über einen solchen Sozialindex vornehmen. Nur dass es den noch gar nicht gibt und die Hälfte der Bundesländer überhaupt keinen Sozialindex nutzt.

 

Wir werden auch das besprechen. Wozu ich aber nicht bereit bin: deswegen den Programmstart in ferne Zukunft zu verschieben.  

 

Dann also doch lieber Königsteiner Schlüssel mit all seinen sozialen Verzerrungen? Auch wenn das Grundgesetz dieselben Lebenschancen unabhängig vom Wohnort vorgibt?

 

Ich habe keinen Zweifel, dass in allen Bundesländern Schulen mit einem hohen Anteil von Schülern existieren, die benachteiligt sind und insofern eine starke Unterstützung für bessere Bildungschancen brauchen. Noch wichtiger als die reine Verteilungsfrage ist für mich, was mit dem Geld konkret passiert. Erhalten die Schulen genügend Freiraum? Wie können wir die guten Erfahrungen einzelner Bundesländer mit ähnlichen Initiativen strukturiert für die Umsetzung des "Startchancen-Programms" nutzen? Und wie können wir von Anfang an die Daten erheben, die wir zur wissenschaftlichen Auswertung brauchen?

 

Inwiefern kann und wird der Bund den Ländern konkrete Vorgaben machen: beim Ausgeben des Geldes und beim Controlling der Ausgaben? Das wäre nämlich tatsächlich ein Paradigmenwechsel. Und was machen Sie, wenn einzelne Länder sich nicht an die Abmachungen halten?

 

Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass wir in Deutschland ein massives bildungspolitisches Problem haben, das sich mit den bisherigen Maßnahmen nicht lösen lässt. Die Länder werden deshalb sicherlich ein großes Interesse haben, sich mit uns auf gemeinsame Regeln zu verständigen. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Karin Prien, hat zum Beispiel selbst wiederholt betont, dass die wissenschaftliche Begleitung für den Erfolg künftiger Förderprogramme ausschlaggebend ist.

 

Sie sprechen von einem massiven bildungspolitischen Problem, das sich zuletzt in einer deutlichen Verschlechterung der Viertklässler-Leistungen im IQB-Bildungstrend gezeigt hat. Was passiert da gerade?

 

Bei der Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft hinken wir international hinterher, und diese Schieflage hat sich durch die flächendeckenden Schulschließungen über Monate hinweg leider noch verschärft. Das beunruhigt mich sehr. Es kann nicht sein, dass die soziale Lage der Familie, aus der ein Kind stammt, darüber bestimmt, wie weit es in seinem Leben kommt. Wir reden hier auch ganz stark von sozialen Milieus und ihren Wirkungen, weshalb wir mit dem "Startchancen-Programm" explizit auf der Schulebene ansetzen wollen. 

 

Ebenfalls in der Pandemie hat so richtig gerächt, dass Deutschland bei der Digitalisierung in den Schulen so einen Rückstand hatte. 

 

Auch bei dem Thema geht es um nicht eröffnete Bildungschancen! Die Pandemie hat bei der Digitalisierung nicht nur die Schwächen offengelegt, sondern auch die Entwicklung ein Stückweit beschleunigt. Zumindest ist vielen jetzt deutlich bewusster, dass digitale Kompetenzen in der Welt von heute und morgen wichtige Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben sind. Und für den Erfolg im Beruf unverzichtbar. Deshalb ist es nicht akzeptabel, wie langsam die Mittel aus dem Digitalpakt bisher in den Schulen ankommen, das müssen wir beschleunigen. Und mit den Ländern darüber sprechen, wie wir einen Digitalpakt 2.0 von Anfang an unbürokratisch ausgestalten, damit er über die Technik hinaus auch geeignete pädagogische Konzepte in die Breite der Schulen bringt. Dazu gehören auch hochwertige Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte.

 

"Wir haben bereits einen
großen Durchbruch erzielt, der in der Öffentlichkeit
noch gar nicht so wahrgenommen wird."

 

Wenn Sie den Digitalpakt 2.0 schon selbst ansprechen: Das ist noch so ein Ampel-Versprechen, das richtig ins Geld gehen wird. Wenn Sie es denn weiter ernst meinen damit.

 

Das tun wir. Die ersten Gespräche mit den Ländern sind sehr konstruktiv, insbesondere über die geeignete verfassungsrechtliche Grundlage dafür. Wir dürfen nicht nur Technik fördern, sondern müssen zugleich Fragen der Wartung und des dafür nötigen Personals, der pädagogischen Konzepte, der Aus- und Weiterbildung stärker in den Fokus nehmen. Die Tablets in den Klassenzimmern sind schön und gut, sie müssen aber auch pädagogisch und didaktisch sinnvoll in den Unterricht eingebunden werden. 

 

Also plädieren Sie auf jeden Fall für eine Grundgesetzänderung?

 

Wir führen ergebnisoffene Gespräche. Wenn wir gemeinsam mit den Ländern zu dem Ergebnis kommen, dass sich eine künftige Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen ohne Grundgesetzänderung sinnvoll realisieren lässt, etwa im Rahmen der bereits möglichen Gemeinschaftsaufgaben – gern. Entscheidend ist für uns das Ergebnis: dass die staatlichen Ebenen enger miteinander kooperieren und dass ihre künftige Aufgabenverteilung in der Bildungspolitik stärker als bislang vom Ziel her gedacht wird. Genau hier haben wir übrigens bereits einen großen Durchbruch erzielt, der in der Öffentlichkeit noch gar nicht so wahrgenommen wird. Hinter den Kulissen ist es gelungen, Bund, Länder und Kommunen erstmals an einen Tisch zu bringen, um genau diese Fragen zu besprechen. Weil uns alle das Ziel eint, den Digitalpakt zu beschleunigen.  

 

Vergleichsweise einfach dürften im Vergleich dazu die Verhandlungen zum Ganztags-Ausbau sein. Weil die Mittel da schon vor der Bundestagswahl bereitstanden.

 

Hier teilen wir uns mit dem Bundesfamilienministerium die Verantwortung. Im Vermittlungsausschuss vergangenes Jahr haben sich Bund und Länder über den Rahmen verständigt, allerdings gibt es bei der Umsetzung teilweise noch unterschiedliche Vorstellungen auch zwischen den Ländern. Als BMBF ist uns vor allem wichtig, dass wir die Verhandlungen bald zu einem erfolgreichen Abschluss führen, damit der Ausbau beginnen kann. Die konkrete pädagogische Ausgestaltung ist natürlich Sache der Länder und Schulträger. 

 

"Wir haben nicht nur die Rückendeckung der Bundesregierung, sondern auch des Bildungs- und des Haushaltsausschusses im Deutschen Bundestag." 

 

Also von der Reihenfolge her kommt erst ans Thema Ganztag der Haken, dann sind die "Startchancen" dran und erst danach der Digitalpakt 2.0? 

 

Ich gehe davon aus, dass der Ganztag schnell gehen wird. Beim "Startchancen-Programm" hängt alles davon ab, wie schnell wir nach dem ersten Eckpunkte-Papier Ende September die offenen Fragen mit den Ländern klären können. Beim Digitalpakt lag die Priorität auf der Beschleunigung des Programms, das noch bis Ende 2024 läuft. Weil aber geplant ist, dass der Digitalpakt 2.0 nahtlos daran anschließt, setzt uns das einen Zeitraum, in denen wir auch diesen ausverhandeln wollen.  

 

Drei Milliarden Euro pro Jahr fürs "Startchancen-Programm", dazu jährlich zwei Milliarden für den Digitalpakt 2.0 ab 2025: Schwirrt Ihnen eigentlich der Kopf, wenn Sie heute an die in den Koalitionsverhandlungen diskutierten Summen denken? Weil Sie jetzt erklären müssen, wenn solche Summen auch nicht annährend erreicht werden?

 

Die politische Herausforderung ist immer und erst recht in Krisenzeiten, das politisch Wünschenswerte mit dem haushälterisch Machbaren zu verbinden. Wir haben für das "Startchancen-Programm" nicht nur die Rückendeckung der Bundesregierung, sondern auch des Bildungs- und des Haushaltsausschusses im Deutschen Bundestag. Kurzum: Wir wären nicht in so konkrete Verhandlungen eingetreten, wenn wir nicht sicher wären, dass wir finanziell die entsprechende Hinterlegung schaffen können.



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Kommentare: 2
  • #1

    LSB (Montag, 25 Juli 2022 12:07)

    "Haushalterisch" machbar, das ist natürlich immer das letztgültige Axiom in der politischen Argumentation. Selbstverständlich sind hohe und höhere Ausgaben für Bildung und Forschung "haushalterisch" machbar. Es geht einzig und allein um den politischen Gestaltungswillen, um das Streichen von unnötigen Ausgaben anderswo, die Abschaffung der unsinnigen Schuldenbremse oder um die Einführung eines Sondervermögens Bildung und Forschung. Politik ist das Setzen von Prioritäten. Durch willkürlich gesetzte Grenzen versucht die deutsche Politik diese Kernaufgabe an externe Mechanismen zu delegieren und wird damit ihren verfassungsmäßigen Pflichten nicht gerecht. Im Ergebnis ist das ein Abstieg unseres Landes im Vergleich zu Nationen, die, koste es was es wolle, bestimmte Ziele ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen und realisieren. Im Wettbewerb der Systeme sieht es schlecht aus, wenn sich nicht rasch etwas ändert.

  • #2

    Frank Müller (Montag, 25 Juli 2022)

    Warum wird der unsinnige, weder im Haushalt hinterlegte noch an Evaluationen gekoppelte Pakt für Forschung und Innovation nicht gekündigt? Derzeit ist das ein Selbstbedienungsladen für die Außeruniversitären.