Bundesfamilienministerin Paus hat das Aus für die "Sprach-Kitas" beschlossen. Nach den ersten Empörungsstürmen ist es Zeit für eine nüchterne Analyse: Drei Punkte, warum die Entscheidung bei allem Spardruck so widersinnig ist.
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ALS LISA PAUS im April neue Chefin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wurde, lautete eines ihrer ersten Presse-Statements: "Das "S" für Senioren im Kürzel ihres Ministeriums werde oft zu leise ausgesprochen. "Das will ich ändern."
Ob die Bestandsaufnahme der Grünen-Politikerin für die Arbeit ihres Ministeriums in der Vergangenheit stimmt, sei dahingestellt. Für die Bundesregierung als Ganzes stellt sich die Sache so dar: Die Ampel-Koalition hat die für den 1. Juli geplante Rekord-Rentenerhöhung um 5,4 Prozent (West) bzw. 6,1 Prozent (Ost) trotz Ukraine-Zeitenwende beschlossen. Dazu den Haushaltsentwurf für 2023, demzufolge der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung um 4,7 Milliarden auf dann 112,4 Milliarden Euro steigen soll.
Zum Vergleich ein paar Posten aus der Zuständigkeit von Paus' Ministeriums: Zwar soll es beim Elterngeld 2023 um 550 Millionen Euro raufgehen (ein Achtel des zusätzlichen Rentenzuschusses). Doch werden zum Beispiel die Zuschüsse für freie Jugendträger um 72 Millionen gekürzt. Und das "Programm Sprach-Kitas", über das seit 2016 1,1 Milliarden Euro in die sprachliche Frühbildung flossen, wird nächstes Jahr komplett gestrichen. Obwohl die Ampel im November 2021in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hatte, man wolle das Programm "weiterentwickeln und verstetigen". Noch im April 2022 hatte sich die Bundesregierung nach Mahnungen des Bundesrates damit gebrüstet, dass im Rahmen des Maßnahmenpakets "Aufholen nach Corona" die Mittel für die "Sprach-Kitas" 2021 und 2022 um 100 Millionen Euro erhöht wurden und damit 2022 insgesamt 248 Millionen Euro eingeplant seien.
Und jetzt: von 248 Millionen auf null. Vielleicht ist das Problem im BMFSFJ ja eher, dass das "J" im Kürzel gerade deutlich leiser ausgesprochen wird?
Die Proteste gegen das Aus für die "Sprach-Kitas" waren dafür in den vergangenen Tagen umso vernehmbarer: vom Deutschem Kitaverband über die Bildungsgewerkschaften bis zur Caritas. Auch die Bundesländer erregten sich über die BMFSFJ-Kürzungen – und setzen doch selbst den Rotstift an. Brandenburg etwa hat wegen der Corona-Folgekosten die Abschaffung der Kitagebühren verschoben. Und Berlin, deren Schulsenatorin das Aus für die "Sprach-Kitas" als "enttäuschend" und "nicht nachvollziehbar" kritisierte, will geplante Schulbausanierungen laut Tagesspiegel um bis zu fünf Jahre verschieben.
Die meisten Ampel-Politiker haben das Erzählen der
Ampel-Aufbruchsgeschichte längst aufgegeben
Das Irritierende an dem Wegkürzen der "Sprach-Kitas" ist indes: Selbst wer sich der Angelegenheit mit einer maximal unaufgeregten und realpolitischen Perspektive nähert, die den grundsätzlichen Spardruck nicht negiert, muss zum Ergebnis kommen: Die Entscheidung ist politisch unklug und strategisch seltsam dazu, und das in gleich mehrfacher Hinsicht.
Das geringste Problem ist dabei erstens noch, dass Paus ein Ampel-Versprechen bricht. Die Vielzahl der im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP angekündigten, aber finanziell nicht hinterlegten Großtaten war schon zum Zeitpunkt seiner Erstellung so atemberaubend, dass die Partner vorausschauend darauf verzichtetet hatten, eine Liste mit konkreten Investitionssummen beizulegen, wie es die Große Koalition 2017 noch gemacht hatte. Dass hier vieles nicht eingehalten würde, war insofern lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine klar. Umso mehr war seit Anfang März absehbar, dass die 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr und eine unbekannte Summe für die weitere Krisenbewältigung irgendwo herkommen müssen.
Was jedoch beim Aus für die "Sprach-Kitas" genauso wie bei weiteren vorgenommenen Kürzungen etwa des Auswärtigen Amts oder im Bundesforschungsministerium auffällt: Die verantwortlichen Politiker kommunizieren sie nicht. Die Streich-Nachrichten kommen entweder durch Zufall heraus, werden von den Betroffenen offengelegt – oder von den Ministerien wie nebenbei verkündet. Dabei bleibt immer der Eindruck, es werde nur das eingeräumt, was ohnehin schon bekannt ist. Eine Erklärung unabweisbarer Notwendigkeiten, ein Narrativ des Großen und Ganzen? Fehlanzeige. Die Ampel war gestartet, ihre Geschichte als Fortschritts- und Chancenkoalition zu erzählen. Nach nur einem halben Jahr scheint es so, als hätten die meisten ihrer Politiker, darunter Lisa Paus, das Erzählen bereits ganz aufgegeben.
Forscher melden signifikant schlechtere Sprachkompetenzen bei Grundschülern, zeitgleich streicht das Familienministerium das größte Kita-Sprachprogramm
Das Zweite, was die speziell den Abschied von den "Sprach-Kitas" politisch so unklug macht: Gerade jetzt werden die Strukturen, die durch das Programm seit 2016 aufgebaut wurden, dringend gebraucht. Die Lese- und Schreibkompetenzen der Viertklässler, hat gerade erst der IQB-Bildungstrend ergeben, waren 2021 signifikant schlechter als 2016. Was unter anderem die Ständige wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz dazu veranlasst, für ihr kommendes Gutachten zu Perspektiven für die Grundschule ein Kapitel zur frühen Bildung zu planen.
"Wir haben aktuelle Ergebnisse, dass Kitakinder unter den Auswirkungen der Pandemie besonders gelitten haben", sagt Yvonne Anders, SWK-Mitglied und Professorin für frühkindliche Bildung und Erziehung an der Universität Bamberg. Es gebe Belege, dass sogenannte "pandemiebedingte Stressoren", darunter der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen während der Kita-Schließungen, zu Rückständen bei Sprachstand und Sprachentwicklung geführt hätten (siehe hier auf Seite 67). Hinzu kämen die vielen tausend Kleinkinder, die gerade vor allem aus der Ukraine nach Deutschland kämen, meist komplett ohne Sprachkenntnisse. "Es ist schwierig nachvollziehbar, dass man vor diesem Hintergrund ein bewährtes Programm für die sprachliche Bildung kappt."
Das Besondere an den "Sprach-Kitas", sagt Anders, sei schon die schiere Größe der Initiative: 13 Prozent aller Kitas in Deutschland sind eingebunden – diejenigen Einrichtungen, wo der Anteil von Kindern mit sprachlichem Förderbedarf besonders hoch ist. Sie bekommen jeweils eine zusätzliche Stelle finanziert – die explizit nicht für den regulären Betreuungseinsatz vorgesehen ist. Stattdessen beraten und begleiten die "Sprach-Kitas"-Fachkräfte mit ihrer besonderen Expertise das übrige Erzieher*innen-Team, unterstützen es bei der Entwicklung neuer alltagsintegrierter Sprachlernangebote und pflegen die Verbindungen der Kitas in die Kinder- und Jugendhilfe vor Ort. Hinzu kommen externe Fachberatungen, die innerhalb eines Verbundes von zehn bis 15 Kitas die Erzieher*innen fortbilden und ebenfalls bei der Qualitätsentwicklung unterstützen.
Und dass das Programmkonzept funktioniert hat, ist nicht nur eine Behauptung. Denn das ist das Dritte, was die Kürzung so seltsam macht: Immer noch gibt es viele Bundesprogramme, die ohne jegliche Form der wissenschaftlichen Evaluation Millionen und Milliarden austeilen. Obwohl auch die Bildungsforschung zunehmend ungeduldig Anderes fordert.
Die meisten Ausgabenprogramme werden nicht evaluiert.
Die Sprachkitas schon, und zwar mit nachgewiesenem Erfolg
Doch ausgerechnet bei den "Sprach-Kitas" ist das anders. Das Programm wurde von Anfang an evaluiert, und auf der Grundlage der Evaluationsergebnisse wurden seine Maßnahmen nachgesteuert. "Dadurch ist es heute noch treffsicherer als am Anfang", sagt Yvonne Anders, die seit 2016 für die Evaluation zuständig war. Natürlich gelinge die Umsetzung nicht in jeder Einrichtung, aber insgesamt sei die sprachliche Bildung in den Kitas messbar besser als vor 2016. "Allerdings sind das keine Quantensprünge, wie viele es gern hätten", sagt Anders. "Nach dem Motto: Man schüttet viele Millionen rein, und schon wächst der Wortschatz der Kinder." Wer nachhaltige Verbesserungen erreichen wolle, brauche Zeit und müsse Strukturen aufbauen. "Und das ist durch die Sprach-Kitas gelungen."
Zerbrechen diese Strukturen jetzt? Gut möglich und sogar wahrscheinlich. Denn mit seiner plötzlichen Kürzungsentscheidung erwischt der Bund die Länder tatsächlich auf dem falschen Fuß, hatte er sie doch durch den Koalitionsvertrag in dem Glauben belassen, die Anschlussfinanzierung der "Sprach-Kitas" sei für 2023 und die Folgejahre gesichert.
Und was viele noch nicht mitbekommen haben: Parallel zu den "Sprach-Kitas" laufen nächstes Jahr (geplant, nicht plötzlich gekürzt) weitere Kita-Bundesprogramme aus: die "Fachkräfteoffensive Erzieherinnen und Erzieher" (75 Millionen jährlich seit 2019) und "Kita-Einstieg: Brücken bauen in frühe Bildung" (zuletzt 22 Millionen pro Jahr) , das mehr Eltern aus benachteiligten Familien von den Vorteilen eines Kita-Besuchs überzeugen und den Kindern den Start erleichtern will.
Werden die Landesregierungen den
absehbaren Versuchungen erliegen?
Gleichzeitig wird die Versuchung in vielen Landesregierungen groß sein, angesichts des eklatanten Erzieher*innenmangels die bisherigen "Sprach-Kitas"-Fachkräfte natürlich weiterzubeschäftigten – aber als reguläres Personal, für den regulären Betreuungseinsatz. Dann könnten sie sich nicht mehr um die Qualitätsentwicklung kümmern. Was ein enormer Rückschlag wäre für das auch von Ampel-Politikern gern hochgehaltene Ziel, die Kitas von Betreuungs- zu Bildungseinrichtungen umzubauen.
Wie gesagt, auch ohne Empörung über die angebliche oder tatsächliche Schlechterstellung kindlicher Interessen durch die Bundesregierung gilt: Selbst nüchtern betrachtet ist die Entscheidung, die "Sprach-Kitas" einzustellen, strategisch und politisch unklug bis seltsam, ja verfehlt. Und fällt damit als solche trotz allen Kürzungsdrucks voll auf Paus zurück.
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Edith Riedel (Donnerstag, 21 Juli 2022 07:43)
Das "S" im BMFSFJ ist wahlberechtigt, das "J", unter das auch Kinder fallen, ist es nicht. Das ist meiner Ansicht nach das Einzige, was man zu diesem Vorgang sagen kann. Wie so oft fällt die gute Sache dem Machtkalkül zum Opfer. Es ist recht durchsichtig, dass die Grünen sich die älteren Wähler*innengruppen besser erschließen wollen. Vielleicht ein bißchen plump und in dieser Sache etwas unklug, da die Sprach-Kitas ein sichtbares Programm sind. Aber seinen Zweck wird es schon erfüllen.
Dirk Jordan (Donnerstag, 21 Juli 2022 10:48)
Lieber Herr Wiarda,
Sie schreiben in Ihrem Artikel und begründen u.a. damit auch Ihre Kritik an der Streichung der Bundesmittel:
"Doch ausgerechnet bei den "Sprach-Kitas" ist das anders. Das Programm wurde von Anfang an evaluiert, und auf der Grundlage der Evaluationsergebnisse wurden seine Maßnahmen nachgesteuert.
"Dadurch ist es heute noch treffsicherer als am Anfang", sagt Yvonne Anders, die seit 2016 für die Evaluation zuständig war. Natürlich gelinge die Umsetzung nicht in jeder Einrichtung,
aber insgesamt sei die sprachliche Bildung in den Kitas messbar besser als vor 2016. "Allerdings sind das keine Quantensprünge, wie viele es gern hätten", sagt Anders.
"Nach dem Motto: Man schüttet viele Millionen rein, und schon wächst der Wortschatz der Kinder." Wer nachhaltige Verbesserungen erreichen wolle,
brauche Zeit und müsse Strukturen aufbauen. "Und das ist durch die Sprach-Kitas gelungen." "
Die Formulierung: "die sprachliche Bildung in den Kitas messbar besser als vor 2016" hat mich aufhorchen lassen.
Wer hat „gemessen“? Gab es Eingangs-, Verlaufs- und Endtests o.ä.? Bekannt sind mir die Evaluationsberichte:
https://sprach-kitas.fruehe-chancen.de/programm/programmbegleitende-evaluation/
Da finde ich solche „Messungen“ nicht. Habe ich sie übersehen oder kennen Sie welche?
Und was heißt: "die sprachlicher Bildung ist besser geworden" ? Sollte es nicht vor allem um die sprachlichen Kompetenzen der Kinder gehen? Sind die besser geworden?
Soweit ich die Ergebnisse der Einschulungsunter - suchungen in Berlin kenne, ist das nicht der Fall. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wären sicher auch gut geeignet für weitergehende Untersuchungen.
Mit freundlichen Grüßen
Dirk Jordan, Berlin